Rassismus und Strafvollzug
Menschen mit Migrationsgeschichte und Ausländer:innen sind in deutschen Gefängnissen überrepräsentiert. Sehr häufig sind es Menschen mit türkischer Migrationsgeschichte. Ein Grund könnte ein rein numerischer sein: Menschen mit türkischen Wurzeln bilden die größte Gruppe von Menschen mit Migrationsgeschichte in Deutschland. Ein anderer Grund könnte darin liegen, dass sie häufig aufgrund ihrer Religion als kulturell fremd angesehen werden. In einer Studie haben die Rechtswissenschaftler:innen Osman Isfen, Abdülhalim Arslanbaş und Sibel Kılıçarslan-Isfen festgestellt: "Etwa ein Viertel aller Häftlinge mit Migrationshintergrund in Nordrhein-Westfalen hat türkische Wurzeln."1
Tina Spies, Professorin für Soziologie, Gender und Diversity an der Universität Kiel, kritisiert, dass vermeintliche Erklärungsansätze für diese Überrepräsentation, wie die Idee des "kriminellen Ausländers", angenommene "problematische Familienstrukturen" oder die "Befürwortung von aggressiven Männlichkeitsnormen" häufig "mit dem Islam in Verbindung gebracht werden". Auch Medien übernähmen diese Annahme oft kritiklos. Wissenschaftliche Erkenntnisse lägen dieser aber nicht zugrunde.2 Es stellt sich also die Frage, ob in der Gesellschaft vorhandener Rassismus Einfluss auf die Überrepräsentation von Menschen mit Migrationsgeschichte und Ausländer:innen im Strafvollzug hat. Rassismus hat auch andere erhebliche Auswirkungen: psychischen Stress, Rückzug, Angst oder Resignation. Alle Faktoren haben Auswirkungen auf die Lebensqualität der Betroffenen.3
Wo liegen Ursachen für Rassismus?
Das Europa des 18. Jahrhunderts wird heute als Geburtsort des modernen Rassismus angesehen. Rassismus in Deutschland ist auch durch die Geschichte der Arbeitsmigration geprägt.4 Bereits in den 1950er- und 1960er-Jahren gab es in deutschen Medien und der Gesellschaft Berichte über die sogenannten "kriminellen Ausländer:innen". Menschen mit Migrationsgeschichte wurden als billige Arbeitskräfte angesehen, und Rassismus diente als Rechtfertigung für ihre Ungleichbehandlung. Begrifflich wurde "Einwanderung" anstelle von "Rasse" eingeführt.5 Hier findet sich der durch den französischen Philosophen Étienne Balibar geprägte Begriff des "kulturellen Rassismus" wieder, welcher als die Verlagerung weg von biologisch begründeten Zuschreibungen zu kulturellen Defiziten definiert wird. Als vermeintliche "kulturelle Defizite" werden Sprache, Religion, kulturelle Praktiken, Familiengewohnheiten oder Wertsysteme verstanden.6
Antimuslimischer Rassismus in Verbindung mit kulturellem Rassismus dient als gutes Beispiel für eine Diskussion, in der "die andere Kultur" nicht nur als statisch, sondern auch als minderwertig angesehen wird. Die Unterschiede werden als unüberwindbar und verschiedene Lebensstile und Traditionen als unvereinbar angesehen. Dabei wird die westliche Kultur als fortschrittlich dargestellt und die sogenannte aus dem "Orient" stammende Kultur als vermeintlich barbarisch, rückständig und unaufgeklärt.7
Auch werden Islam und islamischer Fundamentalismus häufig gleichgesetzt, und dies ist oft gekoppelt an ein fehlendes Verständnis davon, dass es viele Möglichkeiten gibt, als Muslim:in zu leben. Dahinter stecken Ängste, wie zum Beispiel, dass "Muslim:innen angeblich die europäischen Nationen übernehmen würden", dass Menschen mit Migrationsgeschichte nur nach Deutschland kämen, um Arbeitsplätze wegzunehmen oder um das Sozialsystem auszunutzen. Laut Cengiz Barskanmaz, Professor an der Hochschule Fulda, stehen "Türkeistämmige" in Deutschland repräsentativ für die "problematischen Ausländer:innen".
