„Der DCV muss als konsistente Stimme gegenüber der Politik wahrgenommen werden“
Als Sie 2003 angetreten sind, stand eine neue Satzung kurz vor der Verabschiedung. Hat sie sich bewährt?
Das Ziel der Satzungsreform war es, durch schlankere Strukturen die politische Arbeit zu stärken und wirksamer zu machen. Dies ist an vielen Stellen geglückt. Der DCV ist durch veränderte Entscheidungsstrukturen in seiner politischen Arbeit konsistenter geworden. Hier sehe ich eine Aufgabe, die nicht durch Satzungsänderungen zu lösen ist: Die Komplexität der gesellschaftlichen und sozialpolitischen Aufgaben macht kurze und schnelle Abstimmungswege notwendig. Diskutiert wurde damals etwa, ob der Vorsitz des Caritasrates auch vom Präsidenten übernommen werden sollte. Dies muss unter dem Aspekt einer deutlicheren Trennung von operativer und beaufsichtigender Verantwortung neu bedacht werden. Ich habe damals für eine Trennung argumentiert und kann mir dies auch heute sehr gut vorstellen. Bewährt hat sich, dass das Präsident(inn)enamt ein eigenständiges Organ darstellt. Es unterstreicht sowohl die identitätsstiftende Funktion im Verband als auch die politische Wirksamkeit dieses Amtes. Gelungen ist auch, mit dem Caritaskongress einen Ort der Begegnung im Verband und mit der Politik zu schaffen.
Die kirchliche Grundordnung und die Kirchlichkeit der Mitarbeitenden haben sich als Thema durch Ihre Amtszeit gezogen. Wo standen wir 2003 und wo stehen wir heute damit?
Ich bin froh, dass es gelungen ist, die Fixierung auf die einzelne Person und deren Lebensführung in den Loyalitätsobliegenheiten mindestens teilweise zu überwinden. Dies ist nicht nur vor dem Hintergrund einer immer vielfältiger und säkularer werdenden Gesellschaft notwendig geworden. Für mich hatte dies vor allem auch theologische Gründe: Loyalität muss sich an dem jeweiligen Dienst oder der Einrichtung und deren letztlich kirchlichem Sen[1]dungsauftrag orientieren. Es muss deutlich werden, wofür "Caritas" steht und welche Anforderungen an Mitarbeitende damit verbunden sind. Es geht darum, wie es gelingen kann, der christlichen Botschaft von einem menschenfreundlichen Gott ein Gesicht zu geben. Dies schließt ein, dass unsere Antwort so vielfältig sein kann wie das Leben selbst. Dennoch ist noch einiges zu tun. Bisher ist es noch nicht genügend gelungen, diesen institutionellen Ansatz vollständig ins Arbeitsrecht zu "übersetzen".
Gewerkschaften wie Parteien hinterfragen zunehmend den arbeitsrechtlichen Sonderweg der Kirchen. Ist er überholt?
Das kirchliche Arbeitsrecht wird immer auf gesellschaftliche Veränderungen reagieren müssen. Wenn unsere Gesellschaft vielfältiger und säkularer wird, führt dies zwangsläufig zu Anfragen und Kritik. Von daher werden die Kirchen und ihre Wohlfahrtsverbände immer wieder erklären müssen, warum ein eigener Weg beim Arbeitsrecht sinnvoll ist. Schließlich erleben wir in vielen anderen Ländern, dass es auch ohne eigenes Arbeitsrecht möglich ist, als Caritas tätig zu sein. Ich halte einen eigenen Weg beim Arbeitsrecht aber nach wie vor für sinnvoll. Er verdeutlicht, dass es bei unserer Arbeit auch um ein anderes Miteinander geht. Stichwort dafür ist die Dienstgemeinschaft. Die paritätisch besetzten Kommissionen leisten eine gute Arbeit und haben in der Vergangenheit für gute Arbeitsbedingungen gesorgt. Eine mehr als 90-prozentige Tarifbindung spricht für sich. Warum sollte etwas abgeschafft werden, was gute Ergebnisse hervorgebracht hat? Zudem sehe ich die Gefahr, dass dann angesichts einer hohen Zahl kleiner Caritas-Rechtsträger nicht der Zweite Weg, sondern der Erste Weg das dominierende Modell der Arbeitsrechtsgestaltung werden könnte. Das aber kann von unserer sozialethischen Orientierung her nicht gewollt sein.
Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege sowie einige DCV-Fachverbände residieren in Berlin. Hat der DCV hier etwas verschlafen?
Dass Freiburg nicht im Zentrum der politischen Debatten ist, ist nicht neu. Bereits 1919 wurde eine Hauptstadtvertretung des DCV gegründet. In den 1990er- und 2000er-Jahren wurde intensiv darüber diskutiert, ob die Zentrale umziehen sollte. Man hatte sich damals für eine Stärkung des Berliner Standortes zusammen mit der Vertretung in Brüssel entschieden. Von beiden Entscheidungen profitieren wir heute. Nicht nur mehr und gut arbeitendes Personal, auch das Haus der Caritas in zentraler Lage prägen seither die Präsenz in Berlin. Dennoch ist es ein dauerhafter Prozess, darüber zu diskutieren, wie die politische Arbeit intensiviert werden kann. Auch eine personelle Verstärkung des Berliner Büros ist themenbezogen immer wieder von neuem zu entscheiden. Dennoch glaube ich nicht, dass ein kompletter Umzug sinnvoll wäre. Gibt es doch viele Aufgaben, die wir sehr gut von Freiburg aus leisten können und für die Berlin keinen Standortvorteil brächte. Der größte Teil der caritativen Einrichtungen liegt außerdem im Westen und Süden unseres Landes - und auch das kirchliche Zentrum liegt für uns nicht in Berlin. Außerdem genießt die Bundeszentrale des DCV in Freiburg sowohl beim Erzbistum Freiburg als auch bei der Stadt Freiburg eine hohe Anerkennung - und das sind keine unwesentlichen Standortfaktoren. Zudem müssen in einem föderalen Land nicht alle bundesweiten Institutionen in Berlin ansässig sein.
