Pflegerobotik – anders als gedacht
Viele aktuelle Projektansätze gehen von der Hypothese aus, die zum Beispiel in der Automobilindustrie vorhandenen Roboter müssten nur entsprechend trainiert werden, dann könnten sie in wesentlichem Umfang Dienstleistungen in der Pflege übernehmen. Dabei ist jedoch zwischen Robotern, Exoskeletten und Systemen zur Datengewinnung, -modifizierung und -analyse zu unterschieden.2
Roboter sind Maschinen oder Vorrichtungen, die eine bestimmte Tätigkeit "autonom" ausführen. Sie sind in der Lage, Muster zu erkennen, die eine bestimmte Reaktion auslösen, also zum Beispiel an bestimmten Stellen Schrauben eindrehen. Das gelegentlich menschenähnliche Design hat lediglich die Funktion, dass die Vorrichtung Vertrauen erwecken soll. Manche Systeme haben analog dem Kindchenschema einen überdimensionierten Kopf. Dadurch wirken sie niedlich und nicht bedrohlich, das soll die Akzeptanz erhöhen.
Zwei Herausforderungen zeigen, dass sich der Robotereinsatz in Pflegesituationen wesentlich von dem in der Automobilindustrie unterscheidet. Im Autobau geht es weitgehend um standardisierte Tätigkeiten, die praktisch ausschließlich in abgegrenzten Bereichen absolviert werden, um Unfälle mit Menschen zu vermeiden. Ingenieure programmieren die robotischen Systeme, indem sie sie auf gleichförmige Tätigkeiten trainieren. In der Pflege ist aber ein Zusammenwirken mit Mitarbeitenden und Patient(inn)en notwendig, und die Anforderungen wechseln ständig je nach Befindlichkeit, krisenhaften Entwicklungen und individuellen Bedürfnissen. Um darauf reagieren zu können, bedarf es einer ständigen Anpassung der Programmsteuerung, die auch durch Hilfskräfte jederzeit möglich sein müsste, was realitätsfremd wäre.
Zusammenspiel von Mensch und Maschine muss klappen
Die zweite Herausforderung ist die Kollaboration mit demenziell beeinträchtigten Menschen. Für einen Roboter ist es notwendig, dass die Menschen in der Umgebung ein Verhalten zeigen, das für ihn interpretierbar ist. Der/Die Patient(in) muss also wissen, wie der Roboter reagiert, um ein sinnvolles Zusammenwirken zu erreichen. Wer schon einmal beobachtet hat, welche Herausforderung Automatiktüren für Menschen mit Demenz darstellen können, kann ermessen, welche Entwicklungsschritte hier noch notwendig sind. Eine Sonderform sind hier Emotionsroboter wie die "Robbe Paro". Diese reagieren zwar auf differenzierte Sensorreize, können aber nur vordefinierte Reaktionen an den Tag legen, also keine autonome Leistung erbringen.
Experimentiert wird auch mit Exoskeletten. Dabei handelt es sich um Vorrichtungen, die Menschen bei körperlich anstrengenden Verrichtungen unterstützen, indem sie die Bewegungsabläufe analysieren und einen Teil des Kraftaufwandes ersetzen. In der Pflege sind aber ständig gleichförmige Bewegungen eher selten und in der Regel mit den Methoden der Kinästhetik beherrschbar, etwa das nächtliche Lagern von Patient(inn)en im Pflegeheim. Weil das Anlegen der Exoskelette relativ viel Zeit in Anspruch nimmt, stellen sie aktuell keine Alternative zum Beispiel zum Liftereinsatz dar. Sehr erfolgreiche Ansätze gibt es dagegen im Bereich der Rehabilitation, wo etwa Menschen mit einer Hemiparese (halbseitiger Lähmung) technisch unterstützt werden können, die Beeinträchtigung teilweise auszugleichen und so den Rehabilitationsprozess zu beschleunigen. Wenn die technischen Herausforderungen gelöst sind, werden auch noch ethische Fragen zu beantworten sein, die ja erst in konkreten Anwendungsszenarien deutlich werden.
Daten auswerten und zur Prophylaxe nutzen
Zunehmende Bedeutung gewinnen Systeme zur Datengewinnung, -modifizierung und -analyse mit erfolgversprechenden Ansätzen und einem beachtlichen Reifegrad. Beispielsweise werden in einer psychiatrischen Klinik Patient(inn)en nach einer schweren depressiven Episode, die aus der stationären Phase entlassen werden sollen, digital nachbetreut. Die Therapeut(inn)en nutzen den bekannten Zusammenhang zwischen Stimmung und Bewegung. Sinkt die Bewegung, sinkt auch die Stimmung; zugleich kann durch mehr Bewegung die Stimmung gesteigert werden. Die Patient(inn)en werden mit einem Schrittzähler ausgestattet und bekommen täglich einen Fragebogen zugeschickt, in dem sie ihre Stimmung angeben. Für die Therapeut(inn)en gibt es zwei Interventionspunkte: Sinken Schrittzahl und Stimmung, werden die Patient(inn)en angehalten, sich mehr zu bewegen, in der Hoffnung, dass sich damit auch ihre Stimmung verbessert; nimmt die Aktivität zu und sinkt gleichzeitig die Stimmung, deutet das auf ein gesteigertes Suizidrisiko hin. In diesem Fall wird entsprechend suizidpräventiv interveniert.