Paula Schrode, Professorin für Religionswissenschaft an der Universität Bayreuth, weist darauf hin, dass Gewalttäter im Allgemeinen als soziales Phänomen akzeptiert würden, im Zusammenhang mit Migration oder dem Islam aber oft der Einfluss eines möglichen gewalttätigen Erziehungsstils oder einer falschen Vorstellung von Männlichkeit diskutiert würde. Erklärungen würden in religiösen Überzeugungen oder einer anderen kulturellen Erziehung gesucht.8 Die Zugehörigkeit zum Islam werde als Erklärung dafür herangezogen, warum Angehörige muslimischen Glaubens angeblich "aggressiv, ungebildet, kriminell, undemokratisch, frauenfeindlich, homo- und transdiskriminierend sowie antisemitisch" seien. Der "Westen" erscheint als das positive Gegenstück.9
Migrationsgeschichte hat viel mit der Wirtschaft zu tun
Aktuelle kriminologische Diskussionen argumentieren, dass die Situation von Menschen mit Migrationsgeschichten eng mit der Wirtschaft verknüpft ist. Der Jurist Allessandro De Giorgi beschreibt, wie "ganze Wirtschaftszweige, von der Hausarbeit bis zum Baugewerbe, von Jobs im Niedriglohnsektor bis hin zur Landwirtschaft, heute auf eingewanderten, unsichtbaren, unsicheren und entbehrlichen Arbeitskräften" basieren.10 Er sieht eine totale "Arbeitsflexibilität" und die Entstehung von "Erwerbsarmen", da vor allem ungelernte Arbeitskräfte austauschbar seien.11 Bei einem wirtschaftlichen Abschwung verschlechtere sich nicht nur deren Lage, sondern auch Rassismus und Aggressionen ihnen gegenüber nähmen zu, ebenso die Diskussion über "kriminelle Ausländer:innen". So zeigen die aktuellen Überlegungen, dass die Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft in hohem Maß von ihrer Beschäftigung abhängt. Dario Melossi, Professor für Kriminologie in Bologna, sagt, dass es eine sehr große Erwartungshaltung gegenüber Ausländer:innen und Menschen mit Migrationsgeschichte gebe, deviantes Verhalten als das Nichtanpassen an ein neues Leben, an eine neue Kultur oder Gesellschaft angesehen und auch als eine "Prädisposition" für schlechtes Verhalten angenommen werde.12
Die Frage ist nun, wie können die theoretischen Überlegungen zu Rassismus in Deutschland und auch die kriminologischen Theorien auf Deutschland angewandt werden? Die Bundeszentrale für politische Bildung hat die Problematik zur sozialen und wirtschaftlichen Lage von Menschen mit Migrationsgeschichte in Deutschland auf den Punkt gebracht, indem sie feststellte: "Insgesamt sind Personen mit Migrationshintergrund häufiger arbeitslos, häufiger nur geringfügig beschäftigt, häufiger als Arbeiter tätig und häufiger auf staatliche Unterstützung angewiesen als Personen ohne Migrationshintergrund."13 Dies deckt sich auch mit Studien aus dem Strafvollzug zur sozioökonomischen Lage von Gefangenen.14 Die Frage ist, warum ist das wichtig? Beschäftigungsmuster, Wohngegenden und schulische Ausgrenzung können Einfluss auf die Nutzung des öffentlichen Raums haben und damit auf den Kontakt mit der Polizei und Sozialämtern, was Potenzial zur Verstärkung durch vermehrte Kontrolle gibt.15 Laut Studien haben Menschen mit Migrationsgeschichte ein höheres Risiko, in das Strafrechtssystem zu geraten, und wenn sie einmal im System sind, werden sie härter und länger bestraft als ihre deutschen Altersgenossen. Weiterhin scheinen Menschen mit Migrationsgeschichte in Bezug auf den offenen Vollzug benachteiligt zu sein, auch, was den Zugang zu sozialen Ausbildungskursen, berufliche oder schulische Qualifizierungsmaßnahmen oder Therapiemaßnahmen angeht.16
Es wird nicht nur eine "einzige" passende Erklärung geben, warum Menschen mit Migrationsgeschichte und Ausländer:innen im Strafvollzug überrepräsentiert sind. Die Problematik muss als Zusammenspiel von institutionellen, politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Faktoren betrachtet werden. Ein wichtiger Faktor dabei ist, dass Straffreiheit kein Maßstab für "gelungene Integration" ist.17
Anmerkungen
1. Isfen, O.; Arslanbaş, A.; Kılıçarslan-Isfen, S.: Häftlinge mit türkischen Wurzeln in deutschen Justizvollzugsanstalten. In: Neue Kriminalpolitik, 16, 4/2015; https://t.ly/Ld6K, S. 331-338, S. 332.
