Gemeinsam zum Ziel der inklusiven Kinder- und Jugendhilfe
Die inklusive Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe wird fachpolitisch seit Jahrzehnten vorangetrieben. Mit der Reform des Kinder- und Jugendhilferechts (SGB VIII) durch das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) wurden im Juni 2021 eine bedeutsame Weichenstellung vorgenommen und drei Stufen festgelegt1:
1. Seit Juni 2021 sind neue gesetzliche Vorgaben zur Steigerung der inklusiven Ausrichtung in Kraft und setzen wichtige Impulse für ein inklusives Selbstverständnis, inklusiven Kinderschutz, inklusive Kinder- und Jugendarbeit sowie Kindertagesbetreuung und für eine inklusive Bedarfsplanung sowie Qualitätssicherung. An verschiedenen Stellen im Gesetz findet sich die Verpflichtung zu adressat:innenorientierter Aufklärung, Beratung und Beteiligung - in verständlicher, nachvollziehbarer und wahrnehmbarer Form. Zudem sind Jugendämter und Träger der Eingliederungshilfe an der fortbestehenden Schnittstelle zwischen SGB VIII und SGB IX zu einer verbesserten Zusammenarbeit in Gesamtplanungsprozessen und in Fällen des Zuständigkeitsübergangs aufgefordert.
2. Zum 1. Januar 2024 tritt der § 10 b SGB VIII in Kraft, wonach Verfahrenslots:innen in den Jugendämtern junge Menschen mit (drohender) Behinderung und ihre Familien bei der Verwirklichung ihrer Rechtsansprüche auf Eingliederungshilfe begleiten und unterstützen werden (vgl. Beitrag S. 13 ff. in diesem Heft). Auf ihre hierbei gewonnenen Erfahrungen gestützt haben die Verfahrenslots:innen zudem die Aufgabe, ihr Jugendamt bei der bevorstehenden Aufgabe der Zusammenführung der Leistungen aus SGB VIII und SGB IX, 2. Teil, zu unterstützen.
3. Angekündigt ist ferner die Herstellung der sogenannten Gesamtzuständigkeit beziehungsweise der "Inklusiven/Großen Lösung", deren genaue Maßgaben aber noch ein weiteres Reformgesetz benötigen. Das KJSG gibt vor, dass dieses Gesetz bis zum 1. Januar 2027 verabschiedet sein muss. Um der Umsetzung mehr Zeit zu geben, ist hierzu ein Referatsentwurf schon für das zweite Quartal 2024 angekündigt; in Kraft treten soll diese Reformstufe allerdings erst zum 1. Januar 2028.
Wegbereitung: der Beteiligungsprozess "Gemeinsam zum Ziel"
Anknüpfend an die positive Erfahrung im Erarbeitungsprozess des KJSG2 hat das Bundesfamilienministerium (BMFSFJ) insbesondere zur Vorbereitung der Reformstufe 3 und der für sie erforderlichen Gesetzesänderungen erneut einen Beteiligungsprozess initiiert. Unter dem Titel "Gemeinsam zum Ziel: Wir gestalten die Inklusive Kinder- und Jugendhilfe" sammelt es seit November 2022 Erkenntnisgrundlagen. Auf diesen aufbauend, wird es nun den angekündigten Referatsentwurf verfassen.
Weitgehend analog zum vorherigen Beteiligungsprozess "Mitreden - Mitgestalten" (November 2018 bis Dezember 2019)3, der dem KJSG voranging, erfolgt auch diesmal die Einbeziehung der Fachöffentlichkeit über eine mit circa 90 Expert:innen besetzte Arbeitsgruppe. Diese hat anhand von Arbeitspapieren des Ministeriums die verschiedenen Bausteine der Reform diskutiert, wobei die Arbeitspapiere keine Formulierungsvorschläge für den künftigen Gesetzestext enthielten, sondern abstrakter gefasste Skizzen zur möglichen Ausrichtung und Gestaltung der Reform (sogenannte "Optionen").4 Daneben besteht zur Vorbereitung dieser Reform erstmals ein durch das BMFSFJ einberufener Selbstvertretungsrat, über den die Perspektiven unterschiedlicher Adressat:innengruppen einbezogen werden sollen.5 Außerdem werden in einem dritten Baustein mehrere begleitende Forschungsprojekte durchgeführt, die zum einen einzelne, bereits im KJSG festgelegte Veränderungen begleitend unterstützen, aber auch Hinweise für die zum 1. Januar 2028 geplante dritte Reformstufe liefern sollen.6 Ein wissenschaftliches Kuratorium hilft Ergebnisse zu bündeln, offene Fragen aufzudecken und unterbeleuchtete Themen voranzutreiben. Es ist hochkarätig besetzt mit den Professor:innen Karin Böllert, Münster; Birgit Herz, Hannover; Mirja Silkenbeumer, Frankfurt/M.; Wolfgang Schröer, Hildesheim.
