Zu wenig Wohnraum – zu viel Konkurrenz
Die Coronapandemie hat das Leben unserer Gesellschaft in den letzten anderthalb Jahren stark verändert. Hygienevorschriften, Abstandsregelungen, Quarantänen und der Lockdown haben die Situation vieler Menschen stark beeinträchtigt. Besonders betroffen von den Einschränkungen waren wohnungslose Menschen: Denn viele Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe mussten ihre Angebote einschränken, Behörden waren schwerer zugänglich und die Existenzgrundlagen vieler Menschen insbesondere in der Straßenobdachlosigkeit wie zum Beispiel der Straßenzeitungsverkauf, das Flaschensammeln oder auch Betteln fielen weg. Viele Aufenthaltsbereiche wie Bibliotheken und andere öffentliche Orte hatten geschlossen.
Nach 18 Monaten ist es ein geeigneter Zeitpunkt, um ein Zwischenfazit aus Sicht der Wohnungshilfe zu ziehen und Schlussfolgerungen abzuleiten. Die Gruppe der wohnungslosen Menschen ist sehr heterogen: Sie leben in Unterkünften nach dem Ordnungsrecht, in stationären Einrichtungen und in Trägerwohnungen der Wohnungslosenhilfe, in Gemeinschaftsunterkünften oder buchstäblich auf der Straße.
Die Pandemie hat einmal mehr gezeigt, dass wohnungslose Menschen besonders vulnerabel sind. Sie können sich nicht einfach in eine eigene Wohnung zurückziehen. Sie sind bei einem Leben auf der Straße besonderen Risiken ausgesetzt und haben in Notunterkünften meist wenig Abstandsmöglichkeiten. Aufgrund ihrer Situation sind wohnungslose Menschen oftmals gesundheitlich eingeschränkt und leiden unter einem erhöhten Risiko, schwer an Infektionen zu erkranken. Sie haben keinen oder nur einen sehr eingeschränkten Zugang zur Gesundheitsversorgung. Wohnungslose Menschen sind von psychischen Folgen der Pandemie wie Einsamkeit und anderen psychischen Belastungen besonders stark betroffen.
Wohnungslose hielten Abstand - keine erhöhten Infektionszahlen
Mit Ausnahme von Bewohner(inne)n von Massenunterkünften waren unter dieser sehr heterogenen Gruppe keine besonders erhöhten Infektionsraten festzustellen. Daraus folgt, dass viele wohnungslose Menschen Abstandsregeln und Hygienemaßnahmen eingehalten und sich tendenziell eher zurückgezogen haben. Quarantänemaßnahmen waren insbesondere in Not- und Gemeinschaftsunterkünften für die Bewohner(innen) und Mitarbeitenden sehr belastend. In Gemeinschaftsunterkünften waren die Impferfolge am höchsten, wenn die Impfaktionen entsprechend sprachlich und interkulturell vorbereitet und begleitet wurden.
Die Wohnungslosenhilfe musste in kürzester Zeit ihre gewohnte Arbeitsweise drastisch umstellen. Viele Tagesstätten mussten schließen, medizinische Praxen ihre Arbeit einschränken. Notunterkünfte konnten weniger Menschen aufnehmen, Beratungsdienste hatten ihre Arbeit den Hygieneregeln anzupassen. Insgesamt hat sich die Wohnungshilfe bundesweit aber schnell auf die Situation eingestellt. Sie reagierte sehr kreativ und schuf sehr schnell Lösungen, um Beratungen zu ermöglichen und Angebote offenzuhalten oder neu zu entwickeln.
Caritas im Erzbistum Berlin verteilte warme Mahlzeiten
Eine große Problematik bestand durchgängig in zu engen Räumlichkeiten. Für die wohnungslosen Menschen bedeutete es, dass viele Aufenthaltsorte und Begegnungsmöglichkeiten in geschlossenen Räumen wegfielen. Warme Mahlzeiten konnten zu Anfang kaum ausgegeben werden. Deshalb entstand bei der Caritas für das Erzbistum Berlin die Idee des Caritas-Foodtrucks. Dieser schaffte eine Win-win-Situation. Ein junges Catering-Unternehmen, das seine Aufträge verloren hatte, kochte nun an fünf Tagen in der Woche für wohnungslose Menschen. Der Caritas-Foodtruck suchte regelmäßig zur Mittagszeit verschiedene Orte in Berlin auf, wo sich wohnungslose Menschen aufhalten, und verteilte frisch gekochte warme Mahlzeiten. Dabei zeigte sich, dass nicht nur das warme Essen wichtig war. Die Menschen genossen die Gespräche und Begegnungen mit Ehrenamtlichen und Hauptamtlichen der Caritas.
