Flüchtlingsunterkünfte: mehr als ein Dach über dem Kopf
Der Höhepunkt der Aufnahme von Flüchtlingen in Deutschland jährte sich in diesem Sommer zum fünften Mal. Medien und Öffentlichkeit blickten auf eine in vielerlei Hinsicht besondere Zeit zurück: Wir erinnerten uns an die Bilder der ankommenden Flüchtlinge und das überwältigende Engagement von Haupt- und Ehrenamtlichen; auch die damalige politische Reaktion wurde erneut thematisiert. Häufig wird aber vergessen, wie improvisiert die Unterbringung von Schutzsuchenden und wie groß die Überforderung in dieser Zeit war. Die Behörden mussten auf Turnhallen, Zelte oder leerstehende Großimmobilien zurückgreifen. Kindgerechte Versorgung, angemessene Unterbringungsstandards oder Schutz vor Gewalt spielten vielerorts eine untergeordnete Rolle. Die Herausforderung bestand zunächst darin, allen ein Dach über dem Kopf zu bieten.
Rahel Köpf, Mitautorin dieses Beitrags, ehemalige Flüchtlingsberaterin und heutige Multiplikatorin für Gewaltschutz beim Caritasverband Karlsruhe, erinnert sich: "Jeder machte Überstunden, manchmal bis tief in die Nacht, und am Ende mussten trotzdem Menschen unter freiem Himmel schlafen. Dagegen war es schon eine Erleichterung, als es zumindest für jeden wieder ein Bett gab, auch wenn Familien mit Kindern in Hallen untergebracht waren oder sich ihr Zimmer mit Fremden teilen mussten. Angst, Aggressionen und gewalttätige Auseinandersetzungen waren damals an der Tagesordnung."
Im Jahr 2016 wurde vom Bundesfamilienministerium (BMFSFJ) gemeinsam mit dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (Unicef) und weiteren Akteuren - darunter den Wohlfahrtsverbänden - eine Initiative ins Leben gerufen, die sich zum Ziel gesetzt hat, diesen Zustand zu ändern. Die "Initiative zum Schutz geflüchteter Menschen in Flüchtlingsunterkünften"1 hat seit ihrer Gründung Beachtliches geleistet. So wurden etwa gemeinsame Mindeststandards für Flüchtlingsunterkünfte2 veröffentlicht, Gewaltschutzkoordinator(inn)en in ausgewählten Flüchtlingsunterkünften eingesetzt und zuletzt Beratungsstrukturen in den Bundesländern aufgebaut. Der Deutsche Caritasverband (DCV) ist Gründungsmitglied und setzt sich nicht erst seit dieser Zeit in der praktischen Arbeit wie auch politisch für Verbesserungen ein.3 Ein Erfolg, der nicht zuletzt den Mitgliedern der Initiative zuzurechnen ist: Im Jahr 2019 hat der Gesetzgeber im Asylgesetz eine Änderung vorgenommen. Künftig sollen die Bundesländer geeignete Maßnahmen treffen, um bei der Unterbringung Asylbegehrender in Aufnahmeeinrichtungen den Schutz von Frauen und schutzbedürftigen Personen zu gewährleisten. Diese Regelung gilt auch für Gemeinschaftsunterkünfte.4
Obwohl Fortschritte in den Unterkünften unübersehbar sind und die Sensibilität für eine bedarfsgerechte Unterbringung gestiegen ist, bleibt aus Sicht der Caritas viel zu tun. Keinesfalls darf dabei aus dem Blick geraten, dass Gewalt per se kein Flüchtlingsthema, sondern eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung ist. Das Thema "Schutz" bedarf allerdings aufgrund der Rahmenbedingungen in Flüchtlingsunterkünften mit vielen Menschen auf engem Raum, fehlenden Rückzugsmöglichkeiten und eingeschränkter Selbstbestimmung sowie in Teilen massiver Gewalterfahrungen der Bewohner(innen) besonderer Aufmerksamkeit.
