Pandemie erschwert die Arbeitssituation polnischer Betreuungskräfte
Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes waren im Jahr 2017 rund 3,4 Millionen Menschen in Deutschland pflegebedürftig. Von ihnen wurden mehr als drei Viertel (76 Prozent) zu Hause versorgt. Seit dem Jahr 2015 ist die Zahl der Pflegebedürftigen bereits um 19,4 Prozent gestiegen.1
Im Zuge des demografischen Wandels ist von einer weiteren Zunahme pflegebedürftiger Menschen in Deutschland auszugehen, der jedoch ein geringeres familiäres Betreuungspotenzial gegenübersteht. Infolge veränderter Familienstrukturen, der zunehmenden Frauenerwerbstätigkeit und den wachsenden (zum Beispiel beruflich bedingten) Mobilitätserfordernissen steigt der Bedarf an bezahlbaren, häuslichen Versorgungsangeboten für ältere Menschen.2
Eine Möglichkeit, die bereits gegenwärtige Versorgungslücke zu schließen, stellt die Care-Migration dar.3 Schätzungen zufolge unterstützen 300.000 bis 700.000 mittel- und osteuropäische Care-Arbeiter(innen) Privathaushalte bei der Betreuung älterer Angehöriger.4
Verschiedene Studien zeigen, dass die überwiegende Mehrheit (93 bis 94 Prozent) der Betreuungskräfte weiblich ist.5 Sie leben in der Regel im Haushalt der zu betreuenden Personen (Live-ins) und arbeiten häufig in einem transnationalen Rotationssystem, das heißt, dass sich mehrere Betreuungskräfte in einem bestimmten Rhythmus abwechseln und zwischen Deutschland und dem jeweiligen Herkunftsland pendeln (zirkuläres Migrationssystem). Häufig wird das mehrwöchige oder -monatige Rotationssystem von staatenübergreifend arbeitenden Agenturen organisiert, die die Care-Arbeiter(innen) mit dem Angebot einer Rund-um-die-Uhr-Betreuung an Privathaushalte in Deutschland vermitteln.6 Die Corona-Pandemie und die damit verbundenen Regelungen, wie Reiseeinschränkungen und Quarantäneregelungen, waren eine große Herausforderung für diese häuslichen Pflegearrangements.
Die Studie "Häusliche Pflege in Zeiten der Pandemie" des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung zielt darauf ab, den Umgang mit dieser bisher einmaligen Krisensituation zu untersuchen. Dafür wurden zunächst leitfadengestützte Interviews mit fünf ausgewählten Expert(inn)en aus Politik, Wissenschaft, Gewerkschaften sowie Organisationen in diesem Bereich und Vertreter(inne)n von Vermittlungsagenturen sowohl in Deutschland als auch in Polen geführt. Die folgenden Ergebnisse zum Einfluss der coronabezogenen Maßnahmen (wie die temporären Reiserestriktionen) auf die Pendelmigration von polnischen Care-Arbeiter(inne)n basieren auf den in Deutschland realisierten Interviews. Aus über 350 recherchierten Agenturen vermitteln mehr als 200 explizit polnische Betreuungskräfte in deutsche Haushalte. Von diesen wurden 52 Agenturen zufällig ausgewählt und kontaktiert. Insgesamt 13 Interviews mit Vertreter(inne)n von Vermittlungsagenturen wurden realisiert.
Verlängerter Aufenthalt und schlechtere Bedingungen
Mit den von Mitte März bis Mitte Juni geltenden Reisebeschränkungen ging für die polnischen Live-ins, die sich in Deutschland aufhielten, die Frage einher, ob sie ihren Aufenthalt verlängern oder in ihr Heimatland zurückkehren. Laut den Agenturen entschied sich die Mehrheit der transnational arbeitenden und über eine Vermittlungsagentur angestellten Betreuungskräfte aufgrund der Reisebeschränkungen und der Quarantänepflicht in Polen für eine Verlängerung des Einsatzes in Deutschland. Zudem setzten die Vermittlungsagenturen finanzielle Anreize zum Verbleib in den deutschen Privathaushalten in Form eines "Corona-Bonus" ein. Daneben berichteten die Agenturen, dass sich viele polnische Care-Arbeiter(innen) gegenüber ihren Klient(inn)en verpflichtet fühlten. So war aufgrund der Reiserestriktionen und der allgemeinen Unsicherheit nicht abzusehen, ob beziehungsweise wann die ablösende Betreuungskraft den Einsatz in Deutschland antreten würde.