Die Situation beförderte in manchen Städten aber auch die Tendenz zu einer Überversorgung auf der "Platte" durch unterschiedliche Initiativen, die es schon vor der Pandemie gab. Hier muss immer wieder vor Ort geschaut werden, ob der Einsatz aus fachlicher Sicht sinnvoll ist oder nicht vielleicht sogar Elendssituationen verfestigt.
Standards der Notunterbringung wurden teilweise verbessert
Ein vielerorts sehr positiver Effekt war, dass es in der Pandemie eine hohe gesellschaftliche Sensibilität und Bereitschaft zum Engagement für wohnungslose Menschen gab und bis heute gibt. Auch staatlicherseits wurden viele Maßnahmen ergriffen, um wohnungslose Menschen vor einer Infektion zu schützen, zum Beispiel durch die Bereitstellung von Masken und die Finanzierung und Schaffung von zusätzlichen Ressourcen für diese Zielgruppe. Es gelang auch an verschiedenen Stellen durch politisches Engagement der Caritas, der Katholischen Arbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (KAGW) und anderer, die Situation wohnungsloser Menschen in das Blickfeld der Politik zu rücken und Lösungen zu erreichen.
Die Standards der Notunterbringung haben sich in vielen Städten durch die Hygienevorgaben verbessert. Die Belegung wurde verringert, teilweise wurden sogar Einzel- und Doppelzimmer geschaffen und etliche Notunterkünfte und Kältehilfeeinrichtungen konnten auf einen Rund-um-die-Uhr-Betrieb umstellen. Neue Unterkünfte wurden geschaffen und mit Beratungsangeboten verknüpft. Solche Schritte haben dazu geführt, dass sich für einzelne Klient(inn)en die Lebenssituation sogar verbessert hat.
Diese besseren Standards der Notunterbringung sollen mancherorts fortgeführt werden. Gleichzeitig hat sich aber noch einmal bestätigt, dass Gemeinschaftsunterkünfte mit einer hohen Belegung für alle Beteiligten schwierige Wohnsituationen sind, in denen sich psychosoziale Belastungen verstärken. Eine Unterbringung nach Ordnungsrecht ohne jede Form der Begleitung führte oft dazu, dass viele Menschen nicht gut erreicht werden konnten.
Sehr problematisch war, dass viele Behörden nur schwer zugänglich und nur wenig arbeitsfähig waren. Digitale Möglichkeiten sind für viele wohnungslose Menschen kaum nutzbar. Eine Lehre aus der Corona-Zeit ist, dass Behörden künftig auch in Krisenzeiten besser handlungsfähig sein müssen. Das ist für wohnungslose Menschen essenziell.
"Housing First" - die neue politische Strategie?
Trotz aller Bemühungen hat die Coronapandemie gezeigt, dass wohnungslose Menschen von Pandemiesituationen besonders stark betroffen sind. Länder wie Berlin haben deshalb als neue Strategie "Housing First" zur Bekämpfung der Wohnungslosigkeit postuliert. Dieser Begriff wird aber sehr unterschiedlich definiert, was zu Missverständnissen führt. "Housing First" wird in Berlin nicht nur für das eigentliche Konzept verwendet, sondern für das vorrangige Ziel, Menschen in eine eigene Wohnung zu vermitteln.1 Wie das erfolgreich geschehen kann, sagt die politische Agenda kaum. Entscheidend ist, dass wohnungslose Menschen Zugang zu Wohnraum bekommen müssen, darüber gibt es keinen Zweifel. Dies ist in den Ballungsräumen und andernorts aber sehr schwer zu erreichen. Es fehlt hierfür schlichtweg genügend bezahlbarer Wohnraum. Um die wenigen vorhandenen Wohnungen konkurrieren unterschiedliche Gruppen.
