Das Bildungs- und Teilhabepaket muss bekannter werden
Zum zehnjährigen Bestehen des Bildungs- und Teilhabepaketes (BuT) zeigt eine Caritas-Umfrage ein differenziertes Bild: Während sich das gemeinschaftliche Mittagessen etabliert hat, sind die Konflikte bei der Lernförderung programmiert. Die gesetzlichen Vorgaben müssen reformiert und die Leistungen besser bekanntgemacht werden, damit sie verlässlich bei allen Familien ankommen.
Im Frühjahr 2021 feiert das Bildungs- und Teilhabepaket seinen zehnten Geburtstag. Der Gesetzgeber hatte diese Leistungen in das SGB II eingefügt, nachdem das Bundesverfassungsgericht festgestellt hatte, dass der existenzielle Bedarf von Kindern und Jugendlichen nicht abgedeckt sei.1 Im Februar 2021 hat der Deutsche Caritasverband (DCV) in seinen Einrichtungen und Diensten nachgefragt, welche Erfahrungen die Praxis mit der Umsetzung dieser Leistungen macht.2 Die Ergebnisse sind zwar nicht repräsentativ, zeigen aber deutlich, an welchen Stellen auch nach zehn Jahren noch Handlungsbedarf besteht.
Insgesamt haben 241 Einrichtungen und Dienste an der Umfrage teilgenommen;3 die meisten Antworten kamen aus NRW, Hessen, Baden-Württemberg und Bayern.
Von Anfang an war das Wissen um die BuT-Leistungen ein wunder Punkt. Es ist von entscheidender Bedeutung, wie die Berechtigten davon erfahren. Hier kommt laut der Umfrage der Beratung in den Einrichtungsstellen eine hohe Bedeutung zu, mehr als zwei Drittel der teilnehmenden Einrichtungen und Dienste sehen sich als Türöffner. Die Jobcenter beziehungsweise andere Leistungsträger nehmen zusammen mit der Mundpropaganda den zweiten Rang ein, so die Einschätzung eines Drittels der Umfrageteilnehmenden.
Ausflüge und Klassenfahrten: unterschiedliche Erfahrungen
Im Hinblick auf Schul- und Kita-Ausflüge oder Klassenfahrten ergeben die Ergebnisse der Umfrage kein einheitliches Bild. Einerseits machen Berater(innen) die Erfahrung, dass die Familien gut informiert sind und auch Schulen und Kitas das Prozedere kennen. Bei Vorlage der Ausschreibungen beziehungsweise der Belege werden die Aufwendungen in tatsächlicher Höhe übernommen beziehungsweise erstattet. Andere berichten dagegen von aufwendigen und langwierigen Antragsverfahren, die entgegen der aktuellen Gesetzeslage immer noch durchlaufen werden müssen. Bei langen Bearbeitungszeiten oder kurzfristig angesetzten Ausflügen müssen Eltern in Vorleistung treten, was viele nicht können. Außer dem Aufwand scheuen Familien das "Outing". Bei Familien im Bezug von Wohngeld oder Kinderzuschlag gibt es häufiger Probleme aufgrund der Zuständigkeiten der Behörden.
Ausstattung mit persönlichem Schulbedarf reicht nicht
Die Mehrheit der Befragten (74 Prozent) bestätigten eine problemlose Auszahlung, kritisiert wird aber die Höhe der Pauschale (154,50 Euro im Jahr), die nie (44 Prozent) beziehungsweise nur manchmal ausreiche (43 Prozent). Nur 13 Prozent halten den Betrag für genügend. Insbesondere bei der Einschulung und dem Wechsel auf die weiterführende Schule fallen nach den Rückmeldungen der Caritas-Berater(innen) deutlich höhere Kosten an. Gerade in der Corona-Zeit sind Familien mit mehreren Kindern einer höheren finanziellen Belastung ausgesetzt (wie durch Kopien oder Arbeitsmaterialien). Es gibt zudem trotz der geänderten Härtefallklausel immer noch Probleme bei der Gewährung von digitalen Geräten, die für das Lernen zu Hause benötigt werden.⁴ Klient(inn)en wissen oft nicht, dass der Schulbedarf in anderen Leistungsgesetzen (zum Beispiel Bundeskindergeldgesetz, BKGG, Wohngeldgesetz, WoGG) extra beantragt werden muss. Im Gegensatz zum SGB II ist der Bedarf dort nicht verlässlich sichergestellt.