Ein paar Schlaglichter "aus der Kristallkugel"
Welche Ergebnisse sich aus den verschiedenen Strängen des Beteiligungsprozesses ableiten lassen werden, lässt sich derzeit schwer vorhersagen. Die in ihrer ganzen Breite erfolgende Beteiligung führt zu einem vielstimmigen Chor, Tausenden Seiten Stellungnahmen, Gesprächsprotokollen und Berichten. Die Mitarbeitenden des BMFSFJ haben nun die Aufgabe, hieraus einen stimmigen Gesamtentwurf in Gesetzesform zu entwickeln, der dann das parlamentarische Verfahren durchlaufen wird. Da die Reform zustimmungspflichtig sein wird, finden parallel schon Beratungen mit den Bundesländern statt, in denen die Fragen der Umsetzbarkeit sowie der Kostenfolgen sicher zentral sind.
Als sicher kann gelten, dass die Reformstufe 3 tiefgreifende Veränderungen bringt. Sie zielt auf nicht weniger als die Verschmelzung zweier Sozialrechtsbereiche ab, deren Akteur:innen sich einander in den vergangenen Jahrzehnten erst langsam annäherten und zu Recht an ihren Eigenlogiken und teils als widerstreitend wahrgenommenen, teils tatsächlich gegenläufigen Errungenschaften festhalten (wollen).
Zwar wird mit der Inklusiven Lösung im SGB VIII keine "Gesamtzuständigkeit" im Sinne einer vollständigen Überwindung des gegliederten Sozialleistungssystems erreicht - neuralgische Schnittstellen zu Rehabilitationsträgern wie unter anderem Krankenkassen und gesetzlicher Unfallversicherung, aber auch zur Pflegeversicherung sowie dem Schulsystem bleiben bestehen. Dennoch wird die Reform entscheidend dazu beitragen, ganzheitlicher auf Lebenslagen der jungen Menschen und ihrer Familien zu schauen und ihnen systemische Unterstützungsangebote unterbreiten zu können. Ferner besteht das Potenzial, der großen Sorge des Fachkräftemangels durch Verfahrensvereinfachung etwas entgegenzusetzen, indem bürokratische Schleifen innerhalb des Vorgangs der Leistungsbewilligung abgebaut werden, die weder für die Berechtigung zur Herstellung von Rechtssicherheit noch für die Träger zum Controlling sinnvoll sind.
Mit Blick auf die schon in Stufe 1 durch das KJSG erzielten Erfolge wird der Fokus dieser nächsten Reform auf den Regelungen rund um die individuellen Rechtsansprüche bei spezifischen Hilfebedarfen liegen (jetzt: §§ 27, 35 a, 41 SGB VIII sowie §§ 98 ff. SGB IX und zugehörige Verfahrens- und Planungsvorgaben). Diskutiert wurden die Anspruchsnorm(en), das Hilfe-/Leistungsplanverfahren, der Übergang ins Erwachsenensystem, das Finanzierungsrecht sowie die Kostenheranziehung, Schnittstellen, aber auch die zuvor auseinanderfallende Gerichtsbarkeit.
Wie bereits angedeutet, verliefen die Diskussionen im oben genannten Beteiligungsprozess dabei durchaus kontrovers. Um zu tragfähigen Lösungen zu kommen, wird die sonst oft übliche politische Strategie der "kleinen Kompromisse" oder "hier geben, da nehmen" wohl nicht reichen. Es sind aber auch Möglichkeiten aufgeschienen, wie sich Regelungen zusammenfügen und unter Wahrung von bekannten und damit die Umsetzung erleichternden Formulierungen verschränken lassen. Bei Betrachtung vor allem auch des Sinns und Zwecks mancher fremd, gar konträr wirkenden Vorgaben wird deutlich, dass eigentlich die gleichen Anliegen verfolgt werden und eher bei der Betonung und in der Regelungstechnik Unterschiede liegen. So streben zum Beispiel die so weich im SGB VIII und die so streng im SGB IX wirkendenden Verfahrensvorgaben⁷ beide nach Personenzentrierung, Bedarfs- und Entwicklungsorientierung, Fachlichkeit und Rechtssicherheit.
