Mehr Einsatz von Politik und Vermietern für selbstbestimmtes Wohnen
Wohnen ist ein wichtiges gesellschaftliches Gut. Es beinhaltet nicht nur das Verweilen an einem Ort - vielmehr stillt es menschliche Grundbedürfnisse nach Geborgenheit, Erholung, Sicherheit und Privatsphäre. Die Möglichkeit des Wohnens bietet den Menschen einen Ort der eigenen Entfaltung und Individualität. Wohnen bedeutet für uns, unser Leben in einem geschützten Raum selbstbestimmt und unabhängig gestalten zu können.
Doch genau dieses selbstbestimmte und individuelle Wohnen ist in unserer Gesellschaft zu einem Privileg geworden und für viele längst keine Selbstverständlichkeit. In Deutschland fehlen nach einer aktuellen Studie des Eduard-Pestel-Instituts1 696.939 Wohnungen, in Baden-Württemberg sind es 125.000 Wohnungen. Dies ist mehr als die dreifache Jahresbauleistung. Noch eklatanter sind die Defizite im Bereich des sozialen Wohnungsbaus. Der Bestand der Sozialwohnungen in Deutschland befindet sich auf einem historischen Tiefstand - 2019 gab es in Deutschland rund 1,14 Millionen Sozialwohnungen, das sind 39.000 Wohnungen weniger als noch im Jahr zuvor.
Insbesondere für Menschen mit Behinderung ist die Wohnungsknappheit eine besonders hohe Belastung. Zwar haben Menschen mit Behinderung laut der UN-Behindertenrechtskonvention, die in Deutschland seit 2009 Bundesgesetz ist, das Recht auf eine selbstbestimmte Lebensführung, wodurch sie frei wählen dürfen, wo, wie und mit wem sie leben wollen. Allerdings erfahren sie durch fehlende Wohnangebote, Kostenvorbehalte der Sozialträger und viele Vorurteile immer wieder verschärfte Ausgrenzungen bei der Durchsetzung ihrer Rechte.
Um die aktuelle Wohnsituation von Menschen mit Beeinträchtigungen in Baden-Württemberg zu untersuchen, wurde das Eduard-Pestel-Institut in Hannover durch die Caritas Baden-Württemberg mit einer Studie zu diesem Thema beauftragt. Die Studienergebnisse, welche im Februar veröffentlicht wurden, beleuchten den aktuellen Wohnungsmarkt in Baden-Württemberg sowie die gesellschaftsstrukturellen Entwicklungen, aus denen sich klare Bedarfe und dringende Forderungen an politische Entscheidungsträger ergeben.
Großes Problem: Auslaufende Sozialbindung
Bis zum Jahr 2019 stieg der Mietwohnungsbestand in Baden-Württemberg auf rund 2,74 Millionen an, der Bestand der Sozialwohnungen verminderte sich dagegen auf gut 55.000 Wohnungen - das sind gerade mal zwei Prozent des Mietwohnungsbestandes. Die Studie zeigt auch auf, dass den vorhandenen 55.000 Sozialwohnungen aktuell über 800.000 armutsgefährdete Haushalte gegenüberstehen. Dazu kommen rund 24.000 Menschen mit Behinderung, die derzeit noch in Einrichtungen der Eingliederungshilfe leben und denen die Politik mit dem Bundesteilhabegesetz das Versprechen auf ein selbstbestimmtes Wohnen gegeben hat.
Eine wesentliche Ursache für die prekäre Wohnlage für benachteiligte Personengruppen liege, laut der Studie, in den auslaufenden Sozialbindungen, die nicht oder nicht vollständig durch neue Sozialwohnungen ersetzt wurden. Sofern keine neuen Bindungen durch Neubau, Modernisierungen oder den Ankauf von Belegrechten geschaffen werden, vermindere sich die Zahl der Sozialwohnungen bis 2030 um weitere 17.000 auf gut 38.000 Wohnungen. Der sich vergrößernde Wohnungsmangel und der gleichzeitige Rückgang an Wohnungen mit Mietpreis- und Belegungsbindung hat für die Randgruppen der Wohnungsnachfrage fatale Folgen. Für Menschen mit Behinderung sinken die Chancen, eine eigene Wohnung zu finden oder diese wechseln zu können, immer weiter.
Demografische Faktoren sind dafür verantwortlich, dass die Gesamtzahl von Menschen mit Behinderung in Baden-Württemberg von 1993 bis 2019 um 42 Prozent auf 955.000 Menschen angestiegen ist. Davon zählten 2019 fast 57 Prozent der schwerbehinderten Menschen zur Altersgruppe "65 Jahre und älter". Für diese Altersgruppe wird bereits seit vielen Jahren die Ausweitung des Angebots an barrierefreien Wohnungen gefordert, um das selbstbestimmte Wohnen in der eigenen Wohnung möglichst lange zu ermöglichen. Über die UN-Behindertenrechtskonvention und die Vision der Inklusion wächst gerade auch bei jungen Menschen mit Behinderung der Wunsch nach einem selbstbestimmten Wohnangebot immer mehr. Diese fordern zu Recht für ihre Zukunft entsprechende Wohnoptionen.