Wie die Expert(inn)en anmerkten, führte die Verlängerung des Aufenthaltes in Deutschland teilweise zu einer Verschlechterung der ohnehin prekären Arbeitsund Lebensbedingungen der polnischen Live-ins: Um das Ansteckungsrisiko zu reduzieren, stellten viele Privathaushalte die Unterstützung durch den ambulanten Pflegedienst ein. So berichteten die Expert(inn)en von einem deutlich höheren Beratungsbedarf bezüglich der gesetzlich erlaubten Übernahme von Betreuungstätigkeiten und einem höheren Arbeitsumfang der Care-Arbeiter(innen).
Gehörte die Isolation während der häuslichen Betreuung für viele bereits zum Alltag, wurde die Situation durch die Corona-Pandemie noch einmal verschärft. Zur Reduzierung des Ansteckungsrisikos übernahmen die Familien die Einkäufe; Kontakte und Besuche von Dritten wurden weitgehend vermieden. Dieses Vorgehen sollte sowohl die Gesundheit der zu betreuenden älteren Personen als auch der Betreuungskräfte schützen. Nach Angaben der Agenturen wurden die Betreuungskräfte zudem unter anderem mit Handschuhen und Mund-/Nasenschutzmasken ausgestattet und intensiv über die Hygienevorschriften aufgeklärt. Die Verlängerung des Einsatzes in Deutschland bedeutete jedoch zugleich eine längere Trennung von Familien und Freunden im Heimatland.
Komplizierte Logistik durch Grenzschließungen
Für polnische Care-Arbeiter(innen) bestand mit einer offiziellen Arbeitsbescheinigung die Möglichkeit des Grenzübergangs nach Deutschland. Allerdings war mit einer derartigen grenzüberschreitenden Reise nicht nur ein höheres Ansteckungsrisiko für die Betreuungskräfte, sondern auch ein höherer Organisationsaufwand des Transports verbunden, wie die Agenturen berichteten. Während in Einzelfällen der Transport von den polnischen Live-ins eigenständig mit Privat-Pkws organisiert wurde, umgingen die Busunternehmen strategisch die Quarantänepflicht der Fahrer(innen): So fuhr das polnische Busunternehmen die Betreuungskräfte an die Grenze, die diese dann zu Fuß überquerten; in Deutschland wurden sie durch ein weiteres Busunternehmen zu den Privathaushalten gebracht.
Aufgrund der geringeren Anzahl an Personen, die in den Minibussen offiziell reisen durften, stiegen die Transportpreise deutlich an. Zudem wurden weniger Busse eingesetzt. In einigen Fällen wurde berichtet, dass die deutschen Privathaushalte die Care-Arbeiter(innen) von der Grenze abholten. Unabhängig davon, welche Lösung gewählt wurde, um die transnationale Mobilität zu gewährleisten, war damit auch ein Ansteckungsrisiko verbunden.
Höhere Nachfrage bei niedrigerem Angebot
Neben den Care-Arbeiter(inne)n, die ihren Aufenthalt in Deutschland verlängerten und jenen, die die transnationale Mobilität in Kauf nahmen, blieb laut den Agenturen ein gewisser Anteil von ihnen aus Unsicherheit und Sorge vor einer Ansteckung in Polen. Zudem waren Betreuungskräfte aus anderen osteuropäischen Ländern, wie der Ukraine, größeren Reiserestriktionen ausgesetzt. Während dem deutschen "Markt" weniger Care-Arbeiter(innen) zur Verfügung standen, stieg gleichzeitig der Bedarf an bezahlbarer, häuslicher Sorgearbeit in der Corona-Krise an.
