SGB-VIII-Reform stärkt Kinder und Jugendliche mit Behinderung
Die Reform für ein inklusives SGB VIII soll in dieser Legislaturperiode unter der Federführung des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ)1 umgesetzt werden. Sie betrifft rund 300.000 Kinder und Jugendliche mit körperlicher/geistiger Behinderung. Der vorliegende Beitrag konzentriert sich bei der Bewertung des Reformvorhabens auf die Perspektive der Eingliederungshilfe und bezieht sich ausschließlich auf die bisher im Beteiligungsprozess2 "Gemeinsam zum Ziel" besprochenen Themen.
Menschenrechtliche Maßstäbe für die Teilhabe
Bei der Neuregelung der Leistungen zur Teilhabe im SGB VIII muss den menschenrechtlichen Anforderungen Rechnung getragen werden. Art. 7, 25 und 26 Behindertenrechtskonvention3 (UN-BRK), die Kinderrechtskonvention (UN-KRK) sowie das Grundgesetz in Verbindung mit § 2 SGB IX garantieren allen Kindern und Jugendlichen mit geistiger oder körperlicher Behinderung die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe. Daneben muss die Rehabilitation für Kinder und Jugendliche mit Behinderung in derselben Qualität und auf demselben Standard wie der für alle anderen Kinder erfolgen. Diesen menschenrechtlichen Anforderungen muss die inklusive Kinder- und Jugendhilfe gerecht werden, insbesondere bei der neuen Regelung der Leistungen zur Teilhabe im SGB VIII. Daher muss die Transformation aller Leistungen und aller Rechtsansprüche aus dem SGB IX ins SGB VIII lückenlos und ohne Nachteile für Kinder und Jugendliche mit Behinderung erfolgen.
Zuständigkeitswechsel - Systemwechsel
Ab dem 1. Januar 2028 werden die Jugendämter (und nicht mehr die Träger der Eingliederungshilfe) für Leistungen der bisherigen Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit Behinderung zuständig sein. Voraussetzung ist ein entsprechendes Bundesgesetz, das bis zum 1. Januar 2027 verkündet wird.4 Es handelt sich hierbei um eine politische Absichtserklärung in Gesetzesform, ein sogenanntes "Bundesgesetz auf Grundlage einer prospektiven Gesetzesevaluation".5
Wird ein solches Gesetz verkündet, sollen neben dem Zuständigkeitswechsel alle Teilhabeleistungen für Kinder und Jugendliche mit Behinderung aus dem SGB IX gesetzlich im SGB VIII verankert werden.
Familien mit Kindern und Jugendlichen mit Behinderung aus dem SGB IX würde dann ein neues Verfahren beim Jugendamt bevorstehen. Dabei hat die jugendhilferechtliche Hilfeplanung die gesamte Familie und nicht mehr - wie in der Eingliederungshilfe - nur den individuellen Bedarf des Kindes mit Behinderung im Blick. Die Umsetzung des geplanten Gesetzes obliegt den Ländern, in denen momentan unterschiedliche länderspezifische Strukturen bestehen. Während einige Träger der Eingliederungshilfe überörtlich organisiert sind (Bayern, NRW), sind die Jugendämter kommunal organisiert. Der Zuständigkeitswechsel führt daher zu einer gewaltigen Verwaltungsstrukturreform.
Mehrkostenvorbehalt als Barriere für die Reform
Im Hinblick auf die Reform wurde bereits ein Mehrkostenvorbehalt in § 107 Abs. 2 SGB VIII (§ 108 Abs. 2 SGB VIII) gesetzlich geregelt. Danach soll jegliche Ausweitung des leistungsberechtigten Personenkreises und des Umfangs der Leistungen vermieden werden. Der Mehrkostenvorbehalt stellt die Umsetzung einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe insgesamt infrage. Es ist zu befürchten, dass durch die vorgegebene "Kostenneutralität" de facto eine Schlechterstellung der Kinder und Jugendlichen mit Behinderung stattfindet. Bei knapper Haushaltslage besteht die Gefahr, dass vorrangig Leistungen zum Kinderschutz beziehungsweise bei Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung gewährt werden und die Teilhabeleistungen auf der Strecke bleiben.
Die Umsetzung der Reform geht mit einem erheblichen personellen Aufwand bei allen Jugendämtern einher. Zudem werden bei der Bewilligung der Leistungen für Familien mit Kindern mit Behinderung auch inklusive (also auch weitere) Leistungen beansprucht werden können. Die Reform wird daher nicht kostenneutral erfolgen.
Professionelle Fachkräfte sind die Voraussetzung für Teilhabe
Eine inklusive Kinder- und Jugendhilfe benötigt das Zusammenwirken der Fachkräfte der Eingliederungshilfe und der Kinder- und Jugendhilfe. Nur so können individuelle Bedarfe von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung festgestellt und Leistungen zur Teilhabe gewährt werden.
