Geflüchtete Frauen haben kaum Chancen auf qualifizierte Erwerbsarbeit
Der Frauenanteil von Asylsuchenden ist in den letzten Jahren angestiegen. Zwar überwiegt der Anteil von Männern unter allen Asylsuchenden in Deutschland - doch im Jahr 2019 wurden 44 Prozent aller Asylerstanträge von Frauen gestellt.1 Im Jahr 2019 kam die Mehrzahl der weiblichen Asylerstantragstellenden aus Syrien (32 Prozent), gefolgt von Irak (zehn Prozent) und Nigeria (sieben Prozent).2 In den Jahren zuvor waren zudem Afghanistan und Iran relevante Herkunftsländer weiblicher Geflüchteter.3 Die Mehrheit der Geflüchteten fühlt sich dem Islam zugehörig: Im Jahr 2019 gaben 62 Prozent aller Erstantragsteller(innen) an, islamisch zu sein. Ein Fünftel (20,2 Prozent) gehörte dem Christentum an, nur knapp vier Prozent waren konfessionslos.4
Über die Hälfte aller asylerstantragstellenden Frauen (53 Prozent) befindet sich im arbeitsmarktfähigen Alter von 16 bis 65 Jahren, allein 32 Prozent sind 18 bis unter 35 Jahre alt.5 Dazu passt, dass die Mehrzahl der geflüchteten Frauen Sorgeverantwortung trägt. Ein Großteil dieser Frauen muss Erwerbstätigkeit mit Sorgearbeit in Einklang bringen - wie die Mütter der Mehrheitsbevölkerung auch.
Geflüchtete Frauen sind sehr motiviert, in Deutschland (wieder) erwerbstätig zu werden. Dies bestätigen qualitative Studien6 wie Statistiken: 86 Prozent der geflüchteten Frauen, die zwischen 2013 und 2016 nach Deutschland kamen, gaben an, eine Beschäftigung in Deutschland aufnehmen zu wollen.7 Für eine Teilhabe am Arbeitsmarkt sind sie zudem gut qualifiziert. Entgegen der häufigen Wahrnehmung sind Frauen mit Fluchthintergrund schulisch kaum anders gebildet als Männer: 34 Prozent der Frauen und 34 Prozent der Männer haben einen weiterführenden Schulabschluss. Auch bei Hochschulabschlüssen (jeweils elf Prozent) und dem Abschluss von im Ausland erworbenen Berufsausbildungen (Männer fünf Prozent gegenüber Frauen vier Prozent) unterscheiden sie sich kaum. Ein Unterschied bei Geflüchteten ist jedoch, dass Frauen häufiger keinen Schulabschluss haben.8
Mehr Frauen als Männer sind unterqualifiziert beschäftigt
Deutlicher unterscheiden sich Frauen und Männer mit Fluchthintergrund bei den Erwerbserfahrungen: 75 Prozent der Männer, aber nur 39 Prozent der Frauen waren vor Zuzug erwerbstätig. Hatten Frauen im Herkunftsland eine Beschäftigung, so jedoch auf höherwertigen Positionen als die Männer. Letztere arbeiteten häufiger als Helfende, Frauen häufiger in Tätigkeiten mit höherem Anforderungsniveau. 26 Prozent der Frauen, aber nur elf Prozent der Männer übten hochkomplexe Expertentätigkeiten aus.9
Die meisten Frauen finden jahrelang keine Beschäftigung