Ja, es stimmt, dass gerade Einrichtungsfachverbände verstärkt in eigenes Lobbying investieren, da sie auf der politischen Bühne gewichtige Gegenspieler vorfinden. Soweit diese Maßnahmen in Zusammenarbeit mit unserem Berliner Büro den Einfluss der Caritas und ihrer Einrichtungen in fachpolitischen Debatten stärken, sind diese Entwicklungen zu begrüßen. Wir müssen aber alles dafür tun, dass der DCV auch in Zukunft bei grundsätzlichen Themen als eine sozialpolitisch konsistente Stimme gegenüber der Politik wahrgenommen wird.
In den Verbänden haben an der Spitze inzwischen häufig Ökonomen die Theologen abgelöst. Wie bewerten Sie das?
Der DCV war schon immer Teil unterschiedlicher Lebenswelten. Er ist Teil der Kirche, aber auch eines Sozialstaates, der seit den 1990er-Jahren vermehrt auf marktwirtschaftliche Prinzipien setzt, um soziale Leistungen zu organisieren. Von daher ist es auf den ersten Blick nicht verwunderlich, dass es in den vergangenen Jahrzehnten zu einer auch wirtschaftlichen Professionalisierung gekommen ist. Es ist aber weiterhin wichtig, darüber zu diskutieren, wie die Caritas als Teil und Ausdruck des kirchlichen Selbstverständnisses auch unter diesen Bedingungen ihr kirchliches Profil schärfen kann. Dazu gehört es wesentlich, dass eine Verbandsleitung über theologische und ethische Kompetenzen verfügt, die sie in die (sozial-)politische Debatte einbringt, und umgekehrt: dass diese Themen wiederum in der Theologie und der Kirche zur Sprache gebracht werden. Denn caritative Arbeit ist nicht nur Ausdruck von Glauben, sie kann Glauben, Theologie und kirchliches Handeln auch prägen, bereichern und verändern.
Die Finanzierung der Verbandszentrale war Dauerthema in Ihrer Amtszeit. Kirchliche Mittel wurden gekürzt, andere Mittelakquise wird immer wichtiger. Sind hierdurch das souveräne Handeln der Caritas und das Subsidiaritätsprinzip gefährdet?
Dass die Mitgliederzahlen der Kirchen in Deutschland sinken, ist eine Realität, an der wir genauso wenig vorbeikönnen wie an der Niedrigzinsphase. Dadurch ist es wichtiger geworden, andere Wege zur Finanzierung der Arbeit zu finden. Auch wollen Geldgeber zunehmend wissen, wie Geld eingesetzt wird und welchen Effekt die finanzierte Arbeit hat. Dies zeigt sich gerade bei öffentlichen Geldgebern. Dass die subsidiäre Struktur unseres Sozialstaates keine Selbstverständlichkeit ist, hat sich in den letzten Jahren immer wieder gezeigt. Beispielsweise, als die Wohlfahrtsverbände in der vergangenen Legislaturperiode nicht in der Kommission Gleichwertige Lebensverhältnisse berücksichtigt wurden - und das, obwohl sie ein zentraler Teil der Daseinsvorsorge sind. Umso wichtiger ist es, vonseiten der Wohlfahrtsverbände immer wieder deutlich zu machen, dass sie wichtige zivilgesellschaftliche Organisationen der öffentlichen Daseinsvorsorge sind - mit eigenen politischen Ideen und Konzepten.
Was war in den 18 Jahren schmerzlich oder enttäuschend?
Unabhängig von konkreten Ereignissen ist es immer wieder enttäuschend zu erleben, wenn Hilfe an ihre Grenzen kommt und Menschen nicht geholfen werden kann. Dies gilt für die soziale und sozialpolitische Arbeit in Deutschland genauso wie für die Not[1]und Katastrophenhilfe in Krisengebieten. Für Letzteres steht dafür im Moment sicher das politische Desaster in Afghanistan. Schmerzlich für mich ist es, dass das Thema sozial gerechter Klimaschutz (zu) lange im Verband wenig Resonanz gefunden hat. Aber das ändert sich ja im Moment - immerhin!
Waren Sie vor Freude auch mal richtig "aus dem Häuschen"?
Bei einer Innovatio-Preisverleihung, als mir eine Preisträgerin einfach spontan um den Hals gefallen ist. Oft waren es spontane und ungeplante Momente in der Begegnung mit Menschen: ganz nah und weit weg bei Auslandsreisen, wenn ich die Arbeit der weltweiten Caritas erleben durfte.
Steigende Privatverschuldung
Inklusive Gesundheitsversorgung für alle
Zu wenig Wohnraum – zu viel Konkurrenz
Verbesserungen für vulnerable Menschen
Gut fürs Klima: Kapital nachhaltig anlegen
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