Aufgrund der eingeschränkten Besucherregelungen und dem höheren Ansteckungsrisiko in Pflegeheimen bestand bei vielen Familien der Wunsch, ihre Angehörigen häuslich statt stationär versorgen zu lassen. Darüber hinaus wandten sich vermehrt Familien an Vermittlungsagenturen, die zuvor schwarzarbeitende Live-ins beschäftigt hatten, da diese aufgrund fehlender Krankenversicherungen und Arbeitsbescheinigungen für den Grenzübergang in ihre Heimatländer zurückkehrten.
Nachhaltiger Einfluss der Pandemie auf irreguläre Beschäftigung?
Vor dem Hintergrund der zunehmenden Zahl an Pflegebedürftigen in Deutschland und dem Wunsch der häuslichen Versorgung wächst der Bedarf an bezahlbarer häuslicher Sorgearbeit, die vor allem durch osteuropäische Care-Arbeiter(innen) geleistet wird. Während in der Corona-Pandemie die schlechten Arbeitsbedingungen der ambulant und stationär tätigen Pflegekräfte sowohl medial als auch politisch thematisiert wurden, blieben Diskussionen zu irregulär beschäftigten Betreuungskräften - trotz ihrer Systemrelevanz - größtenteils aus, so ein Fazit der befragten Expert(inn)en. Das transnationale System hat sich den neuen Herausforderungen teilweise angepasst und die Engpässe mit unterschiedlichen Mitteln überbrückt. Die Pandemie hat die langfristigen Probleme (Diskrepanz zwischen Angebot und Nachfrage, Mangel an gesetzlichen Regulierungen) in dem Feld verdeutlicht. Inwiefern sie die Arbeits- und Lebensbedingungen der polnischen Care-Arbeiter(innen) tatsächlich beeinflusst hat, ist Gegenstand einer derzeit laufenden Online-Befragung im Rahmen der Studie.
Anmerkungen
1. Statistisches Bundesamt: Pflegestatistik 2017. Pflege im Rahmen der Pflegeversicherung. Deutschlandergebnisse. Wiesbaden: Destatis, 2018.
2. Steiner, J.: "Guter Lohn für gute Arbeit"? Legitimation und Kritik im Regulierungsprozess der Rund-um-die-Uhr-Betreuung betagter Menschen in Schweizer Privathaushalten. In: Swiss Journal of Sociology 46(2) 2020, S. 281-303. Siehe auch Satola, A.; Schywalski, B:. "Live-in-Arrangements" in deutschen Haushalten: Zwischen arbeitsrechtlichen/-vertraglichen (Un-)Sicherheiten und Handlungsmöglichkeiten. In: Jacobs, K. et al. (Hrsg.): Pflege-Report 2016. Die Pflegenden im Fokus. Stuttgart: Schattauer, 2016, S. 127-138.
3. Petermann, A.; Ebbing, T.; Paul M: Das Tätigkeitsprofil von Betreuungspersonen in häuslicher Gemeinschaft. Saarbrücken: Berufsakademie für Gesundheits- und Sozialwesen Saarland, 2017.
4. Satola, A.; Schywalski B., "Live-in-Arrangements" in deutschen Haushalten, a. a.O. Siehe auch: Petermann, A.; Jolly, G.; Schrader, K.: Fairness und Autonomie in der Betreuung in häuslicher Gemeinschaft - Ergebnisse einer empirischen Studie. In: Städtler-Mach, B.; Ignatzi, H. (Hrsg.): Grauer Markt Pflege. 24-Stunden-Unterstützung durch osteuropäische Betreuungskräfte. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 2020, S. 99-122.
5. Ebd.; siehe auch: Minor Projektkontor für Bildung und Forschung (Hrsg.): Beratung für 24-Stunden-Betreuungskräfte aus Polen. Zwischenbericht 2020. Verfügbar unter: https://bit.ly/3ekvSeI; vgl. ebenfalls: Petermann A., Ebbing T., Paul M., a. a.O., 2017.
6. Lutz, H.: Die Hinterbühne der Care-Arbeit. Transnationale Perspektiven auf Care-Migration im geteilten Europa. Weinheim/Basel: Beltz Juventa, 2018.
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