Das verhilft den Frauen jedoch nicht zu einer (qualifizierten) Teilhabe am Arbeitsmarkt in Deutschland. Zwei Jahre nach Zuzug waren ein Viertel der Männer erwerbstätig, aber nur fünf Prozent der Frauen. Fünf Jahre nach Zuzug traf dies auf 57 Prozent der Männer, jedoch nur auf 29 Prozent der Frauen zu.10 Die Mehrzahl der Frauen muss nach der Flucht also viele Jahre auf Beschäftigung warten. Insbesondere Mütter von kleinen Kindern haben kaum Chancen auf Erwerbstätigkeit in Deutschland. Für Männer gilt dieser Zusammenhang nicht.11 Besonders paradox: Die Berufserfahrungen im Herkunftsland von Frauen haben - erneut anders als bei den Männern - keine positiven Auswirkungen auf deren Erwerbswahrscheinlichkeit. Das heißt: Frauen ohne Berufserfahrungen haben die gleichen (geringen) Chancen auf Erwerbsteilhabe in Deutschland wie die mit jahrelanger Berufsbiografie. Eine Ausnahme sind Frauen, die zuvor einer Fachkrafttätigkeit nachgingen.12
Haben Geflüchtete Beschäftigung gefunden, arbeitet knapp die Hälfte (47 Prozent) unterhalb des Anforderungsniveaus der Erwerbsarbeit im Herkunftsland, immerhin 43 Prozent auf dem gleichen Niveau. Allerdings sind mehr Frauen (35 Prozent) als Männer (27 Prozent) unterqualifiziert beschäftigt. Nach Zuzug arbeiten sie (45 Prozent) überwiegend in Hilfstätigkeiten13, vermittelt insbesondere in Altenpflege oder Reinigung14. Da verwundert kaum, dass geflüchtete Frauen deutlich schlechter entlohnt werden als Männer. Bei gleicher Bildung und Berufserfahrung erhalten sie rund 16 Prozent weniger Lohn.15
Deutlich wird: Frauen mit Fluchthintergrund erfahren vielfache Diskriminierungen. Schlechtere Erwerbschancen bestehen aufgrund von Sorgeverpflichtungen und bleiben ebenso wie geschlechtsspezifische Lücken bei kinderlosen Geflüchteten erklärungsbedürftig.
Ungut: Arbeitsmarkterfolg und Aufenthaltstitel hängen zusammen
Alle Geflüchteten sehen sich mit einer Vielzahl an Hürden und Ausnahmeregelungen beim Zugang zum Arbeitsmarkt konfrontiert. Ob ein solcher möglich ist, hängt vom bestehenden Aufenthaltstitel ab. Parallel dazu hat Teilhabe am deutschen Arbeitsmarkt zunehmend aufenthaltsrechtliche Konsequenzen. Wer beispielsweise in Ausbildung gelangt, erhält seit 2016 einen zeitlich befristeten Aufenthaltstitel. Geflüchtete Frauen gelangen jedoch seltener in Ausbildung als Männer. Warum? Die Beratung von Arbeitsagenturen und Jobcentern zielt auf das duale Ausbildungssystem. Einerseits wird in Gesundheits-, Erziehungs- und Sozialberufe meist nur in Hilfstätigkeiten vermittelt, weil Qualifikationen für diese Berufe vollzeitschulisch oder an Hochschulen erworben werden. Andererseits geht damit ein Fokus auf männlich dominierte handwerkliche oder gewerblich-technische Berufssegmente einher.
Die Geschlechtsspezifik des deutschen Ausbildungssystems ist seit den 1990er-Jahren bekannt.16 Sie diskriminiert nicht nur Frauen der Mehrheitsgesellschaft, sondern auch geflüchtete Frauen. Ungleiche Chancen auf gute Arbeitsbedingungen, Aufstiegsmöglichkeiten und Entlohnung können für den Aufenthaltstitel folgenreich sein. Seine Verfestigung erfordert die (überwiegend) eigenständige Sicherung des Lebensunterhalts17, was bei Hilfstätigkeiten und Entgeltdiskriminierung für Frauen kaum erreichbar ist.
