Corona und die Folgen für (benachteiligte) Jugendliche und junge Erwachsene
Die Coronavirus-Pandemie greift in das Leben aller Mitglieder unserer Gesellschaft ein. Junge Menschen sind auf ihrem Weg in das Erwachsenleben besonders betroffen. Schulschließungen, soziale Kontaktbeschränkungen in der Familie und mit Gleichaltrigen in Freizeit und Sport sowie eingeschränkte Orientierungsmöglichkeiten durch fehlende Praktika und der Rückgang von Ausbildungsplätzen haben in dieser sensiblen Übergangsphase der Verselbstständigung, Selbstpositionierung und Qualifizierung enorme Auswirkungen: auf (psychische) Gesundheit, Entwicklungsmöglichkeiten und soziale Beziehungen.
Die Praxiserfahrungen in der Caritas vor Ort zeigen auf, dass sich bereits bestehende Benachteiligungen und Entwicklungsrisiken durch die Pandemie weiter verstärkt haben und verstärken. Das ist besonders problematisch für alle, die ohnehin schon ein besonders hohes Armutsrisiko haben. Die Forschung zeigt, dass bereits vor der Coronapandemie jedes fünfte Kind in Armutslagen aufgewachsen ist. In der Altersgruppe der jungen Erwachsenen zwischen 18 und 24 Jahren ist das Armutsrisiko sogar noch höher, in dieser Altersgruppe ist jede(r) Vierte armutsgefährdet. Besonders problematisch ist dabei die Verfestigung von Armutslagen der jungen Menschen, die die Datenlage des 6. Armuts- und Reichtumsberichts aufzeigt.1 Ein hoher Anteil der Kinder, die in Armut aufwachsen, kann sich auch im jungen Erwachsenenalter nicht aus der Armut befreien. Diese Situation darf sich nicht noch weiter verschärfen. Mit höchster Priorität muss deshalb von Politik und Gesellschaft in der nächsten Legislaturperiode das Ziel verfolgt werden, die Teilhabechancen von Kindern und Jugendlichen zu verbessern.
Mit dem Format "Armutswochen" setzt der Deutsche Caritasverband (DCV) seit mehreren Jahren Impulse, um die verbandliche und öffentliche Aufmerksamkeit auf einen besonderen Aspekt von Armut und Ausgrenzung zu richten. Für das Jahr 2021 ruft der DCV gemeinsam mit seinen Gliederungen und Mitgliedern, namentlich gemeinsam mit seinen Fachverbänden Sozialdienst katholischer Frauen (SkF) und SKM Bundesverband auf, im Zeitraum zwischen dem Internationalen Tag zur Beseitigung der Armut (17. Oktober 2021) und dem Welttag der Armen der katholischen Kirche (14. November 2021) den Blick auf die Situation von (benachteiligten) Jugendlichen und jungen Erwachsenen in und nach der Pandemie zu richten.
Im Rahmen der Armutswochen werden vier Themen mit Nachdruck auf die politische Agenda gesetzt:
