Betreuung allein reicht nicht
Knapp drei Millionen Kinder besuchen in Deutschland gegenwärtig die Grundschule. Die gesellschaftliche Bedeutung von ganztägigen Betreuungsangeboten für Kinder im Grundschulalter ist in den letzten Jahren signifikant gestiegen. Ursache dafür sind im Wesentlichen zwei Entwicklungen: einerseits die zunehmende Bedeutung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, anderseits die Ergebnisse der Pisa-Studien der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung), die die Diskussionen über die besten Rahmenbedingungen für schulisches Lernen befeuert und bildungspolitischen Handlungsbedarf offengelegt haben. Parallel dazu haben die Monate des Lockdowns durch die Corona-Pandemie gezeigt, wie wichtig es ist, eine verlässliche und kindgerechte soziale Infrastruktur in den systemrelevanten Bereichen Kita und Schule sicherzustellen.
Gemäß den Absprachen der Großen Koalition und den Aussagen des Bundesfamilienministeriums soll ab dem Jahr 2025 für jedes Kind im Grundschulalter eine ganztägige Betreuung gewährleistet sein, wenn die Eltern dies wünschen. Nach dem Rechtsanspruch auf den Kitaplatz soll nun also der Rechtsanspruch auf die Ganztagsbetreuung im Grundschulalter kommen.
Bund und Länder müssen Anspruchsgrundlagen präzisieren
Worauf genau Kinder und ihre Familien einen Anspruch haben sollen, ist allerdings noch unklar: auf einen Hortplatz, einen Platz in der Ganztagsschule, eine Schule mit hauptberuflich organisierten Ganztagsbetreuungsangeboten oder auf eine Nachmittagsbetreuung, die von Vereinen oder Ehrenamtlichen nach der Schule angeboten wird?1 Dahinter stehen Fragen nach den bildungspolitischen Zielen, der Finanzierung, der Akquirierung von Fachkräften sowie der Umsetzung des Ganztagsanspruchs im föderalen Bildungssystem der Bundesrepublik. Aus Sicht der Kinder- und Jugendhilfe ist es gut, dass Bund und Länder im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens nun verpflichtet sind, zu präzisieren, welche Anspruchsgrundlagen Eltern und Kinder haben - egal, ob in Hamburg oder in Niederbayern.
Zentrale Rolle als Leistungserbringerin
Erklärtes Ziel der Bundesregierung ist es, das Recht auf ganztägige Betreuung von Grundschulkindern im Sozialgesetzbuch VIII zu verankern. Somit wird der Kinderund Jugendhilfe eine zentrale Rolle als Leistungserbringerin des bundesweit geltenden Rechtsanspruchs zuteil, die weit über die bisherigen Kooperationsformen zwischen Schule und Jugendhilfe hinausgeht. Be - treuungsangebote im Grundschulalter sollen ab dem Jahr 2025 in allen Bundesländern einheitliche und verbindliche (Mindest-)Qualitätsanforderungen erfüllen2 , trotz und gerade bei der Vielfalt bestehender Angebotsformen.
Eine besondere Herausforderung wird darin bestehen, die Systeme "Schule" und "Kinder- und Jugendhilfe" mit ihren jeweils eigenen Zielsetzungen, Handlungsaufträgen und System-Logiken zu verbinden:
- Die Schulpflicht und der Unterricht nach Curriculum stehen einem freiwilligen, sozialpädagogisch orientierten Angebot gegenüber;
- die Länderhoheit in der Bildungspolitik und ihre föderale Struktur trifft auf bundesgesetzlich einheitliche Regelungen der Kinder- und Jugendhilfe;
- nicht zuletzt wird die schulische Bildung konfrontiert - und im Idealfall ergänzt - durch ein ganzheitliches Verständnis in der Trias Erziehen, außerschulische Bildung und Betreuung. Beide Systeme sind dazu aufgefordert, ihre Aufgaben, Aufträge und Schnittstellen im Miteinander zu klären, aufeinander abzustimmen sowie kooperativ und verbindlich festzuschreiben.
Der Bundesverband katholischer Einrichtungen und Dienste der Erziehungshilfen (BVkE) hat Kernanliegen3 formuliert, die aus seiner Sicht im laufenden Diskussionsprozess zum Gesetzgebungsverfahren besonders wichtig und dringlich zu diskutieren sind.
