Inklusion ist mehr als der Zugang zu einer Jugendhilfeeinrichtung
Die Hilfen zur Erziehung stehen im Zentrum der aktuellen Debatte um eine inklusive Kinder- und Jugendhilfe im Zuge der SGB-VIII-Reform. Diese Debatte ist maßgeblich geprägt durch Bemühungen um die sogenannte Inklusive Lösung. Darunter wird üblicherweise die Zusammenführung von Leistungen des SGB VIII und des SGB IX (Teil 2) für Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung unter dem Dach der Kinder- und Jugendhilfe verstanden.
Den derzeitigen Bestrebungen gehen eine Reihe von Vorläuferdebatten und -entwicklungen voraus. Der ab 2007 einsetzende Reformprozess der Eingliederungshilfen hin zur Verabschiedung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) 2016 und die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) 2009 in Deutschland haben die neuerliche Reformdebatte begünstigt, die die Kinder- und Jugendhilfe seit Inkrafttreten im Jahr 1990 unter dem Stichwort Große Lösung begleitet. Dennoch sind bis heute folgende Regelungen rechtsgültig: Leistungen der Eingliederungshilfe werden für Kinder und Jugendliche mit einer sogenannten seelischen Behinderung nach § 35 a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII gewährt, während Kinder und Jugendliche mit einer attestierten geistigen und/oder körperlichen Behinderung Leistungen der Eingliederungshilfe nach der Maßgabe der §§ 90 ff., 2. Teil, SGB IX (bis Ende 2019 nach §§ 53 ff. SGB XII) erhalten können. Hilfen zur Erziehung können schließlich gemäß den §§ 27 ff. SGB VIII gewährt werden.
Dieser rechtlichen Zuordnungslogik haftet jedoch der Vorwurf an, Abgrenzungsprobleme bei Mehrfachbehinderung, bei der Zuordnung zu einzelnen Formen von Behinderung und schließlich bei der Unterscheidung von erzieherischen und behinderungsspezifischen Bedarfen zu produzieren.1
Ein erster Reformanlauf ist gescheitert
Ein erster Reformanlauf, welcher ab Mitte 2016 in Form einiger Gesetzesentwürfe publik wurde, scheiterte jedoch Ende 2016, da das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) sämtliche Entwürfe – nicht zuletzt wohl aufgrund der starken Kritik an der intransparenten Vorgehensweise und der inhaltlichen Ausrichtung2 - wieder zurückzog. In sehr ausgedünnter Form fanden sich einige dieser Reformaspekte im "Gesetz zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen (Kinder- und Jugendstärkungsgesetz)" wieder, welches am 29. Juni 2017 vom Deutschen Bundestag3 beschlossen wurde – diesem blieb jedoch bislang eine Zustimmung durch den Bundesrat verwehrt. "Gemessen an seinen ursprünglichen Ansprüchen kann das ursprünglich als Reform des SGB VIII angekündigte Vorhaben somit bereits jetzt – auch ganz unabhängig von den Entscheidungen des Bundesrates – als gescheitert betrachtet werden." 4 Schließlich sind Spuren einer Inklusiven Lösung darin vergeblich zu suchen. Dennoch wurde im Koalitionsvertrag der 19. Legislaturperiode der Anspruch formuliert, "das Kinder- und Jugendhilferecht auf Basis des in der letzten Legislaturperiode beschlossenen Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes weiter[zu]entwickeln" 5. Von November 2018 bis Dezember 2019 fand demzufolge der Dialogprozess "Mitreden – Mitgestalten: Die Zukunft der Kinder- und Jugendhilfe" statt, auf dessen Basis noch 2020 ein Gesetzesentwurf für eine inklusive Kinder- und Jugendhilfe zu erwarten ist.6 Obgleich die skizzierten Bemühungen versuchen, auf bisherige Schnittstellen- und Abgrenzungsprobleme zu reagieren und dem Ruf der Kinder- und Jugendhilfe als "behindertenfreie Zone" 7 entgegenzutreten, so gelangt die Debatte kaum über administrativ-juristische Klärungsversuche hinaus und lässt zugleich zentrale Fragen ungeklärt. Zwei davon – die Umgangsweisen mit der Kategorie Behinderung und das Inklusionsverständnis – scheinen besonders bedeutsam.