1. Chancengerechtigkeit in der Bildung verbessern.
2. Mit sozialer Infrastruktur psychischen Belastungen entgegenwirken und junge Menschen stärken.
3. Bedürfnisse und Interessen von Heranwachsenden berücksichtigen - Beteiligung ermöglichen.
4. Übergang Schule und Beruf absichern - Verselbstständigung materiell sicherstellen
Chancengerechtigkeit in der Bildung verbessern
Der aktuelle Bildungsbericht "Bildung in Deutschland"2 sowie Indikatoren der OECD3 bestätigen, dass die Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen in Deutschland - auch im internatinalen Vergleich - immer noch sehr stark von der sozialen Herkunft abhängen. So ist es für Jugendliche aus bildungsfernen Elternhäusern nur halb so wahrscheinlich, das Abitur zu erreichen (39 Prozent), wie für Jugendliche aus bildungsnahen Elternhäusern (81 Prozent).4 Die Praxiserfahrungen in der Caritas vor Ort zeigen, dass sich ohnehin schon vorhandene Benachteiligungen und Ungleichheiten durch die Coronapandemie weiter verschärfen. Dabei werden Jugendliche und junge Erwachsene in der Coronakrise in einer biografischen Übergangssituation besonders hart getroffen. Schulschließungen und das Homeschooling wirken sich auf das Erreichen von Bildungszielen erheblich aus. Grundsätzlich ist es eine zentrale Aufgabe des Bildungssystems, Lernrückstände nicht größer werden zu lassen, in der Zukunft abzubauen und auf Chancengerechtigkeit der Kinder und Jugendlichen in der Bildung hinzuwirken. In den letzten Monaten hat sich gezeigt, wie ungenügend das teilweise gelingt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es im Kontext der Coronapandemie sehr verschiedene Dimensionen von Ungleichheit sind, die eine strukturelle Benachteiligung von jungen Menschen bewirken: fehlende ökonomische und zeitliche Ressourcen in der Familie, nicht vorhandene deutsche Sprachkenntnisse, schlechter oder nicht vorhandener Netzzugang, regionale Schulschließungen, die unterschiedliche Qualität des Fernunterrichts, fehlende Medienkompetenz sowie der ausländerrechtliche Status und ein dadurch gegebenenfalls bedingter fehlender Zugang zu existenzsichernden Leistungen sowie zu Bildungs- und Teilhabeangeboten sind nur einige Punkte, die hier zu nennen sind.5
Der Deutsche Caritasverband fordert im Rahmen der Armutswochen 2021, bildungspolitische Lösungen zur Bewältigung der Coronapandemie für benachteiligte junge Menschen noch stärker in den Blick zu nehmen. Hierfür sind die Bedarfe junger Menschen zielgenau zu erfassen. Das bedeutet, dass neben den relevanten Akteuren wie Schulen, Kommunen und Trägern von Angeboten insbesondere auch die jungen Menschen selbst von Anfang an in die Bedarfserhebung und Planung mit einbezogen werden müssen. Die dringend notwendigen Maßnahmen müssen auf Chancen- und Verwirklichungsgerechtigkeit in der Bildung ausgerichtet sein. Zentrale Themen sind dabei die Digitalisierung der Bildung und digitale Teilhabe sowie individuelle Lernförderung und die Sicherstellung dieser Leistungen für alle Kinder und Jugendlichen.
So ist es erforderlich, dass Schulen in die Lage versetzt werden, allen Kindern und Jugendlichen (unabhängig vom Einkommen der Kinder und ihrer Familien und auch vom ausländerrechtlichen Status) Zugang zu digitalen Endgeräten und technischem Support zu verschaffen. Der DCV fordert in diesem Kontext eine mit den Schulen koordinierte Regelung im Bildungs- und Teilhabepaket (BuT). Es sollen (nicht ausschließlich) Kinder im SGB II digitale Endgeräte und Zubehör rechtssicher erhalten, wenn Schulen dazu nicht zeitnah in der Lage sind.
Neben der Digitalausstattung der Schulen und der Digitalkompetenz der Lehrer(innen) muss auch die digitale Transformation in der Kinder- und Jugendhilfe vollzogen werden. Die Caritas schließt sich den aktuellen Forderungen des Bundesjugendkuratoriums nach einem Digitalpakt Kinder- und Jugendhilfe an, damit Teilhabe und Partizipation von jungen Menschen auch in Einrichtungen und mit Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe gefördert werden: Gestärkt werden müssen die digitale Ausstattung (Hard- und Software), der Netzzugang, die Entwicklung digitaler und hybrider Konzepte zur Sicherung der Teilhabe und die Förderung der Chancengerechtigkeit für alle jungen Menschen
Die Caritas sieht grundsätzlich das schulische Bildungssystem vorrangig in der Pflicht, bei allen Schüler(inne)n auf einen Bildungserfolg durch gezielte und passgenaue Förderung hinzuwirken, allerdings werden die coronabedingten Lücken, die bei einigen jungen Menschen entstanden sind, in den nächsten Wochen und Monaten durch die Schule allein nicht zu schließen sein. Die außerschulische Lernförderung muss im BuT deshalb großzügiger anwendbar sein und darf nicht auf das Erreichen eines "ausreichenden Lernniveaus" begrenzt werden. Eine aktuelle Umfrage der Caritas zeigt hier in der Praxis akute Handlungsbedarfe: 6
Probleme gibt es an der Schnittstelle von Jobcenter und Schule, zum Beispiel wegen der Nachrangigkeit der Lernförderung gegenüber schulischen Angeboten, die oftmals aber als unzureichend oder nicht existent bewertet werden. Sichergestellt werden muss, dass Leistungsberechtigte zügig zu diesen Leistungen kommen. Berücksichtigungsfähig sollten auch niedrigschwellige Förderangebote zur Hausaufgabenhilfe sein. Weiter muss unabhängig von Alter und ausländerrechtlichem Status der Erwerb der deutschen Sprache und bei Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund gegebenenfalls auch der Erwerb einer nichtdeutschen Muttersprache gefördert werden.