Es besteht die Hoffnung, dass dadurch die Intervalle zur Wiedervorstellung in der Institutsambulanz ausgedünnt werden können, wenn das System weiter ausgereift ist. Der Zusammenhang von Krankheitsausprägung und Bewegung ist auch bei anderen Diagnosen bekannt, etwa Diabetes Typ 2 und Adipositas. Durch gezielte Bewegung kann der Blutzuckerspiegel, insbesondere der Langzeitblutzuckerwert (HbA1c), beeinflusst werden. Hier sind im Bereich der privaten Krankenversicherung bereits Systeme im konkreten Einsatz. Die Plattformen, auf denen die Daten verarbeitet werden, sind mittlerweile in der Lage, bei Abweichungen von Sollwerten automatisch zu alarmieren beziehungsweise die Patient(inn)en zu informieren, wenn vordefinierte Sollwerte unteroder überschritten werden. So können Rezidive frühzeitig erkannt und Drehtüreffekte reduziert werden, weil eine intensivere und lückenlose Begleitung von Patient(inn)en nach Entlassung aus dem Krankenhaus möglich wird.
Ein weiterer großer Anwendungsbereich ist der Vitaldaten- und Informationstransfer zwischen Pflege und Hausarzt. Sowohl im hausärztlichen Bereich als auch in der Pflege ist ein zunehmender Fachkräftemangel zu beobachten. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, inwieweit der vorherrschende Personalmangel mit Hilfe von Softwaretechnologie in Verbindung mit Robotik bewältigt werden kann. Durch einen Transfer der erhobenen Vitaldaten (zum Beispiel Blutdruck, Blutzucker und Sauerstoffsättigung) zwischen beiden Akteuren können Synergien gehoben werden. Eine weitere Möglichkeit wäre zum Beispiel, dass das Pflegeheim ein EKG schreibt, wenn der vage Verdacht auf einen Herzinfarkt besteht. Dieses kann dann durch die Hausärztin oder den Hausarzt, gegebenenfalls im virtuellen Konsil mit Fachkolleg(inn)en, beurteilt und entsprechende Maßnahmen einleitet werden. Gerade im Pflegeheim kommt es regelmäßig zu Krankenhauseinweisungen, um einen Verdacht abzuklären, was sowohl für das System als auch für die Bewohner(innen) eine große Belastung darstellt.
Pflege und Medizin müssen besser zusammenarbeiten
Die größte Herausforderung liegt in diesem Zusammenhang nicht in den technischen Möglichkeiten, denn diese sind weitgehend gelöst, sondern in den dahinterliegenden starren Geschäftsmodellen, die ein breites Vitaldatenmonitoring für die Pflege unattraktiv machen. Wenn hier ein Durchbruch erzielt werden soll, ist es notwendig, dass Modelle entwickelt werden, wie sich Pflege und Medizin die Erlöse teilen können. Es ist wenig effektiv, wenn die Hausärztin oder der Hausarzt seine/ihre medizinische Fachangestellte losschickt, um Vitalwerte zu sammeln, die in der Pflege teilweise ohnehin zur Verfügung stehen oder leicht generiert werden können.
Zu den Pflegenden gehört auch das familiäre Umfeld. Etwa die Hälfte der Pflegebedürftigen wird weitgehend allein durch die Angehörigen gepflegt, ein weiteres Viertel durch Einbeziehung von Angehörigen. Unter diesem Aspekt ist es essenziell, die Pflegebereitschaft der Nahestehenden zu stärken. Diese sind aber zunehmend berufstätig oder wohnen nicht mit dem Pflegebedürftigen in einer Wohnung. Mit einer Kombination aus Sensoren und lernfähiger Software lassen sich mittlerweile gute Aussagen über Abweichungen in der Wohnung aufstellen.
Durch Datentransfer zwischen Pflege und Arzt gibt es Synergien
Die Plattformen lernen zunächst das normale Verhaltensprofil des Bewohners und bewerten Abweichungen nach unterschiedlicher Dringlichkeit: Hat ein(e) Bewohner(in) zum Beispiel nach 20 Minuten die Toilette nicht verlassen, obwohl er/sie normalerweise weniger als zehn Minuten dort verbringt, und reagiert nicht auf einen Anruf, werden Notfallmaßnahmen eingeleitet. Noch interessanter werden diese Ansätze, wenn sie zusätzlich mit automatisch durch die Patient(inn)en erhobenen Vitaldaten kombiniert werden, etwa bei Herzinsuffizienz oder Diabetes Typ 2. In diesem Kontext entstehen aktuell neue Geschäftsmodelle wie Telepflege für Angehörige. Selfcare-Ansätze müssen in Deutschland erst noch in größerem Stil entwickelt werden. Die telepflegerischen Möglichkeiten lassen sich aber auch zum Coaching von Nichtfachkräften in (fachlichen) Krisen und Hauswirtschaftskräften nutzen.
