Die Pflegebedürftigen sagen an
Ein Innovationspreis für die Kolleg:innen im Westerwald?! So wird sich die eine oder der andere vielleicht gewundert haben, als die Laudatorin bei der Verleihung des Preises durch den Verband katholischer Altenhilfe in Deutschland (VKAD) Mitte Juni in Berlin das Modellkonzept "Pflege ganz aktiv" der Caritas Sozialstation Westerburg ehrte. Die Sozialstation des Caritasverbandes Westerwald-Rhein-Lahn konnte mit dem Konzept in der ambulanten Pflege punkten, das gemeinsam mit den Gesundheitspartnern, federführend der AOK Rheinland-Pfalz-Saarland, entwickelt wurde und als Pilotprojekt im Westerwald betrieben wird.
Pflegebedürftige buchen ein Zeitkontingent
Die Kernidee: Pflegebedürftige buchen keine festgelegte Leistung, sondern ein Zeitkontingent. Wenn im Gespräch mit der:dem Pflegebedürftigen der Wunsch deutlich wird, dass die zur Verfügung stehende Zeit für ein Mobilitätstraining, etwa einen Spaziergang im Garten, genutzt werden soll, so hat das Priorität. Die Pflegebedürftigen selbst und ihre Bezugspersonen werden angeleitet, eigene Ressourcen einzusetzen und zu stärken. Es werden Impulse gesetzt, um ein informelles Netzwerk zu initiieren. Pflegebedürftige erleben sich als selbstwirksam und sie bekommen das Angebot, das sie sich wünschen. Pflegekräfte bringen ihr gesamtes Know-how aktivierend ein. Sie gehen situativ auf die individuellen Bedarfe ein, losgelöst von Leistungskomplexen.
Alle Pflegekräfte der Sozialstation Westerburg arbeiten seit Herbst 2022 nach dem Modell. Dabei haben die Pflegebedürftigen selbstverständlich die Wahl, ob sie nach dem "normalen" Versorgungsmodell oder nach dem Modell-Versorgungsvertrag pflegerische Leistungen in Anspruch nehmen möchten. Die Pflegekassen haben den Medizinischen Dienst beauftragt, bei dem Modellprojekt als Zwischenevaluation die Zufriedenheit abzufragen. Das Resultat: Die Pflegebedürftigen zeigten sich insgesamt zufrieden und wünschen, dass das neue Versorgungsmodell weitergeführt wird. 80 Prozent der Befragten können sich eine Rückkehr zur bisherigen Versorgung nicht vorstellen. Auch die Mitarbeitenden möchten in dieser Form weiterarbeiten, da sie mehr Flexibilität in der Versorgung und weniger Zeitdruck empfinden.
Das neue Arbeitsmodell wirkt sich vorteilhaft für Pflegebedürftige aus und sorgt gleichzeitig für mehr Attraktivität des Berufs. "Pflege ganz aktiv" ist ein gutes Beispiel dafür, dass die pflegebedürftigen Menschen von Zeitkontingenten, die sie ganz nach Tagesform und Bedarf gemeinsam mit den Pflegekräften gestalten, nachhaltig profitieren können. Zufriedene Kundinnen und Kunden machen zufriedene Pflegekräfte. Pflegende müssen keinen "Leistungskomplex" erfüllen, sie können aus dem gesamten Repertoire ihrer Fachlichkeit schöpfen und erleben die Wertschätzung ihrer Fähigkeiten.
Vertrauen statt Kontrolle
Das Konzept orientiert sich an dem niederländischen Vorbild "Buurtzorg" und wurde an die deutschen Rechts- und Versicherungsverhältnisse adaptiert. Zunächst wurde eine Stundenvergütung verhandelt und danach diskutiert, welche Tätigkeiten die Pflegekräfte in der zur Verfügung stehenden Zeit erbringen dürfen beziehungsweise sollen. Durch den Wegfall der Leistungskomplexe kommt es nun auf die pflegefachlichen Fähigkeiten an. Es muss geplant werden, mit welchen Maßnahmen die häusliche Situation stabilisiert werden kann. "Buurtzorg" ist der Name einer Organisation, die mit großem Erfolg den niederländischen Pflegemarkt verändert hat. Gründer ist der Niederländer Jos de Blok, selbst Pflegefachkraft, dessen Konzept auf einem weitgehend selbst organisierten System "selbstständiger" Pflegekräfte beruht.1 Es funktioniert ohne Hierarchien, ohne Vorgesetzte, mit Vertrauen in statt Kontrolle von Mitarbeitenden und scheint äußerst erfolgreich im Bereich der ambulanten Pflege zu sein.
Buurtzorg (sprich "Bürt-Sorch", buurt = Nachbarschaft; zorch = Sorge, sich kümmern) ist niederländisch und bedeutet frei übersetzt "Nachbarschaftspflege". Buurtzorg steht für ein transformatives Modell der patientenzentrierten Gesundheitsversorgung, das sich auf die Förderung und Erhaltung von Unabhängigkeit und Autonomie des Patienten konzentriert und dafür die Ressourcen aus dem individuellen Umfeld des Patienten integriert, aus Nachbarschaft und Gemeinde.