Darüber hinaus ist eine systematische Kooperation zwischen Jugendhilfe und Schulsystem notwendig. Dafür ist es wichtig, die Schulsozialarbeit (beziehungsweise die Jugendsozialarbeit an Schulen (JaS) - Landesprogramm in Bayern) flächendeckend auszubauen, abzusichern und ihre Rolle an Schulen zu stärken, damit sie ihren wichtigen präventiven Beitrag leisten kann: Junge Menschen sind am Lern- und Lebensort Schule in ihrer individuellen, sozialen und schulischen Entwicklung zu fördern und schulmüde junge Menschen gezielt in Angebote der schulbezogenen Jugendsozialarbeit zu vermitteln.
Die Leistungen und Angebote der Kinder- und Jugendhilfe müssen von Anfang an auch Kindern und Jugendlichen im Asylverfahren offenstehen. Der Leistungszugang ist dabei unabhängig davon zu gewähren, ob die anspruchsberechtigte Person in einer Erstaufnahmeeinrichtung, einer Gemeinschaftsunterkunft oder einer Wohnung untergebracht ist - vorausgesetzt, sie verfügt über einen Ankunftsnachweis oder eine Aufenthaltsgestattung. Aus Sicht des Deutschen Caritasverbandes kann das Corona-Aufholpaket der Bundesregierung dazu beitragen, die Folgen der Pandemie für junge Menschen abzumildern. Jedoch ist der Horizont bis 2022 deutlich zu kurz gegriffen.
Mit sozialer Infrastruktur psychischen Belastungen entgegenwirken und junge Menschen stärken.
Junge Menschen dürfen und wollen nicht nur als Schüler(innen) wahrgenommen werden, sondern mit dem breiten Spektrum ihrer Bedürfnisse und Interessen als heranwachsende Menschen. Die Etikettierung der Schulabgänger-Klassen als "Corona-Generation" mit Lücken und Defiziten empfinden viele junge Menschen als zusätzliche Zurückweisung.
Klar ist: Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen treffen Jugendliche in einer nach außen orientierten Lebensphase besonders hart. Die "Copsy"-Studie der Universität Hamburg, in der Kinder und Jugendliche selbst befragt wurden, zeigt auf, wie sehr sich die Pandemie auf die Lebensqualität und psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen auswirkt.7 Bei vielen befragten Kindern und Jugendlichen sind zunehmend Sorgen, Ängste, depressive Symptome und psychosomatische Beschwerden zu beobachten. Fast jedes dritte Kind zeigt ein knappes Jahr nach Beginn der Coronapandemie in Deutschland psychische Auffälligkeiten. Vor der Pandemie war jedes fünfte Kind psychisch belastet. 60,7 Prozent der in den JuCo-Studien ("Jugend und Corona") befragten jungen Menschen zwischen 15 und 30 Jahren gaben an, sich teilweise oder dauerhaft einsam zu fühlen.8 Deutlich stärker betroffen sind Kinder mit niedrigem sozioökonomischem Status oder Migrationshintergrund, insbesondere, wenn sie auf begrenztem Wohnraum leben. Auch in der täglichen Arbeit der Caritas wird deutlich, dass die Coronapandemie für junge Menschen mit Folgen wie Isolation, Einsamkeit und teilweise auch Depression einhergeht. Hier braucht es eine Kultur des Hinschauens, um auch zusammen mit den betroffenen jungen Menschen kreative Lösungen zu finden.
Vor diesem Hintergrund werden die Angebote der Erziehungs-, Familien-, Lebens- und Migrationsberatung sowie der Jugendberatung und die Begleitung von Familien stark nachgefragt, insbesondere in digitaler Form. Andere Angebote, etwa der Jugendmigrationsdienste, blieben durch kreative Angebotsformen übers geöffnete Fenster oder als Spaziergangsberatung erreichbar. Die Nachfrage ist deutlich größer als die Beratungskapazität. Aber nicht für alle jungen Menschen ist der digitale Zugang (gleich gut) geeignet. Deswegen ist es wichtig, die Präsenzberatung, die Sprachhürden nonverbal überwinden kann, zu erhalten und die digitale Beratung (mit Dolmetsch-Tools) weiter auszubauen. Hierfür sind Fördermöglichkeiten über kommunale Grenzen und Rechtsbereiche hinweg niedrigschwellig zu schaffen, damit der Zugang unabhängig von der Postleitzahl und Sprache für alle Ratsuchenden gewährleistet werden kann und schleichende Entkopplungsprozesse junger Menschen vermieden werden.
Die Caritas hat neue Angebote entwickelt, die auf die Herausforderungen und psychischen Folgen der Pandemie reagieren und Einsamkeit entgegenwirken sollen. Im Angebot "Gemeinsam statt einsam" (#gemeinsamstatteinsam), das als Ergänzungsangebot für die Beratung für suizidgefährdete junge Menschen der Caritas ([U25]) seit Mai 2020 angeboten wird, übernehmen gleichaltrige ehrenamtliche Krisenberater(innen) Lotsenfunktion auf Augenhöhe und stehen als feste Ansprechpersonen für Ratsuchende zur Verfügung. Gerade auch [U25] verzeichnete in der Krisenzeit eine starke Nachfrage und ist auch für die Zukunft wichtig. Deshalb müssen entsprechende Angebote nun verstetigt und dauerhaft finanziert werden.
Insgesamt ist ein Monitoring langfristiger Folgen der Pandemie für Kinder und Jugendliche erforderlich. Die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen muss zentrales Element eines partizipativen Pandemiemanagements und auch des postpandemischen Managements sein. Integrierte kommunale Handlungsstrategien zu Gesundheitsförderung und Prävention, auch kurz "Präventionsketten" genannt, bieten hier einen Lösungsansatz.9
Die JuCo-Studien zu den Erfahrungen junger Menschen während der Corona-Maßnahmen zeigen deutlich auf, dass sich durch die Pandemie bestehende Stärken und Schwächen in der Infrastruktur für junge Menschen potenzierten.10 Viele Ämter und Institutionen waren nur eingeschränkt oder gar nicht mehr persönlich erreichbar. Mitarbeitende niedrigschwelliger Angebote für junge Menschen in prekären Lebenslagen berichten übereinstimmend, dass sich viele junge Menschen zurückgezogen und die Hilfen nicht mehr in Anspruch genommen haben. Dabei kommt den Einrichtungen der Daseinsvorsorge und sozialen, diskriminierungssensiblen, nicht-ausgrenzenden Dienstleistungen eine hohe Bedeutung zu. Gute und bedarfsgerechte Zugänge zu sozialen Einrichtungen der Betreuung, Beratung und Bildung sowie Unterstützung und Hilfe für junge Menschen und ihre Familien überall in Deutschland sind zentral für die Überwindung von Armut und die Gestaltung von Teilhabe. Eine verlässliche Daseinsvorsorge und ein angemessenes Angebot sozialer Infrastrukturleistungen setzen eine auskömmliche Finanzausstattung aller Kommunen voraus, die dem Bedarf vor Ort gerecht wird. Das Netz der sozialen Daseinsvorsorge als essenzieller Bestandteil guter und gleichwertiger Lebensverhältnisse ist im Zusammenspiel von Bund, Ländern und Gemeinden in Verantwortungsgemeinschaft mit der freien Wohlfahrtspflege zu gestalten. Eine auskömmliche Finanzierung insbesondere von finanzschwachen Kommunen so sicherzustellen, dass diese ihrerseits die Leistungen der subsidiären Träger verlässlich refinanzieren können, ist deshalb eine besondere Herausforderung, die in der kommenden Legislaturperiode vorrangig gemeistert werden muss.
Im Bereich der sozialen Infrastruktur ist es wichtig, flächendeckend niedrigschwellige Angebote der Jugendsozialarbeit vorzuhalten, etwa Beratungsstellen und sozialpädagogische Begleitangebote. Die Kommunen müssen hier ihrem gesetzlichen Auftrag nachkommen. Angebote der Jugendsozialarbeit sind in ausreichendem Umfang zwingend in die Jugendhilfeplanung jeder Kommune aufzunehmen und deren Finanzierung ist abzusichern. Darüber hinaus sind niedrigschwellige aufsuchende Angebote der Jugendsozialarbeit für junge Menschen auszubauen, die aus dem Hilfesystem herauszufallen drohen oder sich von diesem bereits abgewandt haben (sogenannte entkoppelte junge Menschen). Um diese Menschen zu erreichen, sie auf dem Weg zu einer selbstbestimmten Lebensplanung zu unterstützen und deren gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen, muss eine verlässliche sozialpädagogische Begleitung und Beratung durch aufsuchende und mobile Jugendsozialarbeit sichergestellt und gestärkt werden. Die beteiligten Leistungsträger müssen in der Arbeit mit den jungen Menschen rechtskreisübergreifende Hilfen anbieten und eine Verantwortungsgemeinschaft für und mit diesen jungen Menschen bilden, um sie bedarfsgerecht zu unterstützen und gemeinsam Lebensperspektiven zu entwickeln.
Bedürfnisse und Interessen von Heranwachsenden berücksichtigen - Beteiligung ermöglichen
Kinder und Jugendliche sind bei allen sie betreffenden Entscheidungen bislang deutlich zu wenig beteiligt. Dies muss sich grundsätzlich ändern. Nicht nur mit Blick auf die Folgen der Pandemie müssen ihre Erfahrungen und Wünsche künftig wesentlich besser in Planungen einbezogen und ihre altersspezifischen Bedarfe berücksichtigt werden.11 Dabei muss die hinreichende Beteiligung von Jugendlichen mit Handicaps - aus sogenannten bildungsfernen Milieus, Jugendliche mit Migrationshintergrund, sozial benachteiligten Lebenslagen und Jugendliche mit Behinderung- sichergestellt werden. Ein wichtiger Schritt dabei ist es, junge Menschen selbst zu Wort kommen zu lassen. Die JuCo-Studien I und II zeigen auf, dass Jugendliche sich mehr Mitgestaltungsmöglichkeiten wünschen. Sie beklagen zum Beispiel, dass bei der Gestaltung der Infektionsschutzmaßnahmen über sie entschieden wurde und keine Beteiligung bei Aushandlungsprozessen stattgefunden hat.12 Beteiligungsformate ermöglichen und unterstützen das Erleben von Selbstwirksamkeit und Handlungsfähigkeit und sind damit essenziell für ein gutes Aufwachsen. Zudem nimmt mehr Beteiligung die Umsetzung von Kinderrechten ernst.
Der Deutsche Caritasverband fordert, dass die in der Jugendstrategie der Bundesregierung13 vorgesehenen Instrumente und Beteiligungsformen auch in der 20. Legislaturperiode gemeinsam von Bund, Ländern und Kommunen konsequent umgesetzt werden, um junge Menschen im Rahmen einer aktiven Jugendpolitik bei allen sie betreffenden Entscheidungen in Diensten und Einrichtungen sowie im Sozialraum nachhaltig und strukturell zu beteiligen. Junge Menschen müssen mit ihren Sorgen, Nöten, Bedarfen und Wünschen gehört und in Entscheidungsprozesse eingebunden werden, damit Maßnahmen nicht an ihren Bedürfnissen und Möglichkeiten vorbeigeplant werden. Dabei sollen beispielsweise auch Erfahrungen aus dem "Respekt"-Programm einbezogen werden, das im 6. Armuts- und Reichtumsbericht (ARB) als Erfolgsprogramm in Erinnerung gerufen wird.14 Ebenso sollen Erfahrungen von jungen Menschen mit Leistungen nach § 16 h SGB II15 oder mit dem ESF-Modellprogramm "Jugend stärken im Quartier"16 angesprochen und als Ausgangsbefund weiterführender Vorschläge genutzt werden.
Der DCV setzt sich für eine Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre ein. Junge Menschen in diesem Alter können zu politischer Partizipation ermutigt werden: Mit der Wahlbeteiligung kann erfahren werden, dass die Interessen junger Menschen einen Unterschied machen.
Übergang Schule und Beruf absichern - Verselbstständigung materiell sicherstellen
Verselbstständigung materiell sicherstellen Neben einem durchlässigen Bildungssystem ist der Zugang zum Ausbildungs- und Arbeitsmarkt entscheidend auf dem Weg der Verselbstständigung in eine eigenständige Existenzsicherung. Junge Menschen benötigen beim Übergang von der Schule in den Beruf Orientierung in Form von Beratung sowie Begleitung und Unterstützung. Da diese Angebote in der Pandemie teilweise weggefallen sind oder schwerer erreichbar waren, haben die Folgen der Coronapandemie junge Menschen in dieser häufig von Unsicherheit geprägten Zeit besonders hart getroffen. Eine Optimierung der Übergänge von der Schule in die berufliche Bildung ist deshalb besonders wichtig. Hierfür müssen Angebote der Berufsorientierung sowie der Berufseinstiegsbegleitung (BerEb) flächendeckend und bundesweit einheitlich geregelt an allen Schularten sichergestellt werden. Für benachteiligte Jugendliche mit komplexen Förderbedarfen sind insbesondere berufsfördernde Angebote wie Leistungen nach § 16h SGB II sowie aus dem SGB III und Angebote nach § 13 SGB VIII (Jugendsozialarbeit) wichtig, damit der Weg ins Berufsleben mit passgenauen und individuellen Hilfen gelingt.
Das KombiPlus-Projekt für junge Menschen im SGB-II-Bezug von IN VIA zeigt, dass bei individuellen Beratungs- und Unterstützungsansätzen weniger Jugendliche aus den Hilfesystemen verloren gehen. Angesichts der Belastungen, die die Coronapandemie mit sich bringt, ist es wichtiger denn je, sicherzustellen, dass junge Menschen mit der Altersgrenze 18 Jahre nicht in Zuständigkeitskonflikte der Sozialleistungsträger geraten. Deshalb muss die Kooperation von Jugendhilfe, Jobcenter und Kommune weiter verbessert werden. Damit Jugendliche flächendeckend wirksame Förderungen erhalten, muss eine umfassende Hilfeplanung unter Beteiligung der Jugendlichen und der zuständigen staatlichen Institutionen sichergestellt werden. Rechtsansprüche müssen den Zugang zu allen notwendigen Förderinstrumenten (auch für Ausländer(innen) mit rechtmäßigem oder geduldetem Aufenthalt) garantieren. Dabei ist insbesondere die kontinuierliche sozialpädagogische Begleitung zu gewährleisten.
Handlungsbedarf besteht auch im Sanktionsrecht des SGB II. Abgeschafft werden müssen die verschärften Sanktionen gegen junge Erwachsene unter 25 und die Kürzung der Leistung für Unterkunft. Beide führen im schlimmsten Fall dazu, dass junge Menschen aus den Leistungssystemen herausfallen und auf der Straße landen.
In der Coronakrise zeigt sich, dass das aktuelle Angebot an Ausbildungsplätzen in vielen Branchen zurückgegangen ist. Verschiedene Prognosen gehen auch für die kommenden Jahre von einem Rückgang an Ausbildungsplätzen aus.17 Von sinkenden Ausbildungschancen besonders betroffen werden Jugendliche mit und ohne Hauptschulabschluss sein sowie Jugendliche mit Behinderung und unabhängig von den (durchschnittlich schlechteren) Leistungen Menschen mit Migrationshintergrund.