Schülerbeförderung: Interpretationsspielraum
Die Caritas-Berater(innen) machen mehrheitlich die Erfahrung, dass diese Leistung unproblematisch gewährt wird. Schwierigkeiten treten vor allem bei der Interpretation des Merkmals "nächstgelegene Schule des gewählten Bildungsgangs" auf. Obwohl das SGB II ein Wahlrecht für Schüler(innen) beziehungsweise Eltern bezüglich der Schulform vorsieht, berichten die Beratungsstellen, dass die aufgrund besonderer inhaltlicher Ausrichtung gewählte Schule nicht als nächstgelegene akzeptiert werde.
Lernförderung: mangelhaft
60 Prozent der 105 Umfrageteilnehmenden halten die Angebote der Schulen für unzureichend beziehungsweise nicht existent. Nur vier Prozent halten sie für ausreichend. Dies zeigt einen großen Aufholbedarf der Schulen beziehungsweise Länder. Daher kommt der nachrangigen Lernförderung eine wesentliche Bedeutung zu. Die erforderlichen Kommunikationsschleifen zwischen Familie, Schule, einzelnen Lehrer(inne)n und Jobcenter sind nach den Erfahrungen der Beratungsstellen häufig so zermürbend und langwierig, dass viele Leistungsberechtigte jedoch von vornherein auf dieses Hilfeangebot verzichten. Auch die mancherorts geforderten drei Kostenvoranschläge unterschiedlicher Anbieter schreckten die Familien ab. In der Umfrage wurde bedauert, dass niedrigschwellige Angebote zur Hausaufgabenbetreuung oder "Schüler helfen Schülern" nicht berücksichtigungsfähig seien.
Auch wenn es gelingt, den Bedarf nachzuweisen, treten weitere Schwierigkeiten auf: Lange Bearbeitungszeiten und rückwirkende Leistungsbewilligung hätten zur Folge, dass Nachhilfestunden verfallen. Eine längerfristige, kontinuierliche Unterstützung sei wegen mehrmaliger Bewilligungen faktisch nahezu ausgeschlossen.
Mittagessen in Schulen und Kitas gut eingespielt
Die Umfrage zeigt, dass diese Leistung gut etabliert ist, in 98 Prozent der Antworten klappt die Leistungsgewährung immer beziehungsweise manchmal gut. Das "BuT-Mittagessen" wird von den Beratungsstellen als sinnvolles, wichtiges Angebot gelobt und kann einfach beantragt werden.
Dieses erfreuliche Ergebnis wird jedoch durch Corona getrübt. Aufgrund von Gesundheitsschutzmaßnahmen zur Bekämpfung der Covid-Pandemie kann in Schulen, Kitas und Horten nicht gemeinsam gegessen werden. Die Praxis des Deutschen Caritasverbandes zeigt, dass die alternativen Wege der Bereitstellung wie Abholung oder Lieferung in vielen Lebenslagen unpraktikabel sind und Familien aus unterschiedlichsten Gründen nicht davon profitieren. Über 90 Prozent der Umfrageteilnehmer(innen) gaben an, dass das Mittagessen während der Schulschließung nicht in Anspruch genommen werden könne. Nur bei sieben Prozent der Rückmeldungen waren Lieferung beziehungsweise Abholung möglich.
Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben
Vier Prozent der Umfrageteilnehmer(innen) halten die Pauschale von 15 Euro für ausreichend, bei circa 23 Prozent trifft das manch[1]mal zu, 73 Prozent halten sie dagegen für nicht ausreichend. 77 Prozent der Antwortenden gaben an, dass Musikinstrumente, Fußballschuhe oder ähnliche Ausstattung nicht übernommen werden. Nur bei drei Prozent werden auch die Fahrtkosten zum Angebot erstattet. Die Kostenübernahme für Freizeiten und Ausleihgebühren von Instrumenten und Ähnlichem ist kaum bekannt. Angebote organisierter Freizeitgestaltung werden nur selten in Anspruch genommen. Zum größten Teil werden die Leistungen direkt an die Anbieter gezahlt oder als Gutschein erbracht. Was für einen Teil der Familien einen Vorteil darstellt, führt bei anderen zu Scham vor Stigmatisierung, so dass sie die Beiträge deshalb direkt aus ihrem Regelbedarf zahlen.