Standards für Bildungsverständnis
Ziel des Ausbaus der ganztägigen Angebote im Grundschulalter ist die soziale, kulturelle und gesellschaftliche Teilhabe für alle Kinder sowie der Abbau von Bildungsbenachteiligung.4 Dafür sollen bundesweit geltende, fachlich begründete, verbindliche (Mindest-) Standards für die Bildung, Erziehung und Betreuung von Kindern im Grundschulalter in den Landesschulgesetzen und in Landesausführungsgesetzen zum SGB VIII festgeschrieben werden. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist zwar ein wichtiger Aspekt für die Ganztagsbetreuung von Grundschulkindern; in der Umsetzung darf der künftige Rechtsanspruch aber nicht auf einen reinen Betreuungsanspruch von Grundschüler(inne)n reduziert werden.
Vom Kind aus gedacht
Ganztagsangebote müssen am Wohlergehen der Kinder, an ihren Entwicklungsbedürfnissen und Lebenslagen ausgerichtet sein und ihre Eltern einbeziehen. Ziel ist eine kindgerechte Gestaltung des Ganztagsangebots, das - neben den notwendigen schulischen und außerschulischen Lernphasen - Platz und Freiräume für Spiel, Kreativität und Erholung bietet. Erholung bedeutet auch ein klar strukturiertes Pausenkonzept, das eine Verpflegung (gesunde Ernährung) und Möglichkeiten des Rückzugs bietet.
Pädagogisches Konzept
Die gelingende Kooperation von Schule und Kinder- und Jugendhilfe setzt eine gemeinsame pädagogische Haltung und entsprechende Konzepte voraus. Ausgangs- und Mittelpunkt für die Formulierung von Curricula müssen die unterschiedlichen Lebenslagen, Rechte, Interessen und pädagogischen Bedarfe der Kinder sein.
Inklusive Ausgestaltung des Rechtsanspruchs
Der BVkE befürwortet die inklusive Umsetzung des Rechtsanspruchs auf Ganztagsbetreuung im Grundschulalter, um benachteiligten Kindern eine gleichberechtigte Teilhabe zu ermöglichen. Dafür spricht auch das Vorhaben der Bundesregierung, im Gesetzentwurf zur SGB-VIII-Reform "Hilfen aus einer Hand für Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderungen" zu verankern.5
Fachkräftegebot einhalten
Um die Qualität der Angebote der Kinderund Jugendhilfe in der Ganztagsbetreuung sicherzustellen, ist es aus Sicht des BVkE notwendig, am Fachkräftegebot (gemäß § 72 SGB VIII) festzuhalten. Wünschenswert ist eine Regelung in den Ländergesetzen, dass auch in schulisch verantworteten Angeboten der Ganztagsbetreuung einschlägig qualifizierte Fachkräfte eingesetzt werden.6 Nicht pädagogisch qualifiziertes Personal sowie Ehrenamtliche sollen nur ergänzend neben einer Fachkraft eingesetzt werden.
Um die Qualitätsstandards sicherzustellen, bedarf es eines angemessenen Personalschlüssels, der quantitative und qualitative Notwendigkeiten entsprechend der jeweiligen pädagogischen Konzepte und soziodemografischen Schulstruktur berücksichtigt. Nach aktuellen Erkenntnissen sollte der Gesamt-Personalschlüssel bei maximal 1 : 10 liegen; dabei sollte der Fachkraft-Personalschlüssel mit höchstens 1 : 20 angesetzt werden. Entsprechend der Schulstruktur ist der Personalschlüssel gegebenenfalls nach oben (Gesamtschlüssel bis zu 1 : 7 bei einem Fachkraftschlüssel von 1 : 10) anzupassen.
Personal: Kenntnis beider Systeme
Die Zusammenarbeit zwischen Schule und Kinderund Jugendhilfe setzt Kenntnisse über die jeweiligen Systeme und ihre unterschiedlichen "Kulturen" voraus. Bei der Ausbildung von sozialpädagogischen Fachkräften sowie in der Lehrerausbildung müssen standardmäßig vertiefte Kenntnisse über das jeweils andere System (Schule beziehungsweise Kinder- und Jugendhilfe) vermittelt werden, um in der Praxis eine gleichberechtigte Kooperation auf Augenhöhe zu ermöglichen. Dringend notwendig sind Instrumente zur Gewinnung, Qualifizierung und Bindung von Fachkräften. Der BVkE realisiert dazu aktuell ein Projekt, das Dienste und Einrichtungen der Erziehungshilfen bei der Gewinnung von Fachkräften unterstützt.7
Betriebserlaubnisverfahren klären
Mit dem flächendeckenden bundesweiten Ausbau der Ganztagsangebote im Grundschulalter muss die Frage der Betriebserlaubnispflicht in Anlehnung an § 45 SGB VIII an der Schnittstelle zwischen Kinder- und Jugendhilfe und Schule und der daraus resultierenden Aufsicht für beide Seiten geklärt werden. Der BVkE spricht sich dafür aus, dass die Betriebserlaubnispflicht für Angebote der Kinder- und Jugendhilfe zur ganztägigen Erziehung, Bildung und Betreuung gilt.
