Armut hat in Deutschland ein junges Gesicht
Der Klimanotstand, die Kriege in Europa und im Nahen Osten, die globale Pandemie, die daraus folgende angespannte wirtschaftliche und soziale Situation, der wachsende Druck auf demokratische Gesellschaften und die notwendigen Transformationsprozesse wirken sich messbar auf das Leben junger Menschen aus. Mit ihren Sorgen und Hoffnungen müssen sie mehr denn je darauf vertrauen dürfen, ernst genommen, beteiligt, begleitet und bestärkt zu werden. Das gilt besonders für sozial benachteiligte und individuell beeinträchtigte junge Menschen.
Prekäre Lebenssituationen und Armutserfahrungen nehmen zu. Die psychischen Belastungen sind vor allem bei jungen Menschen angestiegen. Die Zugänge zu Bildungsangeboten hängen in hohem Maße von der sozialen Herkunft ab. Der gesellschaftliche Zusammenhalt gerät unter Druck. Das alles erschwert Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen das Aufwachsen.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit (BAG KJS) zeigt zugleich in Fallreportagen, welche Hoffnungen und Erwartungen junge armutsbetroffene Menschen haben und wie es gelingen kann, ihre Talente zu entfalten, gemeinsam mit ihnen Perspektiven für ihr Leben zu entwickeln. Dabei wird unmissverständlich deutlich: Es bedarf verlässlicher und auskömmlich finanzierter Strukturen der Begleitung. Die vorherrschende Projekt- und Maßnahmeförderung erschwert jedoch eine individuell ausgerichtete Förderung und nachhaltige Armutsbekämpfung.
Letztendlich hängt die Zukunft der Gesellschaft davon ab, welche Perspektiven und Chancen sie jungen Menschen eröffnet und wie erfolgreich sie gegen Armut und soziale Ausgrenzung vorgeht. Rund ein Viertel aller Armutsgefährdeten in Deutschland ist jünger als 25 Jahre. Die multiple Krise hat diesen Zustand noch verschärft.
Als anwaltschaftliche Vertretung und Stimme für von Armut betroffene Jugendliche liefert die BAG KJS mit dem Monitor "Jugendarmut in Deutschland" seit 2010 regelmäßig Zahlen, Daten und Fakten. Der im Winter 2022 erschienene Monitor1 macht die Probleme und Herausforderungen der Jugend in Deutschland sichtbar und belegt die (mitunter) prekäre Situation mit Daten zu Themen wie digitale Teilhabe, den dafür erforderlichen Kompetenzen, Wohnungslosigkeit oder Bildungsmöglichkeiten.
Jugendarmut ist eine Lebenslage
Die Lebenslagen junger Menschen, ihre Bildungs- und Teilhabechancen und damit auch ihre Zukunftsperspektiven sind sehr unterschiedlich. Jugendliche in prekären Lebenslagen sowie von Armut Betroffene haben nicht die gleichen Startchancen ins Leben wie Jugendliche aus wohlhabenderen Verhältnissen.
Wenn junge Menschen unter Armut leiden, bestimmt das ihr Leben. Das bestätigt die qualitative Jugendforschung, wie etwa die U18-Sinusstudien oder die Trendstudien "Jugend in Deutschland" von Simon Schnetzer und Klaus Hurrelmann sowie die Langzeitstudien des Instituts für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (ISS) und der AWO. Es hat Folgen für ihre Gesundheit, ihr Wohlbefinden, ihre "emotionale" Intelligenz und Ambiguitätstoleranz. Junge Menschen, die abgehängt sind, wissen das ganz genau. Sie wünschen sich zwar einerseits ein normales Leben, eine Ausbildung und eine Familie, richten ihre Vorbilder aber häufig nach ihrer Chancenlosigkeit aus.
Wo existenzielle Fragen nicht gelöst sind, besteht kein Raum, Bildungswege zu planen oder berufliche Perspektiven zu entwickeln. Daher sind die wichtigsten Probleme zuerst zu lösen. Individuelle Hilfsangebote sind auszubauen und regelhaft anzubieten; dazu zählt auch Hilfe bei der Alltagsbewältigung. Wer arm ist, befindet sich in einem Kreislauf, den es zu durchbrechen gilt!
Wie die Eltern, so die Kinder?
Armut droht sich weiter zu verfestigen. Die Quote verfestigter Armut hat sich im Rahmen einer gewachsenen sozialen Ungleichheit in den letzten 20 Jahren verdoppelt. Olaf Groh-Samberg stellte bereits 2017 in seinem Buch "Armut und Armutspolitik in Deutschland" fest: Verfestigung von Armut ist ein sich verstärkender und dynamischer Prozess. Individuelle und durch das Umfeld geprägte Faktoren bedingen einander. Die Langzeitstudien vom Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (ISS) und der AWO belegen, dass mindestens ein Drittel der Kinder, die in Armut aufwachsen, auch im jungen Erwachsenenalter noch in Armut lebt.