Sonstige Angebote manchmal nur nachrangig gewährt
Abschließend wurden die Berater(innen) nach Angeboten Dritter gefragt, die denen der BuT-Leistungen ähneln beziehungsweise sich mit ihnen überschneiden. Existieren solche Angebote, kann sich das auf die Inanspruchnahme des BuT auswirken. Genannt wurden städtische Familienpässe, kommunale Angebote im Bereich der Familienförde[1]rung und für Kinder mit Flucht- beziehungsweise Migrationshintergrund, Angebote von Kirchengemeinden, Kinderschutzbund, Rotary-Club, Stiftungen, Fonds, Bürgerstiftungen, Förderprogramme der Bundesländer, Fördervereinen an Schulen und sonstigen Vereine. Mitunter werden derartige Angebote nur nachrangig zum BuT gewährt. Einige Kommunen subventionieren das Mittagessen in Kitas, was die Kosten für alle Familien deutlich senkt.
Die Caritas sieht Handlungsdruck
Die Rückmeldungen aus der Praxis haben gezeigt, dass - trotz der Reformschritte - die persönliche Beratung durch die Leistungsträger verbessert werden muss. Das BuT muss nach wie vor besser bekanntgemacht werden, sowohl bei den Familien als auch bei Netzwerkpartnern wie Kindergärten, Schulen, kommunalen Ämtern oder Vereinen. Die Informationen müssen in einfacher Sprache und mehrsprachig verfügbar sein. Schließlich hat die Umfrage erneut das Spannungsfeld sichtbar gemacht zwischen Stigmatisierungsangst und dem Wunsch nach einer möglichst niedrigschwelligen Umsetzung durch Gutscheine und Direktzahlungen an die Anbieter von BuT-Leistungen, um überforderte Familien zu entlasten. Auch der DCV sieht hier - nicht zuletzt durch die Auswirkungen der Corona-Pandemie - Handlungsdruck und setzt sich für Verbesserungen ein.⁵
Anmerkungen
1. BVerfG, Urteil vom 9. Februar 2010 - 1 BvL 1/09 u. a., Rn. 190 ff.
2. Die Umfrage richtete sich insbesondere an Beschäftigungs- und Qualifizierungsträger, an die allgemeine Sozialberatung und Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, aber auch an sonstige Einrichtungen und Dienste der Caritas, die zum Bildungs- und Teilhabepaket beraten.
3. Bei allen Fragen (mit Ausnahme der Lernförderung) hat mindestens die Hälfte der Teilnehmenden eine qualitative Antwort gegeben. Die angegebenen Prozentangaben beziehen sich nur auf Antworten, die die Frage beurteilen konnten. Keine oder Antworten ohne Beurteilung wurden nicht miteinberechnet.
4. Aufgrund des "Gesetzes zur Ermittlung der Regelbedarfe und zur Änderung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch sowie weiterer Gesetze vom 09.12.2020" (BGBl. I, S. 2855) wurde unter anderem der Mehrbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II (Härtefallklausel) angepasst. Aufgrund der zum 1. Januar 2021 in Kraft getretenen Änderung des § 21 Abs. 6 SGB II ist nun unter bestimmten Voraussetzungen auch bei einmaligen unabweisbaren besonderen Bedarfen ein Zuschuss möglich. Die Bundesagentur für Arbeit (BA) hat daraufhin am 1. Februar 2021 eine fachliche Weisung zum § 21 SGB II für die Übernahme von digitalen Endgeräten zur Teilnahme am pandemiebedingten Distanz-Schulunterricht nach § 21 Abs. 6 SGB II erlassen.
5. BAGFW: Stellungnahme zum Starke-Familien-Gesetz vom 14. Februar 2019 (Kurzlink: https://bit.ly/2RcBy36 ); Stellungnahme zum Nationalen Reformprogramm 2021 (NRP) vom 26. Februar 2021 (Kurzlink: https://bit.ly/3ffyevV); DCV: Positionspapier "Caritas fordert Maßnahmen gegen ungleiche Bildungschancen - Versäumnisse werden in der Corona-Pandemie überdeutlich" vom 30. Juli 2020 (siehe neue caritas Heft 17/2020, Kurzlink: https://bit.ly/3y3q9TP ); DCV: Stellungnahme zum Sozialschutzpaket III vom 6. Februar 2021 (Kurzlink: https://bit.ly/3tEickI ); DV - Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V.: Vierte Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Umsetzung der Leistungen für Bildung und Teilhabe, 2020 (Kurzlink: https://bit.ly/2SGh3w1 )
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