Verfahrenslotsen – ein wichtiger Schritt zur gleichberechtigten Teilhabe
Am 1. Januar 2024 ist es so weit und in allen Jugendämtern sollen sogenannte Verfahrenslots:innen ihren Dienst aufnehmen. Damit wird die zweite Phase der inklusiven Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe eingeleitet, welche die ab 2028 geplante Gesamtzuständigkeit für alle jungen Menschen unter dem Dach des Jugendamtes vorsieht. Die Einführung dieser neuen Funktion im Jugendamt durch das im Jahr 2021 verabschiedete Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) war von Beginn an Gegenstand kontroverser Diskussionen. Schnell machte der Begriff der "eierlegenden Wollmilchsau" die Runde, wenn es um das umfangreiche Kompetenzprofil der Verfahrenslots:innen ging. Auch die Notwendigkeit dieser Rolle wurde ob der diversen bestehenden Beratungsangebote angefragt - insbesondere der ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung. Hinzu kommt, dass sich die Kinder- und Jugendhilfe in einer Fachkräftekrise befindet, die in den nächsten Jahren noch zunehmen wird, und sich so viele Jugendämter fragen, wie sie das zusätzliche gut qualifizierte Personal gewinnen können.
Zwischen Beratung und Organisationsentwicklung
Denn die Aufgaben der Verfahrenslots:innen sind anspruchsvoll: Nach § 10 b Abs. 1 sollen Verfahrenslots:innen junge Menschen und deren Personensorge- und Erziehungsberechtigten bei der Antragstellung, Verfolgung und Wahrnehmung von Leistungen der Eingliederungshilfe unabhängig unterstützen, begleiten und auf die Inanspruchnahme von Rechten hinwirken. Dazu müssen sie vor allem die Lebenslagen und Bedarfe junger Menschen mit Behinderungen sowie das zugehörige Leistungsrecht kennen, hohes Kommunikationsgeschick haben und bestens mit Kooperationspartner:innen innerhalb und außerhalb des Jugendamtes vernetzt sein.
Mit § 10 b Abs. 2 wird die Tätigkeit der Verfahrenslots:innen in einen größeren Kontext gestellt. Die Verfahrenslots:innen sollen den örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe darin unterstützen, die Systeme der Eingliederungshilfe sowie der Kinder- und Jugendhilfe in den Verantwortungsbereich der Jugendämter zusammenzuführen. Zur Erfüllung dieser Aufgabe werden von den Verfahrenslots:innen weitere Kompetenzen verlangt, so zum Beispiel ein Überblick über zielführendes Berichtswesen, Prozessmanagement und Organisationsentwicklung.
Beraten, unterstützen, hinwirken
Die Einführung der Verfahrenslots:innen folgt dem übergeordneten Ziel, eine inklusive Kinder- und Jugendhilfelandschaft zu gestalten, welche die Personenzentrierung als Ausgangpunkt nimmt. Ziel ist, allen jungen Menschen eine gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen. Dabei ist es wichtig, die "im professionellen Hilfesystem bestehende Tendenz, die Lebenssituation von jungen Menschen mit Beeinträchtigungen in erster Linie unter dem Aspekt der Behinderung und der damit einhergehenden Ansprüche auf Förderung und Unterstützung zu sehen."1 Für eine gelingende Beratung und Begleitung von jungen Menschen sowie deren Zu- und Angehörigen ist es wichtig, die bestehenden Annahmen über die Lebensrealität junger Menschen mit Behinderungen zu hinterfragen und deren Lebenssituation altersadäquat zu beurteilen. Verfahrenslots:innen haben damit die herausfordernde Aufgabe, Beratungssituationen partizipativ und dialogisch zu gestalten, um den Adressat:innen möglichst geeignete Maßnahmen im Zusammenspiel der unterschiedlichen Leistungsbereiche zu vermitteln.2
Neben den sozialpädagogischen und behinderungsspezifischen Kenntnissen müssen Verfahrenslots:innen auch über verfahrensrechtliche und materialrechtliche Kenntnisse der Eingliederungshilfe verfügen. Dabei ist davon auszugehen, dass sich Adressat:innen vor allem dann Rat und Unterstützung suchen, wenn sie selbst nicht weiterkommen. Besonders anspruchsvoll wird es, die Ratsuchenden zwischen den Systemen Kinder- und Jugendhilfe und Eingliederungshilfe zu unterstützen. Daran wird auch die Glaubwürdigkeit des Angebotes zu messen sein, insbesondere an den Stellen, an denen "die Aufgabe der Verfahrenslotsen formal ihre Grenze findet".3
Auch darum wird es Aufgabe der Verfahrenslots:innen sein, sich immer wieder in ihrer Tätigkeit zu hinterfragen, um nicht gesellschaftliche Exklusionsstrukturen zu reproduzieren, sondern Teil des Perspektivwechsels zu werden, hin zu einer ganzheitlichen und inklusiven Kinder- und Jugendhilfe. Darum gilt es auch mit Blick auf die weitere Ausgestaltung der Rolle im Jugendamt, den aktuellen Gesetzgebungsprozess für ein inklusives SGB VIII genau zu begleiten. Insbesondere, wenn die Tätigkeit von Verfahrenslots:innen - wie im aktuellen Koalitionsvertrag vorgesehen - entfristet werden soll, ist die "Begrenzung der Begleitung und Unterstützung auf die Inanspruchnahme von Leistungen der bisherigen Eingliederungshilfe nicht zielführend".4
Veränderungs- und Transformationsprozesse begleiten
Neben den anspruchsvollen Tätigkeiten im direkten Kontakt mit Adressat:innen fällt es den Verfahrenslots:innen zu, den öffentlichen Träger der Jugendhilfe in Veränderungs- und Transformationsprozessen hin zur sogenannten inklusiven Lösung zu unterstützen.5 Diese Aufgabe ist dabei weit weniger ausdefiniert als die nach § 10 Abs. 1 SGB VIII.
