Geflüchtete brauchen ein umfassendes psychosoziales Angebot
In Deutschland leben aktuell ungefähr 1,1 Millionen Flüchtlinge, viele von ihnen im laufenden Asylverfahren und mit ungesichertem Aufenthaltsstatus.1 Ein sehr hoher Anteil der in Deutschland schutzsuchenden Menschen hat im Heimatland und auf der Flucht Gewalt und Verluste erlebt und infolgedessen eine Traumafolgestörung entwickelt, häufig eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) mit einer hohen Komorbiditätsrate.2
Angekommen in Deutschland, befinden sich die Flüchtlinge nicht in Sicherheit. Eine unsichere Zukunft aufgrund laufender Asylverfahren, die große Angst vor potenziell lebensbedrohlichen Situationen im Heimatland bei Abschiebung, belastende Wohnsituationen und die Auseinandersetzung mit einer fremden Kultur sind zusätzliche Risikofaktoren für die Verschlechterung und weitere Chronifizierung einer psychischen Erkrankung.3
Dem entsprechend sehr hohen Bedarf an traumafokussierter Psychotherapie steht ein begrenzter Zugang zum Gesundheitsversorgungssystem gegenüber. Laut Öffnungsklausel § 6 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) können zwar längerfristige, unerlässliche medizinische Leistungen in den ersten 18 Monaten nach Einreise bei den Sozialbehörden beantragt werden.4 In der Praxis ergeben sich aber lange Zeiten bis zur Bewilligung eines Antrags und die Kostenübernahme nur für ein sehr begrenztes Stundenkontingent.5 Nach 18 Monaten besteht gemäß § 2 AsylbLG ein Anspruch auf Leistungen entsprechend der Sozialhilfe. Trotz des dann bestehenden Zugangs zur Regelversorgung erreichen nur wenige Flüchtlinge die psychotherapeutischen Praxen. Gründe sind lange Wartezeiten auf einen Therapieplatz und ein hoher administrativer Aufwand bei der Beantragung der Kostenübernahme für Sprach- und Kulturmittlung.
Um dieser eklatanten Versorgungslücke zu begegnen, bieten insgesamt 40 Psychosoziale Zentren (PSZ) in Deutschland Psychotherapie für traumatisierte Flüchtlinge an 6, so auch das Caritas Therapiezentrum für Menschen nach Folter und Flucht in Köln.
Verschüttete Geschichten finden
In der Arbeit mit traumatisierten Geflüchteten sind deren schmerzvolle Erfahrungen präsent. Das Leben ist gekennzeichnet durch Entwurzelung, Verluste, Beziehungsabbrüche und den Wegfall von Bedeutungen, die wir Menschen dem Leben zuschreiben. Die traumatischen Ereignisse bestimmen die Gefühle, die Gedanken, die Erinnerungen sowie das Handeln.
In der psychotherapeutischen Arbeit ist die Zeugenschaft des Erlebten wichtig, das Teilen und Mitfühlen sowie die Anerkennung des Leids. So unterstützen Berater(innen) die Klient(inn)en, die traumatischen Erinnerungen aushalten zu lernen und den Weg für mögliche Entwicklungsschritte zu bereiten. Es ist hier besonders wichtig, aufmerksam zuzuhören und darauf zu achten, wie die Menschen auf das Trauma reagiert und weitergelebt haben: Was ist der Person wichtig? In welchen Momenten hat das Trauma nicht das ganze Leben im Griff? In welchen Bereichen haben sich die Menschen einen wichtigen Aspekt ihres Lebens zurückerobert? An welchen Hoffnungen und Wünschen halten sie fest? Wie kämpfen sie für Gerechtigkeit, Respekt und Würde? Wie haben sie versucht, anderen Menschen zu helfen und diese zu schützen? - Dies sind Fragen, die eine Öffnung für neue Geschichten ermöglichen, die den Blick der Menschen auf ihr eigenes Leben erweitern.
Die Psychotherapie mit traumatisierten Flüchtlingen stellt sowohl die Klient(inn)en als auch die Psychotherapeut(inn)en in mehrfacher Hinsicht vor große Herausforderungen:
◆ Die Klient(inn)en zeigen oft ein kulturspezifisch anderes Krankheitsverständnis und Psychotherapie als Behandlungsmethode ist ihnen zunächst fremd.
◆ Traumafolgestörungen müssen in der kulturspezifischen Ausprägung verstanden werden und die Arbeit erfordert eine hohe interkulturelle Kompetenz und Sensibilität, auch in Bezug auf impliziten Rassismus und Diskriminierung.