2. Spies, T.: Migration und Männlichkeit. Biographien junger Straffälliger im Diskurs. Bielefeld: Transcript Verlag (1. Aufl.), 2010; https://t.ly/Jq6x4, S. 43 .
3. Huke, N.: Rassismus als Arbeitsmarkthindernis für Geflüchtete. Institut für Politikwissenschaft, 2020, S. 15.
4. Barskanmaz, C.: Recht und Rassismus: Das menschenrechtliche Verbot der Diskriminierung aufgrund der Rasse. Springer, 2019, S. 47-48; https://doi.org/10.1007/978-3-662-59746-0
5. Barskanmaz, C: a.a. O., 2019, S. 47-48; Liebscher, D.: Rasse im Recht - Recht gegen Rassismus: Genealogie einer ambivalenten rechtlichen Kategorie. Suhrkamp (1. Aufl., Originalausgabe), 2021, S. 63-64, S. 67-68.
6. Balibar, É.; Wallerstein, I. M.: Race, nation, class: Ambiguous identities. London/New York, 1991, S. 25; Karabulut, A: Rassismuserfahrungen von Schüler*innen: Institutionelle Grenzziehungen an Schulen. Bielefeld: Springer VS, 2020, S. 36, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31181-0
7. Boulila, S.; Motsi-Khatai, W.: Factsheet: Race in Germany and Europe. Center for Intersectional Justice, 2021,
https://t.ly/4bs2, S. 25; Barskanmaz, C.: a. a. O., 2019, S. 85; Liebscher, D.: a. a. O., 2021, S. 72-73.
8. Schrode, P.: Islam und Rassismus in Deutschland. In: Drews-Sylla, G.; Makarska, R. (Hrsg.): Neue alte Rassismen? Differenz und Exklusion in Europa nach 1989 (S. 45-68). Bielefeld: Transcript Verlag, 2015.
9. Barskanmaz, C.: a.a. O. 2019, S. 96-97, S. 138.
10. Gorz, A.: Reclaiming work, Cambridge: Polity. 1999. In: De Giorgi, A.: Rethinking the political economy of punishment. Criminal Justice Matters, 70, 2007, S. 18.
11. De Giorgi, A.: Rethinking the political economy of punishment. Perspectives on post-Fordism and penal politics. Ashgate, 2006, S. 51-52.
12. Melossi, D.: Crime, punishment and migration. Los Angeles: Sage, 2015, S. 7, 17, 79.
13. Bundeszentrale für politische Bildung: Bevölkerung mit und ohne Migrationshintergrund. Nach ausgewählten Merkmalen, Anteile an den Personengruppen in Prozent und Personen in absoluten Zahlen 2020. Bonn, 2022; https://t.ly/Cm4H, Paragraf 1.
14. Wirth, W.: Gewalt unter Gefangenen. Kernbefunde einer empirischen Studie im Strafvollzug des Landes Nordrhein-Westfalen. Kriminologischer Dienst des Landes Nordrhein-Westfalen: 2006; https://t.ly/Bpkv
15. Haug, S.: Jugendliche Migranten - muslimische Jugendliche. Gewalttätigkeit und geschlechterspezifische Einstellungsmuster. Kurzexpertise für das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: 2010; https://t.ly/pdXk; Rau, M.: Lebenslinien und Netzwerke junger Migranten nach Jugendstrafe: Ein Beitrag zur Desistance-Forschung in Deutschland. Berlin/Münster: Lit-Verlag, 2017.
16. Dünkel, F.: Migration and ethnic minorities: Impacts on the phenomenon of youth crime. The situation in Germany. In: Queloz, N. et al. (Hrsg.): Youth Crime and Juvenile Justice. The challenge of migration and ethnic diversity. Stämpfli Verlag, 2015, S. 45-71; Geissler, M.: Der "kriminelle Ausländer". Vorurteil oder Realität? Zum Stereotyp des "kriminellen Ausländers". Zeitschrift des Informations- und Dokumentationszentrums für Antirassismusarbeit in Nordrhein-Westfalen, 14(1), 38, Düsseldorf, 2008, S. 6; Walter, J.: Minoritäten im Strafvollzug. Aus Politik und Zeitgeschichte [APuZ], 7/2010, S. 40-46.
17. Spies, T.: a. a. O. 2010.
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