Schutzkonzepte verbindlich machen
Mit der Änderung des Asylgesetzes findet der Schutz der Bewohner(innen) in Flüchtlingsunterkünften bundesgesetzlich Erwähnung. Bundesländer und Kommunen haben zudem teilweise eigene Regelungen erlassen und schreiben vor, dass Betreiber von Flüchtlingsunterkünften Gewaltschutzkonzepte vorhalten müssen.
Was aber fehlt, ist echte Verbindlichkeit: Kommt bei Ausschreibungen für den Betrieb von Flüchtlingsunterkünften tatsächlich der Bewerber zum Zug, der ein fundiertes Schutzkonzept vorweist und hohe Unterbringungsstandards anstrebt? Werden Konzepte in der Praxis der Unterkünfte gelebt und kontinuierlich angepasst? Gibt es verschriftlichte Ablaufpläne bei Gewaltfällen, die im Ernstfall die Handlungssicherheit des Personals fördern, oder ein Belegungsmanagement, das die Bedarfe besonders schutzbedürftiger Personen berücksichtigt? Leider findet eine hierfür notwendige Identifizierung entsprechender Bedarfe - obwohl durch europäisches Recht vorgegeben - nicht flächendeckend statt. So kommt es in der Praxis regelmäßig vor, dass schwer traumatisierte Personen in Mehrbettzimmern untergebracht sind.
Personal qualifizieren
Um ein schützendes Umfeld sicherzustellen sowie Gewaltvorfälle zu verhindern beziehungsweise adäquat auf entsprechende Vorkommnisse zu reagieren, müssen alle Beschäftigten - von der Einrichtungsleitung über das Betreuungspersonal bis zu den Mitarbeitenden des Sicherheitsdienstes und den Ehrenamtlichen - sensibilisiert und geschult sein.
Bewohner(innen) beteiligen
Eine wirksame Verbesserung der Unterbringungssituation gelingt nur, wenn Bewohner(innen) an der Entwicklung von Konzepten beteiligt werden und ihnen der Raum gegeben wird, ihre Expertise beispielsweise bei der Ausgestaltung von Angeboten einzubringen.
Bauliche Gegebenheiten anpassen
Die bauliche Gestaltung wirkt sich auf die Sicherheit aus: Gibt es separate und abschließbare Wohneinheiten oder handelt es sich um Großunterkünfte ohne Rückzugsmöglichkeiten? Auch eigene Räume für Kinder, die Wegeführung in der Unterkunft (etwa zu Sanitäranlagen) und der Schutz gegen Angriffe von außen spielen in diesem Zusammenhang eine Rolle.
Gesetzlichen Rahmen verbessern
Auch bei den bundesgesetzlichen Vorgaben besteht weiterer Handlungsbedarf. Diese geben unter anderem vor, wie lange Menschen in Unterkünften leben müssen und ob sie eine Arbeit aufnehmen dürfen. Die daraus häufig resultierende Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit prägt das Leben in Flüchtlingsunterkünften. Ironischerweise wurde die Situation durch dasselbe Gesetz, das den Gewaltschutz gesetzlich verankerte, verschärft - ein Beleg für eine in Teilen widersprüchliche Politik: Im sogenannten "Geordnete-Rückkehr-Gesetz" verlängerte der Gesetzgeber die Aufenthaltsdauer in Aufnahmeeinrichtungen auf bis zu 18 Monate - teilweise sogar darüber hinaus. Für Familien mit minderjährigen Kindern gilt eine Beschränkung auf sechs Monate. Dennoch bleibt festzuhalten, dass dieser Schritt aus Sicht des Deutschen Caritasverbandes kontraproduktiv ist. Wer Flüchtlinge wirksam schützen möchte, muss die Aufenthaltsdauer in Großunterkünften für alle Bewohner(innen) verkürzen.5
Anmerkungen
1. www.gewaltschutz-gu.de
2. www.gewaltschutz-gu.de/publikationen/mindeststandards
3. Vgl. etwa: Deutscher Caritasverband: Fluchtpunkte. Von der Unterbringung zum Wohnen. Standards und Empfehlungen. Freiburg, 2016. