Mit dem „Teilhabegeld“ Kinderarmut bekämpfen
Für einkommensschwache Familien sind finanzielle Maßnahmen der Familienpolitik oft ein Irrgarten, mit aufwendigen Antragsverfahren, komplizierten Bemessungsvorschriften und vielen Schnittstellenproblemen zwischen einzelnen Komponenten, die die Wirksamkeit vermindern.1 Große Hoffnungen richten sich derzeit auf die Einführung einer Kindergrundsicherung, die diese Schwächen überwinden soll. Wie so ein neues Instrument der Familienpolitik genau gestaltet werden soll, ist allerdings offen. Denkbar sind verschiedene Akzentsetzungen, die sich aus finanzpolischen Gründen nicht alle zugleich realisieren lassen. Das von der Bertelsmann-Stiftung entwickelte "Teilhabegeld" legt den Schwerpunkt dabei auf die Bekämpfung von Kinderarmut.
Vorschläge, bestehende Leistungen zu einer "Kindergrundsicherung" zu bündeln, kursieren seit rund 20 Jahren in Wissenschaft und Politik. Aus einer Vielzahl solcher Konzepte hat sich seit dem Jahr 2009 ein Modell herauskristallisiert, das von einem breiten "Bündnis Kindergrundsicherung" getragen wird.2 Daneben wurde in einem Projekt der Bertelsmann-Stiftung in den letzten Jahren das ähnlich angelegte Konzept eines "Teilhabegelds für Kinder und Jugendliche" entwickelt.3 Beide Konzepte wurden zuletzt in einer Arbeitsgruppe der Arbeits- und Sozialminister(innen) der Länder diskutiert, um Wege zur konkreten Umsetzung einer solchen Reform aufzuzeigen.
Gemeinsame Stärken, unterschiedliche Akzentuierung
Gemeinsam ist den Konzepten, dass sie mehrere existierende Instrumente ablösen sollen, insbesondere die SGB-II-Leistungen für Kinder, den Kinderzuschlag, das Bildungs- und Teilhabepaket sowie das Kindergeld. Der Begriff "Kindergrundsicherung" löst allerdings verschiedene Assoziationen aus, die auf unterschiedliche Gestaltungsmöglichkeiten verweisen. Ursprünglich gehörte er in den Kontext der Diskussionen über das gesamte System existenzsichernder Sozialleistun[1]gen für einkommensschwache Menschen. Diese Debatten haben zur Einführung einer Grundsicherung für Arbeitsuchende, alte oder erwerbsgeminderte Menschen geführt. Zugleich schwingt in dem Wort aber auch die Idee eines "Grundeinkommens" mit, das tendenziell einheitliche Leistungen für alle Adressat(inn)en bietet, hier zum Beispiel für alle Kinder.
Das Konzept des "Bündnisses Kindergrundsicherung" sieht vor, dass die neuen Leistungen für Kinder und Jugendliche mit dem Einkommen der Eltern reduziert werden, mit Anrechnungsmodalitäten, die zuletzt nochmals verändert wurden. Die Beträge je Kind sollen aber nie unter den maximalen Entlastungseffekt der einkommensteuerlichen Kinderfreibeträge sinken, der wegen der Steuerprogression mit dem Einkommen der Eltern steigt. Das Ziel, die Wirkungen kinderbezogener Maßnahmen bei mittleren und höheren Einkommen zu glätten, stand bereits hinter der Reform des Kindergelds im Jahr 1996, das seither für die Mehrzahl der Familien die steuerliche Entlastung ersetzt und, je nach Einkommen, auch einen gewissen Förderanteil enthält. Eine Erhöhung des Kindergelds, die die Effekte der Steuerfreibeträge selbst bei Spitzenverdiener(inne)n völlig überlagert, hat man aus finanziellen Gründen stets vermieden. Wenn dies bei der Einführung einer Kindergrundsicherung nun doch geschieht, entsteht die Gefahr, dass die Ausgaben wegen höherer Leistungen an Familien mit mittlerem Einkommen so hoch werden, dass die verstärkte Bekämpfung von Kinderarmut im politischen Prozess unter Druck gerät.
Das Konzept der Bertelsmann-Stiftung geht vom Ziel aus, das Existenzminimum von Kindern in einkommensschwachen Familien so zu decken, dass auch ihre soziale und kulturelle Teilhabe gewährleistet ist. Welche Geldbeträge dafür erforderlich sind, wird bisher offengelassen. Für illustrative Zwecke werden auf Basis von Zahlen für 2019 Werte genannt, die (inklusive Wohnkostenanteil) von 500 bis 600 Euro im Monat je Kind reichen.4 Festlegungen dazu soll es erst nach genauerer Erhebung der Bedarfe für ein "gutes" Aufwachsen geben, die auch partizipative Elemente enthält - das heißt eine Befragung von Kindern und Jugendlichen. Ab einer gewissen Einkommensgrenze werden die so ermittelten Beträge abgeschmolzen, etwa auf die bisherigen Kindergeldsätze oder sogar vollständig. Kinderfreibeträge, durch die einkommensstärkere Eltern unter dem geltenden Einkommensteuertarif im Vergleich zu Kinderlosen mit hohem Einkommen korrekt besteuert werden, bleiben bestehen.
Stellschrauben und Kosten
Wichtige Stellschrauben, um die jeweiligen Ziele unter Beachtung finanzieller Restriktionen zu erreichen, stellen in beiden Konzepten folgende Größen dar:
◆ der existenzminimale Bedarf von Kindern und damit die maximale Höhe der neuen Kindergrundsicherung
◆ die Einkommensgrenze, ab der diese Leistungen reduziert werden, und der Prozentsatz, mit dem dies bei weiter steigendem Einkommen geschieht;
◆ die Höhe eines etwaigen Sockelbetrags, der einkommensunabhängig für alle Kinder gewährt wird.
Erste Schätzungen besagen, dass das "Teilhabegeld" bei einem monatlichen Höchstbetrag von 600 Euro je Kind im Falle einer relativ raschen Reduktion jährlich rund elf Milliarden Euro höhere Ausgaben erfordert als die dadurch abgelösten Leistungen; bei langsamerer Reduktion ergeben sich Mehrausgaben von 24 Milliarden Euro. Vorausgesetzt ist dabei, dass das "Teilhabegeld" mit steigendem Einkommen ganz entfällt. Die Einführung eines Sockelbetrags in Höhe des Kindergelds steigert die Ausgaben der teureren Variante um etwa eine Milliarde pro Jahr, die Einführung eines Sockelbetrags in Höhe der maximalen Effekte der einkommensteuerlichen Kinderfreibeträge - wie im Modell des "Bündnisses Kindergrundsicherung" vorgesehen - sogar um acht Milliarden Euro.5
Zu beachten ist, dass die hier bezifferten Mehrausgaben gegenüber der günstigsten Variante immer auf Familien mit mittleren und höheren Einkommen entfallen und nichts mit einer verstärkten Bekämpfung von Kinderarmut zu tun haben, die bei einer Reform der Grundsicherung für Familien und Kinder im Mittelpunkt stehen sollte. Gerade daran muss am Ende aber gespart werden, wenn die Gesamtkosten einer Reform als zu hoch erscheinen und der Sockelbetrag durch das Steuerrecht vorgegeben wird.
Familien mit mittleren Einkommen werden in Deutschland in den Sozialversicherungen besonders belastet.6 Zielgenaue Lösungen dafür sollten eher bei den Beiträgen und Leistungen dieser Systeme ansetzen.
Vorrangig Kinderarmut bekämpfen
Um die Kosten einer Kindergrundsicherung genauer zu berechnen, sind Mikrosimulationen erforderlich. Diese berücksichtigen auch Verhaltensänderungen, vor allem bei der Erwerbstätigkeit, und deren Auswirkungen auf das Einkommen, wie sie das Ifo-Institut derzeit für das "Teilhabegeld" anstellt. Endgültige Aussagen zu den "Gewinnern" und "Verlierern" einer Reform setzen außerdem voraus, dass die Finanzierung der zu erwartenden Mehrausgaben festgelegt wird.
Die vorliegenden Konzepte einer neuen Kindergrundsicherung haben viele Gemeinsamkeiten und gemeinsame Stärken. Eine Bündelung existierender Leistungen für Kin[1]der in einkommensschwachen Familien beseitigt viele Intransparenzen und Schnittstellenprobleme. Sie schafft allerdings auch neue Schnittstellen, etwa zwischen der Grundsicherung für Kinder und für ihre Eltern, die sinnvoll gestaltet werden müssen.7 Entscheidend ist letztlich, die Ziele einer solchen Reform vorab klar zu formulieren - mit der wünschenswerten Priorisierung, Kinderarmut zu bekämpfen - und dies im Rahmen einer politischen Umsetzung nicht aus den Augen zu verlieren.
Anmerkungen
1. Vgl. etwa Achatz, J. et al.: Evaluation der bundesweiten Inanspruchnahme und Umsetzung der Leistungen für Bildung und Teilhabe. Göttingen/ Nürnberg, 2016; Bonin, H. et al.: Arbeitsangebotseffekte einer Reform des Kinderzuschlags. Bonn/ Mannheim, 2018 sowie BMFSFJ: Familienreport 2017. Berlin, 2017.
2. Vgl. die Website des Bündnisses mit zahlreichen Materialien (www.kinderarmut-hat-folgen.de )
3. Vgl. Expertenbeirat und Projekt Familie und Bildung: Konzept für eine Teilhabe gewährleistende Existenzsicherung für Kinder und Jugendliche. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung, 2017; Werding, M.; Pehle, S.: Das Teilhabegeld für Kinder und Jugendliche. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung, 2019
4. Vgl. erneut Werding, M.; Pehle, S., 2019
5. Die resultierende Summe von 32 Milliarden Euro im Jahr ergibt sich auch aus neueren Berechnungen des Instituts Zukunft der Arbeit (IZA) zu Mehrausgaben für das Bündnis-Modell gegenüber dem geltenden Recht (siehe Kurzlink: https://bit.ly/3B1Qza4 )
6. Vgl. Werding, M.: Familien in der gesetzlichen Rentenversicherung. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung, 2014
7. Vgl. Ott, N. et al.: Rechtliche Schnittstellen bei der Einführung einer Kindergrundsicherung. Im Auftrag des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales, NRW. Düsseldorf, 2020
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