Der Monitor "Jugendarmut in Deutschland 2022" dokumentiert, dass in Deutschland im Jahr 2021 insgesamt 4,18 Millionen Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene von Armut bedroht oder betroffen waren. In Deutschland prägt die soziale Herkunft in einem hohen Maße den sozialen Status. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hat das in Studien nachgewiesen. Bereits 2018 hält die OECD in der Studie "Ist der Soziale Aufzug kaputt?" fest, dass es in Deutschland bis zu sechs Generationen - das sind rund 150 Jahre - dauern kann, bis die Nachkommen einer einkommensschwachen Familie das Durchschnittseinkommen erreichen und damit den Armutskreislauf durchbrechen.
Keine Lobby, um Klassen zu durchbrechen
Statisch gilt als arm, wer als Einzelperson weniger als 15.000 Euro Einkommen netto im Jahr hat. Bei zwei Erwachsenen und zwei Kindern gelten 31.500 Euro als Armutsgefährdungsgrenze. Die Dramatik wird dadurch sichtbar, dass jedes dritte Kind, das mit sechs Jahren in Armut lebte, auch mit 25 Jahren noch arm ist.
Armut bedeutet Ausgrenzung, ausgeschlossen und benachteiligt zu sein. Arme Menschen haben eingeschränkten Zugang zu gesellschaftlicher Teilhabe oder gesellschaftlicher Macht.
Kinder aus der sogenannten oberen Dienstklasse haben im Vergleich zu Kindern von Arbeiter:innen eine 2,5-fach bessere Chance auf eine Gymnasialempfehlung - selbst bei gleicher Leseleistung und gleichen kognitiven Fähigkeiten, wie in IGLU-Studien 2021 oder 2023 unter Leitung der Bildungsforscherin Nele McElvany nachzulesen ist. Und von 100 Kindern, deren Eltern keinen Hochschulabschluss haben, nehmen nur 21 Kinder ein Studium auf.
Adipositas und Diabetes nehmen signifikant zu
Der Gesundheitsberichterstattung des Bundes lässt sich bereits im Jahr 2010 entnehmen, dass armutsbetroffene Menschen acht bis elf Jahre früher sterben als Personen mit besserer finanzieller Absicherung. Bei Jugendlichen in Haushalten mit niedrigem Einkommen nehmen Krankheitsbilder wie Adipositas und Diabetes signifikant zu. Schlechte Ernährung - viel Fett und Zucker, wenig Ballaststoffe und Vitamine - sowie mangelnde Bewegung nennen Kinder- und Jugendärzte als Ursachen. Hinzu kommen Konzentrationsschwäche, Essstörungen oder Depressionen, weil Sorgen wachsen und Perspektiven fehlen. Das Gesundheitssystem kann diese Entwicklung an entscheidender Stelle kaum bewältigen. Statistisch steigt zwar die Zahl der Kinder- und Jugendärzte seit Jahren. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung stellt auch fest, dass die Versorgung durch die Vertragsärzt:innen in Deutschland sehr gut ist. Allerdings zeichneten sich in einigen Quartieren von Großstädten, insbesondere aber in ländlichen und strukturschwachen Regionen Engpässe ab. In von Versorgungslücken betroffenen Regionen leben häufig benachteiligte Menschen.
Angesichts zunehmender Digitalisierung dürfen wir nicht außer Acht lassen, dass eine Vielzahl junger Menschen digital ausgegrenzt ist und an der digitalisierten Welt nicht teilhaben kann. Laut Statistischem Bundesamt von September 2023 konnten sich 2,6 Prozent der Bevölkerung ab 16 Jahren keinen Internetzugang leisten. Die Ausstattung mit Hardware weist Lücken aus. Dem Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung zufolge fallen die digitalen Kompetenzen bei Neuntklässler:innen, deren Eltern erwerbslos sind, um 17 Prozent geringer aus als bei Kindern erwerbstätiger Eltern.
Was gegen Jugendarmut getan werden muss
Wir brauchen in Deutschland eine Debatte über eine gerechte und solidarische Gesellschaft. Wir brauchen eine Sozial- und Jugendpolitik, die allen "Jugend ermöglicht" und ihnen einen guten Weg in das Erwachsenenleben ebnet; unabhängig von der sozialen Herkunft, der finanziellen Situation der Eltern oder dem familiären Bildungsstatus. Eine solche Politik muss Querschnittspolitik sein. Bei jeder einzelnen politischen Entscheidung sind die Auswirkungen auf Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene zu bedenken.
Die umfassende soziokulturelle Teilhabe von Kindern und Jugendlichen ist unabhängig vom Einkommen der Eltern zu fördern und abzusichern. Der aktuell vorliegende Gesetzentwurf zur Kindergrundsicherung und dessen finanzielle Ausstattung mit 2,4 Milliarden Euro sind nur ein Anfang, der Armut nicht wirksam bekämpft. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat den Mittelbedarf einer Grundsicherung für junge Menschen auf 20 Milliarden Euro geschätzt (18. August 2023). Um Jugendarmut effektiv zu bekämpfen, muss die Bundesregierung deutlich nachlegen.
1. www.bagkjs.de/monitor-jugendarmut-2022
Kirche muss nah am Menschen sein
Global denken, lokal handeln
Chancen auf Teilhabe und Bildung sichern
EU-Kindergarantie will Kinderarmut bis 2030 bekämpfen
„Pflege begeistert“ – wenn der Rahmen stimmt
Mehr Europa wagen!
Aus Skepsis wird Begeisterung
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