Ringen um die Finanzierung
Derzeit ist noch nicht bekannt, wann der Gesetzentwurf zur Regelung der Ganztagsbetreuung zu erwarten ist. Das Bundeskabinett hatte im November 2019 einen Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Errichtung des Sondervermögens "Ausbau ganztägiger Bildungs- und Betreuungsangebote für Kinder im Grundschulalter" in Höhe von zwei Milliarden Euro beschlossen, um die Ganztagsbetreuung zu finanzieren. Die Kritik daran aus dem Bundesrat ließ nicht lange auf sich warten: In seiner Sitzung vom 14. Februar 2020 bezeichnete der Bundesrat die Schaffung eines Sondervermögens nur als "ersten Schritt" und forderte die zukünftige Beteiligung des Bundes an Investitions- und Betriebskosten. Darüber hinaus hat die Bundesregierung am 12. Juni 2020 ein Konjunkturpaket beschlossen, das das Investitionsprogramm für den Ausbau beschleunigen soll. Danach erhalten Länder, die 2020/2021 Mittel für Investitionen abrufen, die entsprechende Summe in den späteren Jahren der Laufzeit zusätzlich. Klar ist, dass auf die Länder und Kommunen dauerhafte Kosten in Milliardenhöhe zukommen werden. Das Deutsche Jugendinstitut schätzt allein die Investitionskosten auf bundesweit circa 7,5 Milliarden Euro sowie die Betriebskosten auf circa 4,5 Milliarden Euro.7
Die Corona-Pandemie hat erhebliche Auswirkungen auf die Haushaltslagen von Bund, Ländern und Kommunen. Nach allen finanziellen Hilfspaketen und Rettungsschirmen signalisieren insbesondere die Kommunen, dass signifikante Einschnitte in freiwillige Leistungen notwendig sind. Zusätzlich zu den zwei Milliarden Euro aus dem Sondervermögen hat die Bundesregierung am 12. Juni 2020 ein Konjunkturpaket beschlossen, das das Investitionsprogramm für den Ausbau einer Infrastruktur in den Bereichen Kita und Schule beschleunigen soll. Es ist damit zu rechnen, dass es in den nächsten Jahren spannungsreiche und kontroverse Aushandlungsprozesse zwischen politischen Akteuren und Interessenvertretern geben wird.
Anmerkungen
1. Vgl. Dt. Jugendinstitut (Hrsg.): Recht auf einen Ganztagesplatz. Potenziale des geplanten Rechtsanspruchs im Grundschulalter. In: DJI Impulse 2/19, Nr. 122.
2. Einheitliche Qualitätskriterien für den Ganztag im Grundschulalter. Möglichkeiten der bundesrechtlichen Umsetzung. Rechtsgutachten i.A. der Stiftung Mercator von Prof. Dr. Michael Wrase, Berlin, 12. Juni 2019.
3. Rechtsanspruch auf Ganztagesbetreuung für Kinder im Grundschulalter - Kernanliegen des BVkE. Vom Vorstand des BVkE am 6. Februar 2020 in Freiburg verabschiedet.
4. Vgl. Autorengruppe Bildungsberichtserstattung: Bildung in Deutschland 2018. Bielefeld, 2018. S. 4. 5. Vgl. PM des BMFSFJ vom 10. Dezember 2019: Startschuss für den Entwurf eines neuen Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes; Kurzlink: https://bit.ly/2DiPoJS
6. Deutscher Verein (Hrsg.): Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Implementierung und Ausgestaltung eines Rechtsanspruchs auf ganztägige Erziehung, Bildung und Betreuung für schulpflichtige Kinder in der Grundschulzeit (DV 13/19). Berlin, Dezember 2019, S. 14 f.
7. Näheres zum Projekt "Fachkräfte gewinnen" ist unter dem Kurzlink zu finden: https://bit.ly/2Cvi8yR 7. Dt. Jugendinstitut (Hrsg.): Ganztagesbetreuung für Grundschulkinder. Kosten des Ausbaus bei Umsetzung des Rechtsanspruchs. München, 14. Mai 2019.
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