Pflegekräfte werden entlastet
Den Möglichkeiten der Digitalisierung werden ferner zunehmend Chancen eingeräumt, einen merklichen Beitrag zur Gesunderhaltung von Pfleger(inne)n zu bewirken. Bekanntermaßen haben Pflegefachkräfte ein hohes Erkrankungsrisiko, bedingt durch Schichtarbeit, körperliche sowie psychische Belastungen. Aber auch die Doppelbelastung durch Familienarbeit, wie sie für Frauen typisch ist, spielt eine Rolle, ebenso die oft fehlende kollegiale Austauschmöglichkeit vor allem in der ambulanten Pflege und nicht zuletzt die in Krisensituationen oft nicht unmittelbar erreichbare Leitung. Alle, die sich mit dem Pflegemodell Buurtzorg3 aus den Niederlanden näher beschäftigt haben, werden hier auch die Erfolgsfaktoren erkennen. Die größeren Softwareanbieter haben die Potenziale der Digitalisierung in diesem Zusammenhang identifiziert und bieten mittlerweile Lösungen für die sich daraus ergebenden Anforderungen an. In konkret umgesetzten Projekten zeigt sich, dass die Digitalisierung die Ideenwelt zum Beispiel von Buurtzorg unterstützt beziehungsweise die teilweise Autonomie von Teams fördert.
Neue Geschäftsmodelle sind die Zukunft
Sind Pflegende mit Tablet und Zugang zum zentralen Server ausgestattet, ist es auch denkbar, dass Pflegeplanung oder Dokumentation im Homeoffice erledigt werden. Dies bietet sich besonders an, wenn dadurch weitere Wege zur Einsatzzentrale gespart werden können oder zeitliche Verzögerungen im Tourenplan aufgefangen werden müssen. Im Zusammenhang mit der Bewältigung der Herausforderungen durch Covid-19 zeigt sich, dass durch die hier beschriebenen Ansätze die Reduzierung von Kolleg(inn)en-Kontakten in erheblichem Maß möglich ist und dadurch die Risiken minimiert werden können. Das gilt auch für die Übermittlung von Vitaldaten durch die Pflege an die Ärzt(inn)e(n). Auch hier können potenziell riskante Hausbesuche eingespart werden. In ländlichen Pflegediensten können durch die Dokumentation auf dem Tablet vielfach die Wege zur Einsatzzentrale reduziert werden, und alle Informationen stehen sofort allen Beteiligten zur Verfügung. Ein nicht zu unterschätzender Aspekt ist die Erweiterung der Kontaktkanäle zu Leitung und Kolleg(inn)en und die Erleichterung von Livecoaching per Video, wenn die Datenkanäle ausreichen.
Die Vorstellung trügt also, die in der Automobilbranche verfügbaren Roboter und Exoskelette müssten nur modifiziert werden, um sie in der Pflege einsetzen zu können. Es ist nicht zu erwarten, dass sich alle Patient(inn)en so verhalten, dass ein Roboter darauf adäquat reagieren kann, und die Einsatzumgebungen sind durch Verhalten, Gemütszustand, Interaktionsbereitschaft und Bedürftigkeit der Patient(inn)en so komplex, dass standardisierte Programme, geschweige denn lernfähige Software, auf absehbare Zeit nicht zur Verfügung stehen werden. Die Potenziale von datengetriebenen Systemen werden demgegenüber zu wenig fokussiert und unterschätzt. Digitalisierung bietet hervorragende Möglichkeiten, Brücken über Sektorengrenzen hinweg zu bauen und zwar nicht nur Hausarzt/- ärztin - Pflege, sondern auch Pflege - Angehörige. Hier sind dringend neue Geschäftsmodelle nötig - zum Nutzen der Menschen.
Anmerkungen
1. Der Diözesan-Caritasverband Osnabrück und das LudwigWindthorst-Haus in Lingen haben dazu im Juli 2019 ein Symposium "Menschliche Gesellschaft 4.0" veranstaltet. Ein Tagungsband ist im Herder-Verlag in Vorbereitung (Herausgeber sind Michael Reitemeyer und Roland Knillmann).
2. Nicht behandelt werden hier reine Servicesysteme wie Transport- oder Visitenwagen und einfache assistierende Vorrichtungen, wie zum Beispiel Dusch-WCs, die in vielen Ländern einen wichtigen Beitrag zur Autonomie Pflegebedürftiger leisten, aber in Deutschland noch wenig verbreitet sind.
3. Siehe www.buurtzorg-deutschland.de
Wenn das System zu eng geworden ist: darüber hinausdenken!
Gekonnt führen aus dem „Off “
Wie das Bundesteilhabegesetz die Arbeit rechtlicher Betreuer beeinflusst
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