Der Fokus sozial- und arbeitspolitischer Maßnahmen muss vor diesem Hintergrund noch stärker auf die verschiedenen Gruppen benachteiligter junger Menschen gerichtet werden. Vorrang hat naturgemäß die Vermittlung in einen regulären Ausbildungsplatz. Dazu müssen auch die Angebote der berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahmen (BvB, § 51 SGB III) sowie der Einstiegsbegleitung (EQ, § 54 a SGB III) aufgestockt werden, um denjenigen jungen Menschen eine Perspektive zu eröffnen, die - auch infolge der Pandemie - einen Ausbildungsbeginn nicht ohne Unterstützung bewältigen können. Ergänzend muss das Angebot an außerbetrieblicher Berufsausbildung ausgebaut werden. Trotz der finanziellen Anreize für ausbildende Betriebe durch das Bundesprogramm "Ausbildung sichern" ist abzusehen, dass der Ausbildungsmarkt nicht allen ausbildungssuchenden Schulabgänger(inne)n eine Perspektive bieten wird. Eine außerbetriebliche Ausbildung kann ein verlässliches Angebot einer Vollzeit- oder auch einer Teilzeitausbildung bieten. Sie kann in außerbetrieblichen Einrichtungen (BaE) von Trägern der Jugendsozialarbeit geleistet werden, die dies bereits anbieten und als Brücke fungieren, um mit flexiblen Übergängen in eine betriebliche Ausbildung zu münden.
Und schließlich gilt es, die Angebote der Assistierten Ausbildung flexibel (AsA, § 74ff. SGB III) zu erhöhen, um den Erfolg einer regulären betrieblichen Ausbildung mithilfe sozialpädagogischer Begleitung auch für die jungen Menschen zu befördern, die im Verlauf zu "stolpern" drohen. Die freien Träger der Jugendhilfe können hier als bewährte Partner ihr vorhandenes Knowhow, bestehende Kooperationen und Netzwerke sowie professionelle sozialpädagogische Interventionen anbieten, um das bestehende Angebot bedarfsgerecht aufzustocken und somit vielen jungen Menschen und auch den Betrieben zum Ausbildungserfolg zu verhelfen.
Zudem ist die Absicherung der Ausbildungsabschlüsse zu verbessern. Ausbildungsverlängerungen müssen ohne bürokratische Hürden möglich sein, damit Abschlüsse nachgeholt werden können. Ebenso müssen hierfür verlässliche Beratungs- und Unterstützungsangebote für die jungen Menschen bereitgestellt werden.
Der Zugang zur Schule und beruflichen Ausbildung ist dabei unabhängig vom ausländerrechtlichen Status zu sichern. Altersgrenzen beim Zugang zur schulischen Bildung sollten Fluchtschicksale und andere migrationsgeprägte Lebensläufe berücksichtigen. Für Ausländer(innen), die mit einem Aufenthaltstitel, mit Aufenthaltsgestattung oder Duldung in Deutschland leben, ist von Anfang an der Zugang zu SGB-II- und SGB-III-Leistungen zu gewährleisten. Alle Ausländer(innen) mit rechtmäßigem oder geduldetem Aufenthalt, die ihren ständigen Wohnsitz in Deutschland haben, sollten Zugang zu Angeboten der Jugendsozialarbeit und zur Ausbildungsförderung nach dem Bafög erhalten.
Im Sinne der oben gestellten Forderungen begrüßt der Deutsche Caritasverband, dass der Europäische Rat am 8. Mai 2021 die Ziele des von der EU-Kommission vorgelegten "Aktionsplans zur europäischen Säule sozialer Rechte"18 bestätigt hat. Er fordert Deutschland und die Bundesländer auf, ambitionierte Ziele zu den EU-Kernzielen in den Bereichen Armut und soziale Ausgrenzung, Kompetenzen und Beschäftigung zu definieren und einen entsprechenden Beitrag zur europäischen Zielerreichung zu leisten. Der Aktionsplan enthält insbesondere auch im Hinblick auf Armut und Ausgrenzung von (benachteiligten) Jugendlichen und jungen Erwachsenen in und nach der Pandemie einige wichtige Unterziele, wie zum Beispiel die Vermittlung digitaler Kompetenzen durch Weiterbildungsmaßnahmen, die Reduzierung früher Schulabgänge sowie die Verbesserung der Beschäftigungsaussichten junger Menschen.19 Zur Unterstützung der Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte stehen finanzielle Mittel der EU zur Verfügung. Der DCV fordert Deutschland auf, die EU-Finanzierungsmöglichkeiten entsprechend zu nutzen.