Housing First"-Projekte veranschaulichen gleichwohl, wie dieser Ansatz gelingen kann. Sie sind eine sinnvolle Bereicherung des Hilfesystems, können aber keinesfalls das Gesamtinstrumentarium der Wohnungslosenhilfe ersetzen. Es ist hervorzuheben, dass das Ziel der Wohnraumvermittlung in eigenen, mietvertraglich abgesicherten Wohnraum oft auch im Rahmen der bestehenden Regelangebote wie der §-67er-Hilfen Erfolg hat. So weist die ambulante Wohnungslosenhilfe mit betreutem Wohnen bei der Caritas im Erzbistum Berlin mit etwa 70 Prozent eine hohe Vermittlungsquote in Wohnraum auf.
Ein vorrangiges Ziel der Wohnungslosenhilfe muss in jedem Fall die Vermittlung in Wohnraum sein. Dabei ist allerdings auch zu bedenken, dass es immer wohnungslose Menschen geben wird, die keinen Zugang zu Transferleistungen haben. Niederschwellige Hilfen können durch das sinnvolle politische Ziel "Housing First" nicht ersetzt werden. Die verschiedenen Ansätze sollten sich ergänzen und sich gemeinsam weiterentwickeln.
Durch die Coronapandemie sind auch Menschen in Armutssituationen geraten, die noch nie damit konfrontiert waren. Insgesamt zeigt sich, dass der Sozialstaat hilft, die Pandemiefolgen abzufedern. Jedoch haben viele Menschen längerfristig ihre Beschäftigung oder als Selbstständige ihre Einkünfte verloren. Trotz Corona-Hilfen droht vielen Menschen die Verschuldung und damit auch das Risiko, die eigene Wohnung zu verlieren (vgl. dazu Kommentar S. 5 im Heft).
Neue Armut durch Corona - Folgen noch nicht absehbar
Die Beratungsdienste der Caritas im Erzbistum Berlin waren schon vor der Pandemie stark frequentiert. Der Beratungsbedarf in der Allgemeinen Sozialberatung sowie der Schuldner- und Insolvenzberatung ist nochmals deutlich angestiegen. Viele Menschen haben Angst, ihre Wohnung nicht mehr bezahlen zu können.
Die Gesellschaft muss nun damit rechnen, dass mehr Menschen wohnungslos werden. Diese Effekte werden jedoch erst in einigen Monaten genauer absehbar sein. Hier wird ein bundesweites Monitoring durch die Caritas und die KAGW sehr helfen. Wichtig wird sein, die bestehende Beratungslandschaft vor den nun einsetzenden pandemiebedingten Sparanstrengungen zu schützen und im Zusammenhang mit den sozialen Folgen der Pandemie weiter auszubauen.
Wohnungslosenhilfe und -politik als Kernaufgabe der Caritas
Insgesamt hat die Pandemie die Wohnungslosenhilfe sehr herausgefordert. Die Kolleg(inn)en haben Großartiges geleistet. Bemerkenswert ist, wie sehr sich viele wohnungslose Menschen an die Corona-Regeln gehalten haben und impfbereit waren. Die Coronapandemie zeigt den Bedarf an Wohnraum unter einem Brennglas. Deshalb hat die KAGW ein wohnungspolitisches Projekt auf Bundesebene der Caritas angestoßen und Ressourcen dafür zur Verfügung gestellt, denn Wohnraum ist für jeden ein existenzielles Gut.2 Wenn man der Pandemie etwas Positives abgewinnen kann, dann, dass sie zu besseren Standards für die Notunterbringung und zum Ausbau digitaler und mobiler Angebote geführt hat.
Anmerkung
2. Das Projekt soll vom Diözesan-Caritasverband für das Erzbistum Köln für den DCV umgesetzt werden.
Steigende Privatverschuldung
Inklusive Gesundheitsversorgung für alle
Verbesserungen für vulnerable Menschen
Gut fürs Klima: Kapital nachhaltig anlegen
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