Behinderungsbegriff und Inklusionsverständnis
Erstens wird eine Unterscheidung von Behinderung/Nichtbehinderung vorgenommen, welche sowohl mit Blick auf die individuelle Bedarfsklärung als auch mit Blick auf die Adressat(inn)en von Teilhabe- und Inklusionsforderungen maßgeblich auf die International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) Bezug nimmt.8 Im sich daran im Zuge des BTHG orientierenden SGB IX wird Behinderung folgendermaßen verstanden: "Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können" (§ 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Trotz einer Betonung der "Wechselwirkungen mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren" wird Behinderung – und damit eine Einschränkung der Teilhabe – überwiegend in Abhängigkeit von einer vorliegenden medizinisch diagnostizierbaren Beeinträchtigung verstanden. Somit wird ein Kausalzusammenhang zwischen Beeinträchtigung und Behinderung hergestellt. Damit wird jedoch nicht nur die Errungenschaft, Behinderung als soziale und von einer medizinisch diagnostizierbaren Beeinträchtigung abgetrennte Kategorie zu begreifen, unterlaufen, sondern darüber hinaus gilt als Konsequenz dieser Logik Nichtbehinderung nicht als teilhabe-relevant. Allerdings beziehen sich insbesondere die erzieherischen Hilfen auf vielschichtige "familiale Problemkonstellationen, Sozialisations- und Erziehungsanforderungen"9. Insofern ist es als problematisch einzuschätzen, dass soziale Benachteiligungen - wenn überhaupt - allenfalls im Kontext von Behinderung, nicht aber mit Blick auf weitere oder sich überschneidende Lebenslagen, wie beispielsweise sozioökonomischer Status oder Fluchthintergrund, als inklusions- und teilhaberelevant diskutiert werden.
Zweitens wird das Inklusionsverständnis nicht nur maßgeblich auf Behinderung verengt, sondern es ist auch begrifflich weitestgehend unterbestimmt. Dies zeigt sich einerseits daran, dass im Kontext der Hilfen zur Erziehung angesichts exkludierender gesellschaftlicher Verhältnisse weniger der Inklusionsbegriff als vielmehr der Exklusionsbegriff relevant wird.10 Andererseits sind die Debatten um Inklusion immer noch durch eine "Zurückhaltung gegenüber Exklusionsphänomenen" 11 geprägt. Gerade mit Blick auf die erzieherischen Hilfen dürfen im Zuge von Inklusionsappellen Probleme der sozialen Exklusion jedoch keineswegs vernachlässigt werden.12 Allerdings laufen simplifizierte Vorstellungen von Inklusion und Exklusion wiederum Gefahr, "Ungleichheiten, Ungerechtigkeiten, Unterdrückungs- und Ausbeutungsverhältnisse zu vernebeln" 13. Dies ist dann der Fall, wenn beispielsweise gesellschaftliche Problemlagen individualisiert werden oder von einem dichotomen Innen und Außen ausgegangen wird. Insofern ist die Unterbestimmung normativer Fragen von Inklusion nach wie vor ihr problematischster Punkt.
Welchen Beitrag können die erzieherischen Hilfen leisten?