Der Verselbstständigungsprozess junger Menschen muss neben Angeboten, die ihnen Perspektiven durch schulische und berufliche Teilhabe eröffnen, auch materiell abgesichert werden. Grundlage dafür ist die Ermittlung einer teilhabegewährleistenden Existenzsicherung für Kinder und Jugendliche. Dazu bedarf es einer einheitlichen, transparenten, konsequent sach- und realitätsgerechten Ermittlung und Umsetzung ihres Existenzminimums unter Beteiligung von Kindern und Jugendlichen mit Blick auf das, was für ein gutes Aufwachsen notwendig ist. Der DCV sieht die Bündelung einiger Leistungen für Kinder und Jugendliche als eine erfolgversprechende Stellschraube, um das Existenzminimum für alle Kinder und Jugendlichen (Kindergrundsicherung) hinreichend abzusichern. Ein solches kompakteres Leistungssystem darf dabei nicht zu neuen ausländerrechtlichen Hürden führen, indem sich der Nachweis der eigenständigen Lebensunterhaltssicherung im Aufenthaltsgesetz oder im Freizügigkeitsrecht an der Höhe der Kindergrundsicherung orientiert. Damit junge Menschen auch dann eine Ausbildung oder ein Studium absolvieren können, wenn sie durch ihre Familien nicht ausreichend unterstützt werden können, müssen die der Grundsicherung vorrangigen Ausbildungsfördersysteme (Bafög/BAB) bedarfsgerecht ausgestaltet und Deckungslücken bei der Finanzierung des Lebensunterhalts geschlossen werden.
Anmerkungen
1. Lebenslagen in Deutschland. Der Sechste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Langfassung S. 142 (Kurzlink: https://bit.ly/2WfaDFV ).
2. Vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung: Bildung in Deutschland 2020. Siehe dazu Kurzlink: https://bit.ly/3iS4bfL
3. Vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung: Bildung auf einen Blick 2018. OECD-Indikatoren. Paris, 2018. Siehe Kurzlink: https://bit.ly/3x98iJB
4. Vgl. auch Albert, M.; Hurrelmann, K.; Quenzel, G.: 18. Shell Jugendstudie. Jugend 2019. Eine Generation meldet sich zu Wort. Weinheim: Beltz, 2019.
5. Helbig, M.: Als hätte es Corona nicht gegeben - Bildungspolitische Reaktionen auf Schulschließung und Distanzunterricht. In: WZBrief Bildung 43, 2021
6. Vgl. Kranz, C.; Vogt, C.: Das Bildungs- und Teilhabepaket muss bekannter werden. In: neue caritas Heft 10/2021, S. 20 ff.
7. Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE): Child Public Health - Copsy-Studie, 2021 (Kurzlink: https://bit.ly/3f2AeZd).
8. Andresen, S. et al.: Das Leben von jungen Menschen in der Coronapandemie. Erfahrungen, Sorgen, Bedarfe. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung, 2021, S. 33 f. (Kurzlink: https://bit.ly/3BHqJZr)
9. Siehe neue caritas, Kurzlink: https://bit.ly/3BKcHGg; www.praeventionsketten-nds.de
10. Andresen, S. et al.: Die Corona-Pandemie hat mir wertvolle Zeit genommen. Jugendalltag 2020. Universitätsverlag Hildesheim 2020, S. 5 (Kurzlink: https://bit.ly/3x31eOp)
11. Vgl. Andresen, S. et al.: Nachteile von Kindern, Jugendlichen und jun[1]gen Erwachsenen ausgleichen. Universitätsverlag Hildesheim, 2020 (https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:gbv:hil2-opus4-11250).
12. Andresen, S. et al.: Die Corona-Pandemie hat mir wertvolle Zeit genommen. Jugendalltag 2020. A. a.O., S. 5
13. https://jugendstrategie.de
14. Vgl. 6. ARB, S. 264.
15. Vgl. 6. ARB, S. 265
16. Vgl. 6. ARB, S. 430.
17. Zentralverband des Deutschen Handwerks, https://bit.ly/372gEYL
18. Aktionsplan zur europäischen Säule sozialer Rechte, COM(2021) 102 final (Kurzlink: https://bit.ly/3BLR2gY)
19. Vgl. Stellungnahme des Deutschen Vereins zum Aktionsplan zur europäischen Säule sozialer Rechte und zur "Erklärung von Porto" (DV 11/21) vom 16. Juni 2021, Kurzlink: https://bit.ly/3x1QAaQ
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