Welche Handlungsmöglichkeiten bestehen? Erstens: Geflüchtete Frauen benötigen einen eigenen Aufenthaltstitel, unabhängig vom Ehegatten. Die Regelungen in § 31 Aufenthaltsgesetz gehören auf den Prüfstand.18 Zweitens: Geflüchtete Frauen sind in qualifizierte und existenzsichernde Beschäftigung zu begleiten, auch wenn Minijobs noch immer durch Steuer- und Familienpolitik gefördert werden. Eine qualifizierte und sozialversicherungspflichtige Beschäftigung - bei Sorgeverantwortung etwa in Teilzeit - ist nachhaltiger für jede weibliche Berufsbiografie als geringfügige Beschäftigungsverhältnisse.
Vorschnelle Zuschreibungen alter Rollenbilder
Viele geflüchtete Frauen in Deutschland zählen sich dem Islam zugehörig und tragen ein Kopftuch. Damit stehen sie unbewusst im Zentrum öffentlicher und politischer Debatten rund um Fragen von Geschlechtergleichstellung.19 Die Mehrzahl dieser normativ geführten Debatten zielt darauf ab, eine Andersartigkeit zu Gläubigen des Islams zu konstruieren. In der Wissenschaft wurden diese Diskurse vielfach als antimuslimischer Rassismus20 entlarvt. Kopftuchtragende Frauen sehen sich häufig mit der pauschalen Unterstellung konfrontiert, veraltete ge - schlechtsspezifische Rollenbilder zu leben oder zu vertreten, ungeachtet dessen, ob dies zutrifft oder nicht. Dies erschwert die Arbeitsmarktteilhabe von kopftuchtragenden Frauen nach der Flucht. Deren Erwerbswünsche sorgen im besten Fall bei Arbeitsverwaltungen, Trägern von Arbeitsmaßnahmen und Ehrenamtlichen für Irritationen, im schlechtesten Fall werden sie als potenzielle Erwerbstätige gar nicht wahrgenommen. Frühere Studien konnten zudem Diskriminierungen gegenüber Musliminnen mit Kopftuch durch Arbeitnehmer(innen) nachweisen.21
Zwar zeigen viele geflüchtete Frauen nach Zuzug eine Erstorientierung an Familie und Sorgearbeit, dies schließt aber eine Zweitorientierung an Beschäftigung nicht aus. Angesichts fehlender Teilzeitangebote bei Sprach- und Integrationskursen sowie Arbeitsmarktmaßnahmen und mangelnden staatlichen Kitaplätzen wirkt eine vorschnelle Zuschreibung veralteter Geschlechterrollenbilder bei Frauen mit Fluchthintergrund fehl am Platz. Übrigens: Geflüchtete Männer werden in ihrer Vaterrolle bislang wenig bis gar nicht angesprochen.
Frauen benötigen einen Aufenthaltstitel unabhängig vom Ehemann
Welche Handlungsmöglichkeiten gibt es? Erstens: Die Vielfalt innerhalb der Gruppe geflüchteter Frauen sollte stärker anerkannt werden. Es gilt zu prüfen, welche Wünsche, Qualifikationen und Erfahrungen vorhanden, aber auch welche Voraussetzungen für die Erwerbsaufnahme nötig sind (Stichwort: Traumata, aufenthaltsrechtliche Unsicherheiten, fehlende Kinderbetreuungsplätze). Zweitens: Das Sprechen mit- statt übereinander hilft. Auch zu Religion und/oder Geschlechterrollen ist ein Austausch möglich. Wieso nicht nachfragen, welche Rolle Religion im Alltag spielt oder welche Vorstellungen im Hinblick auf Erwerbsarbeit als Frau beziehungsweise Mutter bestehen? Auch Frauen der Mehrheitsgesellschaft würden darauf vielfältige Antworten geben.
Anmerkungen
1. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF): Das Bundesamt in Zahlen 2019. Erschienen 2020; siehe Kurzlink: https://bit.ly/3iqZOXV,S. 20.
