Konzepte für die Praxis
Kurz nach der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention im Jahr 2009 schrieb auch der 13. Kinder- und Jugendbericht die inklusive Ausrichtung der Kinder- und Jugendhilfe ins Stammbuch: "Insofern sind alle Maßnahmen an einer Inklusionsperspektive auszurichten, die keine Aussonderung akzeptiert." 1 Wie sich diese Perspektive in den unterschiedlichen Handlungsfeldern der Kinder- und Jugendhilfe implementieren lässt, darüber finden sich unterschiedliche rechtliche, sozialpolitische und pädagogische Debatten.2 In den Erziehungshilfen schlägt sich die sogenannte "Inklusive Lösung" vor dem Hintergrund der aktuellen SGB-VIII-Reform vor allem in einer Zusammenführung von Eingliederungshilfeleistungen unter dem Dach der Jugendhilfe nieder. Während sich das Teilhabeverständnis dabei, ausgehend von einer administrativ-juristischen Fokussierung, auf Phänomene von Behinderung verengt, bleiben konzeptionelle Entwürfe für die Praxis der Jugendhilfeeinrichtungen vielfach "unterbestimmt".3 Der Beitrag fragt nach den Möglichkeiten und Herausforderungen in der Organisation sozialer Teilhabe anhand des Modellprojekts "Inklusion jetzt!" und zielt darauf ab, den fachlichen Diskurs um eine inklusive Erziehungshilfe zu intensivieren.
Über 60 stationäre Einrichtungen entwickeln Konzepte
Die Frage danach, wie sich der Inklusionsbegriff in den Hilfen zur Erziehung ausbuchstabiert, stößt gegenüber bildungspolitischen Interventionen auf eine vergleichsweise junge Debatte. Das Modellprojekt "Inklusion jetzt - Entwicklung von Konzepten für die Praxis", gefördert von der "Aktion Mensch"-Stiftung, nähert sich dieser Frage vor allem aus einer prozessualen Perspektive. In gemeinsamer Verantwortung der beiden Erziehungshilfefachverbände, dem Bundesverband katholischer Einrichtungen und Dienste der Erziehungshilfen (BVkE) und dem Evangelischen Erziehungsverband (EREV), sollen im Modellprozess zusammen mit über 60 stationären Einrichtungen der Erziehungshilfe, ihren Fachkräften und Adressat(inn)en inklusive Konzepte für die Praxis entwickelt, erprobt und evaluiert werden. Erstmals wird damit systematisch und unter wissenschaftlicher Begleitung von Wolfgang Schröer, Professor am Institut für Sozial- und Organisationspädagogik an der Universität Hildesheim, die gemeinsame Erziehungshilfe für junge Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen in den Mittelpunkt sozialpädagogischer Leistungserbringung gestellt.
Noch im Vorgriff auf die rechtliche Neuregelung des SGB VIII – die Veröffentlichung des Referentenentwurfs des BMFSFJ steht zum Entstehungszeitpunkt dieses Beitrags kurz bevor – geht der Modellprozess den unterschiedlichen Dimensionen einer "Inklusiven Lösung" nach. Damit verbunden ist zunächst einmal ein gesellschaftspolitischer Auftrag. Inklusion ist ein Menschenrecht und damit ein Querschnittsthema, das sich in allen gesellschaftlichen Bereichen wiederfindet und neue Maßstäbe für das professionelle Handeln in der Kinder- und Jugendhilfe setzt. In diesem Sinne versteht sich das Modellprojekt "Inklusion jetzt!" auch als ein politisches Vorhaben, in dem es die unterschiedlichen Interessenvertreter(innen) an den relevanten Schnittstellen der Jugendhilfeleistungen zusammenzubringen gilt. Eine erste Herausforderung auf diesem Weg ist die gemeinsame Idee einer reflexiven inklusiven Perspektive.
"Wir brauchen inklusive Ziele" – so das Fazit der digitalen Auftaktveranstaltung des Modellprojekts. Was die über 60 beteiligten Standorte erreichen wollen, gestaltet sich im Konkreten jedoch sehr unterschiedlich aus: Einige Einrichtungen halten bereits Wohngruppen mit inklusiven Ansätzen vor, die es zu erweitern gilt, andere wollen den Fokus auch auf ihre ambulanten Leistungsbereiche legen, manche Einrichtungen verfolgen ein inklusives Stadtteilprojekt im Sozialraum, wieder andere wollen im Kontext der Jugendberufshilfe an den Übergängen zu Schule und Arbeitsmarkt arbeiten. Trotz der unterschiedlichen Zielsetzungen stehen die Modellstandorte allerdings vor ganz ähnlichen Herausforderungen: Sie sind gefordert, die soziale Teilhabe in all diesen Bereichen, ausgehend von den individuellen Rechten der jungen Menschen und Familien und mit ihnen gemeinsam, zu entwickeln.4
Es braucht eine inklusive Haltung