Für die erzieherischen Hilfen ist zu klären, welches (sozial-)pädagogisch begründbare Ziel mit Inklusion verbunden sein soll, welchen Beitrag die erzieherischen Hilfen zukünftig dazu leisten können oder sollen und auf welche Weise sich diese Prämissen schlussendlich in einer sich als inklusiv verstehenden Fachpraxis erzieherischer Hilfen konzeptionell niederzuschlagen haben. Das heißt, besteht Inklusion zum Beispiel lediglich darin, sämtlichen Adressat(inn)en mit oder ohne Behinderung gleichermaßen einen Zugang zu einer stationären Jugendhilfeeinrichtung zu verschaffen, oder bezieht sich Inklusion darüber hinausgehend auf die Frage nach den gesellschaftlichen Ermöglichungsräumen für die freiheitliche Entfaltung aller junger Menschen sowie dahingehende (sozial-)pädagogische Unterstützung und Befähigung?14
Es mag ernüchternd erscheinen, dass der Gesetzentwurf einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe noch nicht einmal veröffentlicht ist und sich schon beziehungsweise immer noch offene Fragen ankündigen. Vielleicht aber zeigt dies auch nur, dass rechtliche Regularien theoretische und konzeptionelle Debatten nicht ersetzen können.
Anmerkungen
1. Meysen, T.: Gesamtzuständigkeit im SGB VIII. In: neue praxis 44 (3) 2014, S. 220-232.
2. Ziegler, H.: Sozialpädagogik vs. SGB VIII Reform. In: neue praxis 46 (5) 2016, S. 491-499.
3. Deutscher Bundestag: Drucksache 18/12946. 18. Wahlperiode, 27.6.2017. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (13. Ausschuss) zu dem Gesetzesentwurf der Bundesregierung - Drucksachen 18/12330, 18/12730, 18/12879 Nr. 1.9 - Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen (Kinder- und Jugendstärkungsgesetz - KJSG).
4. Böllert, K.: SGB VIII-Reform - Eine never ending story mit ungewissem Ausgang. In: Widersprüche 37 (4) 2017, S. 9-18.
5. CDU, CSU & SPD: Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD. Koalitionsvertrag der 19. Legislaturperiode vom 12. März 2018, Berlin.
6. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Abschlussbericht. Mitreden – Mitgestalten: Die Zukunft der Kinder- und Jugendhilfe, 2020.
7. Loeken, H.: Inklusion als Aufgabe und Herausforderung für die Kinder- und Jugendhilfe. In: Unsere Jugend 65 (11+12) 2013, S. 450–459.
8. Hopmann, B.; Rohrmann, A.; Schröer, W.; Urban-Stahl, U.: SGB VIII-Reform: Quo vadis Hilfe- und Teilhabeplanung mit jungen Menschen und ihren Eltern? In: Das Jugendamt – Zeitschrift für Jugendhilfe und Familienrecht 93 (7/8) 2020 [im Erscheinen].
9. Böllert, K.: Einleitung: Kinder- und Jugendhilfe - Entwicklungen und Herausforderungen einer unübersichtlichen sozialen Infrastruktur. In: Böllert, K. (Hrsg.): Kompendium Kinder- und Jugendhilfe. Wiesbaden: Springer VS, 2018, S. 3-62.
10. Lüders, C.: "Irgendeinen Begriff braucht es ja …". Das Ringen um Inklusion in der Kinder- und Jugendhilfe. In: Soziale Passagen 6 (1) 2014, S. 21–53.
11. Dederich, M.: Exklusion. In: Dederich, M.; Greving, H.; Mürner, C.; Rödler, P. (Hrsg.): Inklusion statt Integration? Heilpädagogik als Kulturtechnik. Gießen: Psychosozial-Verlag, 2. Auflage 2010, S. 11–27.
12. Kronauer, M.: Wer Inklusion möchte, darf über Exklusion nicht schweigen. Plädoyer für eine Erweiterung der Debatte. In: Kluge, S.; Liesner, A.; Weiß, E. (Hrsg.): Jahrbuch für Pädagogik 2015: Inklusion als Ideologie. Frankfurt am Main: Peter Lang Edition, 2015, S. 147–158.
13. Ziegler, H.: Teilhabegerechtigkeit und Inklusion – Potentiale und Fallstricke einer aktuellen Debatte. In: FORUM Jugendhilfe (3) 2011, S. 24–32.
14. Hopmann, B.: Inklusion in den Hilfen zur Erziehung. Herausforderungen für Befähigung und Teilhabe. In: Sozial Extra, 2020.
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