◆ Äußere Sicherheit als Voraussetzung für eine Psychotherapie ist bei Flüchtlingen ohne sicheren Aufenthaltsstatus nicht gegeben. Die Wohnumgebungen in Gemeinschaftsunterkünften sind sehr belastend, konflikthaft oder auch gewaltvoll, was eine Reaktualisierung erlebter Traumata oder sogar eine Retraumatisierung bedeuten kann und das psychische Leiden verstärkt.
◆ Eine ausschließlich psychotherapeutische Hilfe reicht nicht aus. Flüchtlinge benötigen weitere, vor allem sozialarbeiterische und juristische Unterstützung (wie im Asylverfahren, in der Gesundheitsfürsorge, in Ausbildung und Beruf, beim Spracherwerb oder bei der Wohnraumsuche). Ein bedarfsorientiertes psychosoziales Angebot ist in den multiprofessionell besetzten psychosozialen Zentren gegeben, doch in der psychotherapeutischen Regelversorgung fehlt dafür das überprofessionelle Netzwerk.
◆ Bei der psychotherapeutischen Arbeit mit Flüchtlingen werden meist Sprach- und Kulturmittler(innen) hinzugezogen, die eine wesentliche Unterstützung für das Kulturverständnis sein können. Diese Triangulierung ist vielen Psychotherapeut(inn)en unvertraut und erweitert das therapeutische Setting.7
Trotz oder gerade wegen dieser Herausforderungen ist die therapeutische Arbeit mit Flüchtlingen sehr bereichernd, erweitert Perspektiven und Blickwinkel. Auch wenn die PSZ in Deutschland umfängliche Arbeit leisten, besteht ein hoher ungedeckter Bedarf an Psychotherapie und psychosozialer Unterstützung: Obwohl die PSZ im Jahr 2020 über 22.700 Klient(inn)en aus 76 verschiedenen Herkunftsländern psychosozial versorgt haben, mussten über 7600 Flüchtlinge aufgrund mangelnder Kapazitäten ohne perspektivisches Angebot abgelehnt werden.8 Es ist dringend für die Sicherung und den Ausbau der Ressourcen zu sorgen, um dem Bedarf nach psychosozialer Unterstützung für Flüchtlinge nachkommen zu können.
Anmerkungen
1. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Aktuelle Zahlen. Ausgabe September 2020. www.bamf.org
2. Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer - BAfF e.V. (Hrsg.): Identifizierung besonderer Schutzbedürftigkeit am Beispiel von Personen mit Traumafolgestörungen. Status quo in den Bundesländern, Modelle und Herausforderungen. Autor(inn)en: Felde, L. vom; Flory, L.; Baron, J., Berlin, 2020. Bozorgmehr, K.; Mohsenpour, A. et al.: Systematische Übersicht und "Mapping" empirischer Studien des Gesundheitszustands und der medizinischen Versorgung von Flüchtlingen und Asylsuchenden in Deutschland (1990-2014). In: Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz 5/2016, S. 599-620. Schröder, H.; Zok, K.; Faulbaum, F.: Gesundheit von Geflüchteten in Deutschland - Ergebnisse einer Befragung von Schutzsuchenden aus Syrien, Irak und Afghanistan. Berlin: Wissenschaftliches Institut der AOK, 2018 (siehe Kurzlink: https://bit.ly/33PA1mi )
3. Abdallah-Steinkopff, B.; Soyer, J.: Traumatisierte Flüchtlinge. Kultursensible Psychotherapie im politischen Spannungsfeld. In: Feldmann, R.E., Seidler, G.H. (Hrsg.): Traum(a) Migration. Aktuelle Konzepte zur Therapie traumatisierter Flüchtlinge und Folteropfer. Gießen: Psychosozial-Verlag, 2013, S. 137-166.
4. http://gesundheit-gefluechtete.info/
5. BAfF 2020, a. a.O.
6. Ebd.
7. Hobfoll, S. E.; Watson, P. et al.: Five Essential Elements of Immediate and Mid-Term Mass Trauma Intervention: Empirical Evidence. American Journal of Psychiatry 70 (4) Winter 2007, S. 283-315; Kizilhan, J. I.; Utz, K. S.; Bengel, J.: Transkulturelle Aspekte bei der Behandlung der Posttraumatischen Belastungsstörung. In: Feldmann; R.E.; Seidler; G.H. (Hrsg.), 2013, a. a.O., S. 261-280.
8. BAfF, 2020, a. a.O.
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