Die Eingliederungs- und die Kinder- und Jugendhilfe beschäftigen unterschiedliche Fachkräfte mit abweichenden Kompetenzen. Fachkräfte der Eingliederungshilfe sind beispielsweise Heilerziehungspfleger:innen sowie Heilpädagog:innen. Sie unterstützen mit ihrer Fachlichkeit (Kenntnisse im Abbau von Barrieren) maßgeblich die Förderung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung. In der Kinder- und Jugendhilfe sind insbesondere Sozialpädagog:innen als Fachkräfte beschäftigt. Eine inklusive Kinder- und Jugendhilfe braucht multiprofessionelle Teams beim öffentlichen Kinder- und Jugendhilfeträger, um künftig inklusive Hilfen aus einer Hand und die entsprechende Fachlichkeit zu gewährleisten. Die erforderliche Personal- und Organisationsentwicklung benötigt erhebliche finanzielle und personelle Ressourcen. Unter Berücksichtigung des aktuellen Fachkräftemangels wird der Aufbau der Kompetenzen bei allen Jugendämtern eine große Herausforderung darstellen.
Anpassung des Vertragsrechts
Das Vertragsrecht des SGB VIII muss modernisiert und weiterentwickelt werden. Dabei sollen die Leistungen weiterhin im sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis erbracht werden. Für Kinder und Jugendliche mit Behinderung und ihre Leistungserbringer aus dem SGB IX dürfen die Errungenschaften aus dem Bundesteilhabegesetz durch den Systemwechsel nicht verloren gehen. Dabei sollten in der konkreten rechtlichen Ausgestaltung vor allem die nachfolgenden Punkte in einem zukünftigen inklusiven Vertragsrecht berücksichtigt werden:
◆ Im SGB VIII muss ein Rechtsanspruch des Leistungserbringers auf Abschluss einer Leistungsvereinbarung geregelt werden. Weiterhin muss es ein durchsetzbares Recht auf Abschluss von Vereinbarung, insbesondere von ambulanten Leistungen, geben.
◆ Es ist ein öffentlich-rechtlicher Zahlungsanspruch der Leistungserbringer zu regeln, der vor dem Sozialgericht geltend gemacht werden kann.
◆ Zur Erhaltung der Leistungsqualität müssen die fachlichen und vertraglichen Standards zum Beispiel zu Fachkräften der Eingliederungshilfe in ein inklusives SGB VIII implementiert werden.
◆ Bestehende Leistungserbringer der Eingliederungshilfe müssen einen gebundenen Rechtsanspruch darauf haben, als Träger der freien Jugendhilfe anerkannt zu werden. Hierzu müssen die Anerkennungsvoraussetzungen angepasst werden. Für einen Übergangszeitraum muss ein Bestandsschutz gewährleistet werden.
◆ Die Fachkräfte der Eingliederungshilfe müssen als Fachkräfte eines inklusiven SGB VIII anerkannt werden. Die im SGB IX verankerte Anerkennung der tariflichen Bindung ist im Vertragsrecht des SGB VIII explizit aufzunehmen.
◆ Mit der geplanten Reform findet ein Wechsel bei den Vertragspartnern statt. Hier müssen Übergangsregelungen die weitere Gültigkeit bestehender Vereinbarungen und Vergütungen sicherstellen.
Herausforderung und Chancen
Kinder und Jugendliche mit Behinderung und ihre Familien werden aufgrund des Zuständigkeitswechsels viel befähigende Unterstützung und inklusive Beratung benötigen. Für die Leistungserbringer geht die geplante Reform mit neuen Herausforderungen hinsichtlich der Zulassung zur Leistungserbringung nach SGB VIII, der Anpassung der bisherigen Teilhabekonzepte und der Aushandlung der künftigen Leistungs- und Vergütungsvereinbarungen einher.
Eine Verbesserung der Teilhabechancen von Kindern und Jugendlichen mit Schwerst- und Mehrfachbehinderungen, die in Einrichtungen leben, wird es nur geben, wenn sie erforderliche befähigende Leistungen sowohl aus ihrem sozialen Umfeld als auch durch geeignete Fachkräfte erhalten. Die "Gewinner" der inklusiven Kinder- und Jugendhilfe werden Familien sein, die konsequent ihre Rechte auf Leistungen zur Teilhabe im Hilfeplanverfahren einfordern und gegebenenfalls gerichtlich verfolgen.
1. Nachfolgend als Bundesfamilienministerium benannt.
2. Beteiligungsverfahren des Bundesfamilienministeriums "Gemeinsam zum Ziel. Wir gestalten die Inklusive Kinder- und Jugendhilfe" unter Beteiligung der Länder, der Kommunen, der Träger der Kinder- und Jugendhilfe, der Träger der Eingliederungshilfe sowie der Verbände der Kinder- und Jugendhilfe, der Eingliederungshilfe und vor allem der Selbstvertretung.
3. Behindertenrechtskonvention unter Kurzlink:
https://t.ly/bbSYG - nachfolgend als BTHG bezeichnet.
4. Regelung des § 10 Abs. 4 SGB VIII in Verbindung mit § 107 SGB VIII.
5. § 10 Abs. 4 S. 3 SGB VIII. In: Möller, W.: Praxiskommentar SGB VIII - Kinder- und Jugendhilfe, § 107 Übergangsregelung, Stand 2023.
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