Wenngleich ein halbjährlicher Bericht über die Tätigkeit abgegeben werden muss, eröffnen sich durch die weniger eng gefasste Aufgabenbeschreibung Möglichkeiten für den öffentlichen Träger der Jugendhilfe, sich bereits vor der gesetzlichen Normierung auf den Weg zu einem inklusiven Jugendamt zu machen. Wichtig ist es dabei, dass Verfahrenslots:innen in die organisationalen Abläufe eingewebt werden, um die Reflexivität administrativer Strukturen zu unterstützen. Dies verlangt von den Verfahrenslots:innen auch, Themen wie Aufbau- und Ablauforganisation, Entscheidungs- und Kommunikationsstrukturen, Öffentlichkeitsarbeit, Arbeitszufriedenheit und Personalführung in den Blick zu nehmen und weiterzuentwickeln. Entscheidend, um die Aufgabe gelingend wahrzunehmen, wird sein, welche Kompetenzen der Rolle innerhalb des Organigramms zugesprochen werden.
Doppelrolle als Chance
In der konkreten Ausgestaltung der Tätigkeit der Verfahrenslots:innen gilt es festzuhalten, dass die Einrichtung dieser Stelle im Jugendamt nicht optional ist. Dabei ist es notwendig, die unterschiedlichen Anforderungen zu reflektieren und die Rollenklärung innerhalb des Jugendamtes transparent und konkret zu diskutieren. Hierbei ist die Einbindung in die Strukturen des Jugendamtes wesentlich. Die Unabhängigkeit des Verfahrenslotsen oder der Verfahrenslotsin muss zu jeder Zeit formal und auch informell gewährleistet bleiben, um beiden Aufträgen des § 10 b Abs. 1 und Abs. 2 SGB VIII angemessen gerecht zu werden. Insbesondere die Intermediärfunktion der Verfahrenslotsinnen und Verfahrenslotsen zwischen individuellen Bedarfslagen und strukturellen Weiterentwicklungsbedarfen macht diese zu einem wertvollen Element im Sinne des "Voneinanderlernens" im konkreten Tun in der kommunalen Umsetzung der inklusiven Kinder- und Jugendhilfe.
Wenn dies gelingt, bietet die Einführung von Verfahrenslots:innen eine große Chance bei der Entwicklung hin zu einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe.
1. Rohrmann, A.: Junge Menschen mit Behinderungen sowie ihre Mütter, Väter, Personensorge- und Erziehungsberechtigten durch Verfahrenslotsen unterstützen und begleiten. In: JAmt 7-8/2023, S. 306.
2. Ader, S.: Fallverstehen und sozialpädagogische Diagnostik - Welche Fragen, Perspektiven und Aufgaben zeigen sich auf dem Weg zu einer inklusiven Hilfeplanung? In: Hollweg, C.; Kieslinger, D. (Hrsg.): Hilfeplanung inklusiv gedacht. Ansätze, Perspektiven, Konzepte. Freiburg i. Br.: Lambertus, 2021, S. 247.
3. Schweigler, D.: Kein Lotse ohne Kompass. Zur erforderlichen SGB IX-Expertise des Verfahrenslotsen. In: JAmt 7-8/2023, S. 310-316.
4. Rohrmann, A.: Ebd., S. 309.
5. BT-Drs. 19/26107, S. 79 f.
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