Fachlichkeit vor Ort bleibt Motor der Reform
Neben der Überwindung von im Recht liegenden (strukturellen) Barrieren ist aber auch eine Weiterentwicklung auf fachlicher Ebene dringend erforderlich. Hierzu werden bereits wichtige Schritte unternommen: So befassen sich bundesweit Ämter und Träger mit Fragen der Organisationsentwicklung, um die noch bestehende Trennung und Versäulung aufzulösen, aber auch um Fragen einer gemeinsamen Organisationskultur und eines gemeinsamen Verständnisses zu Fachthemen sowie zu verbindlichen, subjekt- und partizipationsorientierten Arbeitsweisen voranzubringen.8 Wie bisher werden dabei im föderalen System unterschiedliche Wege aufgezeigt werden, wie zum Beispiel: Soll es Zuordnungen zu Spezialdiensten "unter einem Dach" geben - oder einen allgemeinen Dienst mit Spezialfachberatung?
Neben einer bedarfsorientierten fallübergreifenden Planung der kommunalen Landschaft unter Einbezug der Adressat:innen ist für diese Zusammenführung zweier Systeme - mit ihren durch unterschiedliche Disziplinen und Erfahrungen geprägten Akteur:innen - eine Vermittlung der rechtlichen Änderungen, aber eben auch von Fachfragen entscheidend.
Dabei ist nicht nur auf die Ausbildung, sondern auch die Weiterbildung zu setzen. Denn anders als bei anderen Reformen geht es hier nicht per se um einen Ausbau der Angebote und Leistungen, sondern um eine Zusammenführung der bereits mit und für die jungen Menschen und ihre Familien arbeitenden Fachkräfte. Ich verzichte in diesem Beitrag darauf, zu vermitteln, mit welchen fachlichen Überzeugungen die AGJ sich in den Beteiligungsprozess eingebracht hat - dies können Sie bei Interesse an anderer Stelle nachlesen.⁹ Ein persönliches Statement finden Sie auf S. 11.
1. Einen Überblick zu den KJSG-Änderungen bietet: Meysen, T.; Lohse, K.; Schönecker, L.; Smessaert, A.: Das neue KJSG. Baden-Baden: Nomos, 2022, Kapitel 3.
2. Arbeitsentwürfe für eine frühere Fassung des KJSG waren im Sommer 2016 nach heftigen Protesten der Fachwelt zurückgezogen worden, weil insbesondere die darin vorgesehenen Änderungen in den Regelungen zur Hilfeplanung und zu den Finanzierungsvorschriften als stark identitätsgefährdend und den sozialpädagogischen Grundüberzeugungen der Kinder- und Jugendhilfe zuwiderlaufend erlebt wurden.
3. Näheres dazu einschließlich des Abschlussberichts unter: https://mitreden-mitgestalten.de
4. Arbeitspapiere, Stellungnahmen und Protokolle sind öffentlich zugänglich unter https://gemeinsam-zum-ziel.org/einblick-in-den-prozess/fachoeffentlichkeit
5. Dokus zu allen Veranstaltungen per Kurzlink: t.ly/lM0JC
6. Kurzbeschreibung zu allen Projekten: https://gemeinsam-zum-ziel.org/einblick-in-den-prozess/forschung
7. Vgl. §§ 36-40, 73-78 g SGB VIII und §§ 117-134 SGB IX-2.Teil in Verbindung mit dem fortgeltenden SGB IX-1. Teil.
8. Vgl. Hinweise in: AGJ: Positionspapier Inklusion gestalten! Wie inklusive Hilfen zur Erziehung möglich werden können. Berlin: 2022, Download per Kurzlink: https://cutt.ly/pwOISa7P
9. Nachlesbar in: AGJ: 1. und 2. zusammenführende Stellungnahmen zum BMFSFJ-Diskussionsprozess "Gemeinsam zum Ziel". Berlin, 27. April 2023 und 21./22. September 2023. Abrufbar unter: www.agj.de/sonstige-seiten/sgb-viii.html
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