Seit der Gründung des ersten selbstverwalteten Teams vor 15 Jahren mit vier Pflegefachkräften in der Kleinstadt Almelo skalierte Buurtzorg Niederlande nach eigenen Angaben auf 950 Teams. Inzwischen arbeiten mehr als 15.000 Pflegefachkräfte in den Niederlanden auf diese Weise. Die Zusammenarbeit basiert auf dem Austausch von Ideen, dem Suchen und Finden innovativer Lösungen und stärkt die Lösungskompetenz. Buurtzorg möchte den Beweis antreten, dass Fachlichkeit, Vertrauen und Vereinfachung der Abläufe effektiver sein können als bürokratische und hierarchische Organisationen.
Günstiger für das Gesundheitssystem
Nach eigenen Angaben wurde in wirtschaftlicher Hinsicht eingespart. Die Organisation beruft sich unter anderem auf die in den beiden Untersuchungen von Ernst & Young2 und der KPMG3 dokumentierten Einsparungen von rund 40 Prozent für das niederländische Gesundheitssystem. Die Kundenzufriedenheitsrate sei die "höchste aller Gesundheitsorganisationen".
Auch in Deutschland schauen politisch Verantwortliche, Kostenträger und Fachleute auf den Erfolg von Buurtzorg und fragen: Ist das auch die Lösung der großen Zukunftsherausforderungen des deutschen Pflegesystems?
Die Grundidee von Buurtzorg basiert auf dem sogenannten "Zwiebelmodell". Dieses zentriert den Patienten und nimmt die Kundenperspektive ein. Der Patient wird als Kunde identifiziert, der selbstständig seine Bedarfe steuert. Ausgehend von diesem zentralen Gedanken arbeitet sich das Buurtzorg-Team nach außen, um Lösungen zu entwickeln, die Unabhängigkeit und eine verbesserte Lebensqualität bringen. Dazu wird die Umgebung des Patienten:der Patient:in in den Blick genommen: Familie, Nachbarschaft, Gemeinde. Für die Fachpflege sorgt das Buurtzorg-Team selbst, das wiederum mit den offiziellen unterstützenden Stellen zusammenarbeitet. Selbstmanagement der pflegebedürftigen Person, Kontinuität in der fachlichen Begleitung, der Aufbau vertrauensvoller Beziehungen und von Netzwerken in der Nachbarschaft sind die Grundprinzipien für die Buurtzorg-Teams.
Die selbstverwalteten Teams kümmern sich um ihre Kund:innen mit dem Ziel, diese stärker und unabhängiger zu machen. Sie bieten eine ganzheitliche Betreuung, die das gesamte Versorgungsspektrum von der medizinischen Behandlung und Pflege bis hin zu unterstützenden Leistungen umfasst und versucht, das eigene soziale Netzwerk des Klienten zu mobilisieren und einzubeziehen. Die Pflegefachkräfte arbeiten eng mit Hausärzten und anderen kommunalen Gesundheitsdienstleistern zusammen.2
Bei Buurtzorg bilden bis zu zwölf Pflegekräfte ein Team und sind eine selbstverwaltete Einheit, die von einem Regionalcoach angeleitet und unterstützt wird. Bei "Pflege ganz aktiv" gibt es ebenfalls mehr Selbstverwaltung in kleineren Teams, die einer Pflegedienstleitung zugeordnet sind. Diese hat viele organisatorische Aufgaben an die Kleinteams delegiert und übernimmt stärker qualitätssichernde Aufgaben. Die Buurtzorg-Pflegekräfte werden durch digitale Infrastruktur unterstützt, die speziell für sie entwickelt wurde. "Small back office" ist das Prinzip der kostengünstigen Verwaltung. Dies ist nur möglich, da nur ein pauschaler Tarif, das heißt eine Stundenvergütung, für einen Besuch verwendet und digitalisiert abgerechnet wird. Administrative Abläufe sind auf ein absolutes Minimum beschränkt.
Viele in der ambulanten Pflege in Deutschland Tätige bedauern die Konsequenzen des Herunterbrechens der Pflege in der häuslichen Versorgung in Leistungskomplexe. Dadurch gerate aus dem Blick, dass Pflege mehr sei als nur das Ausführen vertraglich vereinbarter Einzelleistungen. Dabei spürten Pflegende, dass eine Neubesinnung auf das, was Pflege wirklich ausmacht, dringend erforderlich sei.
1. Kreitzer, M. J.; Monsen, K. A.; Nandram, S. S.; De Blok, J.: Buurtzorg Nederland: A global model of social innovation, change and whole systems healing. In: Global Advances in Health and Medicine, 4, (1) 2015, S. 40-44.
2. Ernst & Young: Maatschaappelijke business case Buurtzorg. Reportby Ernest & Young, 2009.
3. KPMG: The Added Value of Buurtzorg Relative to Other Providers of Home Care: A Quantitative Analysis of Home Care in the Netherlands in 2013. Januar 2015.
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