Chancen auf Teilhabe und Bildung sichern
Zu viele Kinder wachsen in Deutschland in Haushalten auf, deren Einkommen im Niedrigeinkommensbereich liegt oder deren Lebenslage von Armutserfahrungen geprägt ist. Besonders gefährdet sind hiervon Haushalte mit drei oder mehr Kindern und Haushalte von Alleinerziehenden.1, 2
Armutserfahrungen in Kindheit und Jugend haben jedoch erhebliche Folgen. Ein Aufwachsen in Armut bedeutet Verzicht auf viele Dinge, die für Gleichaltrige selbstverständlich sind - sei es ein eigenes Zimmer, gesunde Ernährung, der Kinobesuch und die Geburtstagsparty mit Freunden, ein Urlaub, ein mit Kosten verbundenes Hobby. Armut begrenzt und grenzt aus. Ausgrenzungserfahrungen belasten den Lebensalltag.3 Gesundheitliche Benachteiligungen und negative Auswirkungen auf Bildungs- und Teilhabechancen sowie die Gefahr der Verfestigung von Armutslebenslagen im Lebenszyklus sind häufig Folge früher Armutserfahrungen.4 Unterstützungsleistungen der sozialen Infrastruktur sind ein wichtiger Beitrag, um den Teufelskreis sich verfestigender Armutslagen zu durchbrechen. Auch die Caritas leistet hier mit ihren Einrichtungen, Diensten und Angeboten einen wesentlichen Beitrag.
Besonders wichtig ist es dabei, dass Hilfen möglichst früh - im besten Fall schon zum Zeitpunkt der Schwangerschaft und Geburt beispielsweise durch Unterstützung von Babylotsen5 - ansetzen. Früh beginnende und die Übergänge in den verschiedenen Lebensphasen gut begleitende Präventions- und Hilfeketten sollten idealerweise über den gesamten Lebenszyklus vorhanden sein. Neben einem dichten Netz sozialer Infrastrukturangebote und einem chancengerechten Bildungswesen braucht es eine bedarfsgerechte finanzielle Absicherung, um Verfestigung von Armut und Benachteiligung im Lebenslauf früh zu durchbrechen.
Im Koalitionsvertrag wurde ein Neustart der Familienförderung vereinbart. Mit der Kindergrundsicherung sollen bisherige finanzielle Leistungen (Kindergeld, Leistungen aus SGB II/XII für Kinder, Teile des Bildungs- und Teilhabepakets sowie der Kinderzuschlag) zu einer einfachen, automatisiert berechneten und ausgezahlten Förderleistung gebündelt werden. Diese soll ohne bürokratische Hürden direkt bei den Kindern ankommen und ihr neu zu definierendes soziokulturelles Existenzminimum sichern.6 Ergänzend soll durch die Umsetzung der EU-Kindergarantie bis 2030 die soziale Infrastruktur gestärkt werden (siehe auch S. 12 ff. in diesem Heft).
Eltern sparen zuerst bei sich selbst
Lange hat die Caritas auf einen Gesetzentwurf zur Kindergrundsicherung gewartet. Wie bereits beim Bürgergeld war die Reform begleitet durch eine vorurteilsbehaftete Debatte. Darin wurde behauptet, dass Leistungen bei Kindern und Jugendlichen nicht ankommen, weil armutsbetroffene Eltern Geldleistungen für ihre Kinder zweckentfremden würden. Dies ist durch Forschung widerlegt und auch die Praxiserfahrung der Caritas zeigt, dass fast alle Eltern erst bei sich selbst sparen, bevor es zu Einschränkungen bei den Bedarfen der Kinder kommt.
Der vorliegende Gesetzentwurf wird dem Versprechen des Koalitionsvertrags und den Erwartungen der Caritas jedoch nicht gerecht. Eine abgestimmte Förderung aus einer Hand ist noch nicht erreicht. Für einige Familien sind durch stärkere Berücksichtigung der Unterhaltsleistungen sogar Verschlechterungen im Gesetzentwurf enthalten. Das kann so nicht bleiben. Hier sind deutliche Nachbesserungen nötig.
Der Deutsche Caritasverband (DCV) begrüßt die grundsätzliche Zielsetzung des Gesetzes, bessere Chancen für alle Kinder und Jugendliche zu schaffen, mehr Familien mit Unterstützungsbedarf zu erreichen sowie Kinderarmut wirksam zu bekämpfen.7 Um die avisierten Ziele zu erreichen, muss nun im weiteren parlamentarischen Verfahren der Blick vor allem auf folgende Stellschrauben gerichtet werden: die bedarfsgerechte Ausgestaltung, die verbesserte Inanspruchnahme durch bedürftige Familien, und damit eng verknüpft ist, unnötige Bürokratie zu vermeiden.
Gesetzentwurf wird nicht allen gerecht
Mit Blick auf die bedarfsgerechte Ausgestaltung wird das im Koalitionsvertrag verbriefte Versprechen einer Neudefinition des kindlichen Existenzminimums nur unzureichend eingelöst. Notwendig wäre ein Berechnungsverfahren, bei dem der Regelbedarf für Kinder und Jugendliche nicht zu stark von den Ausgaben der gesellschaftlichen Mitte abweicht und willkürliche Abzüge bei einzelnen Verbrauchsausgaben unterbleiben.