Doch trotz der Forderungen aus den vergangenen Jahren suchen Menschen mit Behinderung im Schnitt zwei Jahre oder länger nach einer geeigneten Wohnung. Für manche erfüllt sich dieser Wunsch nie. Diese langwierige und zermürbende Suche ist im Wesentlichen auf zwei Hindernisse zurückzuführen:
Nicht barrierefrei und keine Bushaltestelle
Das am häufigsten genannte Hindernis bei der Wohnungssuche sei - so die aus Trägern und Expert(inn)en bestehenden Interviewpartner(innen) aus der Studie - die Knappheit an geeignetem Wohnraum. Das Angebot an barrierefreiem oder -armem Wohnraum fällt dabei noch geringer aus. Hinzu kommt die schlechte Anbindung durch den öffentlichen Nahverkehr (ÖPNV) im ländlichen Raum. Aufgrund dessen kämen Wohnungen außerhalb größerer Städte nicht infrage, da die Mobilität von Menschen mit Beeinträchtigungen häufig eingeschränkt ist und sie auf ein gutes ÖPNV-Netz angewiesen sind. In den städtischen Gebieten hingegen sei die Knappheit an geeignetem Wohnraum vor allem preisbedingt. Es gestalte sich als äußerst schwierig, überhaupt Wohnungen zu finden, deren Miete sich innerhalb der Angemessenheitskriterien und den Sozialwohnungsstandards befinden.
Eine weitere Besonderheit, der Menschen mit Behinderungen bei der Wohnungssuche immer wieder begegnen, sei die fehlende Akzeptanz. Dieser Personenkreis tritt in Konkurrenz mit anderen Personen, die gleichfalls Anspruch auf sozialen Wohnraum haben und vorrangig durch die Kommune oder Privatvermieter(innen) mit Wohnraum versorgt werden. Immer wieder wird von Vorbehalten seitens der Vermieter(innen) berichtet. Oftmals überwiege die Sorge um den Umgang mit den Wohnräumlichkeiten, verlässliche Mietzahlungen oder das Zusammenleben innerhalb der Hausgemeinschaft. Das Thema Inklusion ist zwar in unserer Gesellschaft fester verankert als noch ein paar Jahre zuvor, dennoch kommt es häufig zu direkter und indirekter Diskriminierung aufgrund von Ängsten und Sorgen. Ohne die Unterstützung und Begleitung durch Betreuer(innen), professionelle Assistent(inn)en und Anbieter(innen) der Eingliederungshilfe, die häufig selbst als Zwischenmieter(innen) oder Bürge auftreten müssen, ist es für Menschen mit Beeinträchtigungen meist aussichtslos, eine Wohnung zu bekommen.
Mehr günstige und kleine Wohnungen erforderlich
Daraus ergeben sich folgende zentrale Forderungen an politische Entscheidungsträger: Durch die angespannten Wohnungsmärkte ändert eine Anpassung der Mietobergrenzen wenig. Vielmehr müssen dringend mehr Sozialwohnungen und kleine Ein- bis Zweizimmerwohnungen gebaut werden. Wohnungen in Neubauten ohne Sozialbindung kommen aufgrund der hohen Mieten nicht infrage. Es muss Wohnraum geschaffen werden, der (zumindest vorrübergehend) ausschließlich Menschen mit Behinderung zur Verfügung steht, um bestehenden Vorbehalten aufseiten der Vermieter(innen) und der Chancenlosigkeit dieser Personengruppe entgegenzuwirken. Hier könnten kommunale Quotenregelungen unter Einbindung der entsprechenden Interessenvertretungen hilf[1]reich sein. Denkbar wäre beispielsweise, dass fünf Prozent des kommunalen sozialen Wohnbestandes besonderen Bedarfsgruppen zur Verfügung gestellt wird, um über ein niedrigschwelliges und gleichzeitig transparentes Verfahren die entsprechenden Zugänge sicherzustellen.
Die Barrierefreiheit in der Wohnbauplanung und eine bessere ÖPNV-Anbindung müssen stärker berücksichtigt werden. Eine Durchmischung der Wohnangebote und eine räumlich gleichmäßigere Verteilung von Sozialwohnungen schafft Begegnungsräume für Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen und minimiert zugleich soziale Ausgrenzungen und Brennpunkte. Denn nur, wenn Begegnungen zur alltäglichen Normalität werden, gehen wir einen entscheidenden Schritt weiter in Richtung einer inklusiven Gesellschaft.
Anmerkung
1. Pestel Institut: Wohnsituation von Menschen mit Behinderung in Baden-Württemberg, Hannover, Dezember 2020. Die Studie ist abrufbar unter: www.stiftung-st-franziskus.de/wohnstudie
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