Vor diesem Hintergrund greift der Modellprozess bestimmte Querschnittsthemen auf, die zusammen mit den Einrichtungen gewichtet, beraten und bearbeitet werden: von einer inklusiven Hilfeplanung, der inklusiven Arbeit mit Eltern und Angehörigen über Fragen des Kinderschutzes bis hin zu einer inklusiven Personal- und Organisationsentwicklung. Dafür braucht es vor allem die Entwicklung einer inklusiven Haltung, die die Beteiligten im Projekt immer wieder beschäftigen wird. Wird Inklusion nicht nur als ein Prozess, sondern in einem weiteren Sinne als Befähigung und Teilhabe in einer sozialen Ermöglichungsstruktur verstanden, ist damit eine wesentliche Reflexions- und Veränderungsbereitschaft vorausgesetzt. Die Perspektive richtet sich dann nicht nur auf das Handeln für bestimmte Zielgruppen, sondern insbesondere auf eine Veränderung in den eigenen Organisationsstrukturen und -prozessen der Kinder- und Jugendhilfe selbst.5 Über die konkrete Planung passgenauer Hilfen hinaus geht es darum, zu hinterfragen, welche gegenwärtigen organisationalen Prozesse eine bedarfsgerechte Hilfeplanung ermöglichen oder eben auch erschweren.6 Nehmen wir eine kinderrechtliche Perspektive ein, bemisst sich die Qualität in den Organisationen der Kinder- und Jugendhilfe maßgeblich daran, wie sie zur Verwirklichung sozialer Teilhabe der jungen Menschen beiträgt.7
Mehr als nur eine Zusammenführung von Leistungen
Nicht erst seit Ende des gescheiterten SGB-VIII-Reformversuchs im Jahr 2017 ist unübersehbar, dass die dichotome Architektur des Hilfesystems für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene Problemlagen der Betroffenen verschärft. Die seit Jahrzehnten aus unterschiedlichen Rechtsregimen gespeisten fachlichen Paradigmen haben sich fest in die jeweiligen Professionen eingeschrieben. Selbst wenn in der Novellierung des SGB VIII beide Systeme unter dem Dach der Kinder- und Jugendhilfe zusammengefasst werden, steht sowohl den etablierten Einrichtungen der Erziehungshilfen als auch Trägern der Eingliederungshilfe eine umfassende Neuausrichtung bevor. Wie sich die beiden Systemlogiken in der Praxis jenseits eines "Säulendenkens" zusammenbringen lassen, berührt mitunter Fragen von Multiprofessionalität, Fachkräftegewinnung und -ausbildung. Damit werden in dem Modellprojekt vor allem die Schnittstellen zwischen den unterschiedlichen Kostenträgern relevant. Hier gilt es, die fachlichen Kontakte und Diskussionen auf unterschiedlichen Ebenen auszuweiten.8 Es braucht zum Beispiel einen gemeinsamen Austausch darüber, wie Leistungsvereinbarungen, Betriebserlaubnis und Fachkräftegebot in einer inklusiven Erziehungshilfe aussehen können.
Mehr Wissen ist nötig
Eine große Herausforderung dabei ist die dürftige empirische Grundlage, auf der die bisherigen Diskussionen basieren. Zum einen finden sich nur wenige Forschungsprojekte, die Inklusion als Leitprinzip in den Hilfen zur Erziehung beleuchten.9 Zum anderen ist zu wenig über die Bedarfe und Perspektiven der Menschen bekannt, um die es geht. Eben deshalb wird es im Modellprojekt auch darum gehen, die partizipative Forschung in diesem Bereich voranzutreiben, um den bisherigen Wissensstand systematisch zu erweitern. Zusätzlich werden im Modellprozess regelmäßig Fortbildungsveranstaltungen angeboten, von Online-Seminaren über Praxisworkshops und Fachtagungen bis hin zu Multiplikatorenschulungen, die das gewonnene Wissen aufbereiten, zusammentragen und zur Diskussion stellen.
Inklusion als Dachkonzept
Vor dem Hintergrund der hier nur holzschnittartig angerissenen Dimensionen zeigt sich deutlich, dass sich die "Inklusive Lösung" in den Hilfen zur Erziehung keineswegs in einer Neuregelung rechtlicher Rahmenbedingungen erschöpft. Wie sich das Spannungsverhältnis zwischen rechtlichen Rahmungen, theoretischen Ansprüchen und praktischer Umsetzung in einer inklusiven Erziehungshilfe ausgestalten lässt, wird in den nächsten vier Jahren des Modellprojekts zu zeigen sein. Inklusion erfindet das Rad nicht neu, führt aber die bestehenden Konzepte unter einem neuen Paradigma zusammen und weiter.10
Anmerkungen
1. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.): 13. Kinder - und Jugendbericht. 2009, S. 40.
2. Oehme, A.; Schröer, W.: Beeinträchtigung und Inklusion. In: Böllert, K. (Hrsg.): Kompendium Kinder- und Jugendhilfe. Wiesbaden: Springer VS, 2018, S. 273–291.
3. Hopmann, B.: Inklusion in den Hilfen zur Erziehung. Ein capabilities-basierter Inklusionsansatz. Bielefeld: Universität Bielefeld, 2019; siehe auch Hopmann, B.: Inklusion in den Hilfen zur Erziehung. Herausforderungen für Befähigung und Teilhabe. In: Sozial Extra 2020: Extrablick: Inklusion. 2020.
4. Vgl. Oehme, A.; Schröer, W., a.a.O., S. 276.
5. Vgl. Komorek, M.: Inklusion und Organisationsentwicklung - Verknüpfungsversuche für die Soziale Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe. In: Jugendhilfe 3/2020, S. 214; siehe auch Graßhoff, G.; Karner, B.; Schröer, W.: Hilfeplanung als soziale Ermöglichungsstruktur. Sozialpolitische Lesarten. In: Schäuble, B.; Wagner, L. (Hrsg.): Partizipative Hilfeplanung. Weinheim: Beltz Juventa, 2017, S. 218-230.
6. Graßhoff et al., S. 220.
7. Maywald, J.: Kinderrechte - Der Kinderrechtsansatz in der Kinder- und Jugendhilfe.
In: Böllert, K. (Hrsg.): Kompendium Kinder- und Jugendhilfe. Wiesbaden: Springer VS, 2018, S. 967–990.
8. Oehme, A.; Schröer, W., a.a.O.
9. Hopmann, B., 2019, a. a. O., S. 126.
10. Komorek, M., a. a. O.
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