Der DCV kritisiert deutlich, dass nicht alle Kinder und Jugendlichen von der Kindergrundsicherung profitieren werden, zum Beispiel Kinder aus dem Asylbewerberleistungsgesetz und weitere Gruppen mit nichtdeutscher Staatsangehörigkeit. Auch der spezifischen Situation von Careleaver:innen wird mit dem Gesetzentwurf nicht hinreichend Rechnung getragen. Zudem verkennen einzelne Regelungen die Lebenssituation von Alleinerziehenden, unverhältnismäßige Lasten werden unter dem Vorwand von Arbeitsanreizen dort aufgebürdet, wo gesellschaftliche Unterstützung angesichts besonderer Lebenssituationen besonders notwendig ist.8
Mit Blick auf die verbesserte Inanspruchnahme und Vermeidung unnötiger Bürokratie ist kritisch zu sehen, dass auch künftig nicht mit einem Antrag beim neu einzurichtenden Familienservice alle Leistungen geltend gemacht werden können. Neben Sonder- und Mehrbedarfen müssen auch die Leistungen für Bildung und Teilhabe (mit Ausnahme der Teilhabeleistungen und des Schulbedarfes) weiterhin bei einer anderen Stelle beantragt werden. Der DCV fordert, dass beim Familienservice als zentrale Anlaufstelle auch diese Leistungen für Kinder zukünftig durch Antragsbündelung und Weiterleitung an die zuständige Behörde angemeldet werden können. Zudem sollte das möglichst aktuellste Einkommen bei der Berechnung des einkommensabhängigen Zusatzbetrages berücksichtigt werden, damit Leistungsberechtigte nicht auf ergänzendes Bürgergeld angewiesen und somit doppeltem Bürokratieaufwand ausgesetzt sind. Hier sollten alle Möglichkeiten des automatischen Datenabrufs genutzt werden, um die Bürger:innen zu entlasten und ihnen Leistungen möglichst automatisiert zukommen zu lassen.
Das geplante Zusammenspiel von Bürgergeldauszahlung an die Eltern und Kindergrundsicherungsleistung für die Kinder muss kontinuierlich evaluiert werden, damit alltagstaugliche Nachsteuerungen zugunsten der Familien systematisch und empirisch fundiert ermöglicht werden.
Soziokulturelles Existenzminimum neu berechnen
Wichtig ist, dass der Einstieg in die Kindergrundsicherung handwerklich gut umgesetzt wird. Dafür braucht es im parlamentarischen Verfahren hinreichend Zeit. Die Bundesagentur für Arbeit hat wiederholt darauf hingewiesen, dass die Vorbereitung eines funktionsfähigen Familienservice ebenfalls Zeit benötigt, da die im Gesetzgebungsverfahren erreichten Verbesserungen erst noch technisch und organisatorisch umzusetzen sind. Handlungsleitend muss ein gelingender Einstieg in eine Kindergrundsicherung sein, die den Zielen des Gesetzes gerecht wird und mit der Familien fortan besser erreicht werden. Die Kindergrundsicherung muss zudem, wenn sie als Kinderchancensicherung wirken soll, mehr sein als eine Verwaltungsreform. Dringend erforderlich ist dafür, das soziokulturelle Existenzminimum neu zu berechnen. Für eine wirksame Armutsprävention und Armutsüberwindung ist ein dichtes Netz sozialer Infrastrukturangebote erforderlich, das finanziell auskömmlich abgesichert werden muss. Monetäre Leistungen und soziale Infrastruktur dürfen dabei nicht gegeneinander ausgespielt, sondern müssen gut miteinander kombiniert werden.
1. Bertelsmann Stiftung: Kurzlink: https://t.ly/sIDvG
2. Welskop-Deffaa, E. M.: Familie. In: Zimmer, M. (Hrsg.): Grundsätzlich Christlich-Sozial - Beiträge zur Grundsatzdebatte der CDU. Herder, 2023, S. 277.
3. Tophoven, S.; Lietzmann, T.; Reiter, S.; Wenzig, C.: Aufwachsen in Armutslagen. Zentrale Einflussfaktoren und Folgen für die soziale Teilhabe. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung, 2018. Kurzlink: https://t.ly/JWFTm
4. Tophoven, S.; Lietzmann, T.; Reiter, S.; Wenzig, C.: Armutsmuster in Kindheit und Jugend. Längsschnittbetrachtungen von Kinderarmut. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung, 2017. www.bertelsmann-stiftung.de/dauerzustand-kinderarmut
5. Caritas-Studie zu Babylotsen: Eine wahre Hilfe für junge Familien und in der Pandemie noch mehr gebraucht. Kurzlink: https://t.ly/9OCrL
6. Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis90/Grüne und FDP, 2021.
7. Stellungnahme des DCV vom 6. September 2023 zum Referentenentwurf des BMFSFJ zum Entwurf eines Gesetzes zur Einführung einer Kindergrundsicherung und zur Änderung weiterer Bestimmungen, abrufbar unter Kurzlink: https://t.ly/G64gS
8. Stellungnahme des DCV vom 22. November 2023 zum Entwurf eines Gesetzes zur Einführung einer Kindergrundsicherung. Abrufbar unter: https://www.caritas.de/STN23-Kindergrundsicherung
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