2. Ebd., S. 21.
3. Worbs, S.; Baraulina, T.: Geflüchtete Frauen in Deutschland: Sprache, Bildung und Arbeitsmarkt. Kurzanalysen des Forschungszentrums Migration, Integration und Asyl des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, Ausgabe 1/2017, S. 3; Kurzlink: https://bit.ly/2NPPdrK
4. BAMF, a. a.O., S. 24; mit der Religionszugehörigkeit ist nichts über das tatsächliche Praktizieren von Religion und damit deren Bedeutung im Alltag gesagt.
5. Ebd., S. 21.
6. Pallmann, I.: Fallstudie: Geflüchtete Frauen als Zielgruppe der Arbeitsmarktförderung. Ergebnispräsentation. Vortrag auf der Fachveranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Fachstelle Einwanderung im IQ-Netzwerk, Berlin, 19. Juni 2019.
7. Fendel, T.: Die Arbeitsmarktintegration geflüchteter Frauen. WISO Direkt, 2/2019, S. 1; http://library.fes.de/pdf-files/wiso/15115.pdf
8. Ebd. Lang andauernde Kriege und Krisen in Staaten (etwa Irak und Afghanistan) ebenso wie sexistische Strukturen im Herkunftsland (etwa Heiratsfähigkeit bereits im jungen Alter) wirken sich ungünstig auf die Qualifikationsstruktur von Mädchen und Frauen aus. Vgl. Farrokzhad, S.: Teilhabe geflüchteter Frauen am Arbeitsmarkt - Ausgangslage, Hürden, Handlungsstrategien. In: Pfeffer-Hoffmann, C. (Hrsg.): Profile der Neueinwanderung 2017. Spezifische Herausforderungen der Arbeitsmarktintegration geflüchteter Frauen. Berlin: Mensch und Buch Verlag, 2017, S. 27. Siehe dazu auch https://minor-kontor.de/profile-der-neueinwanderung-2018
9. Brücker, H.; Kosyakova, Y.; Schuss, E.: Fünf Jahre seit der Fluchtmigration 2015. Integration in Arbeitsmarkt und Bildungssystem macht weitere Fortschritte. IAB-Kurzbericht 4/2020, S. 4.; www.iab.de/194/section.aspx/Publikation/k200129301
10. Ebd., S. 8.
11. Ebd.
12. Ebd., S. 13.
13. Ebd., S. 9 f.
14. Pallmann et al., a. a.O., S. 31.
15. Ebd., S. 13.
16. Stauber, B.: Doing gender in Übergängen in den Beruf. In: Schröer, W.; Stauber, B.; Walther, A.; Böhnisch; Lothar; Lenz, K. (Hrsg.): Handbuch Übergänge, Weinheim/Basel: Beltz Verlag, 2013, S. 146. 17. Krämer, A.; Scherschel, K.: Flucht in die Aktivierung. Empirische Befunde einer qualitativen Studie zum Arbeitsmarktzugang von hochqualifizierten geflüchteten Frauen. In: Binner, K.; Scherschel; K. (Hrsg.): Fluchtmigration und Gesellschaft. Von Nutzenkalkülen, Solidarität und Exklusion, Weinheim/ Basel: Beltz Juventa, 2020, S. 172.
18. Farrokzhad, S., a.a.O., S. 47.
19. Berghahn, S.; Rostock, P. (Hrsg.): Der Stoff, aus dem Konflikte sind. Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz, Bielefeld: transcript Verlag, 2015.
20. Eine gute Erläuterung zu diesem Begriff bietet Zakariya Keskinkilic auf der Website der Bundeszentrale für politische Bildung unter Kurzlink https://bit.ly/3ilhT9P Vgl. auch Attia, I.: Die "westliche Kultur" und ihr Anderes. Zur Dekonstruktion von Orientalismus und antimuslimischem Rassismus, Bielefeld: transcript Verlag, 2009.
21. Weichselbaumer, D.: Discrimination against Female Migrants Wearing Headscarves. Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit, Discussion Paper No. 10217, 2016; http://ftp.iza.org/dp10217.pdf
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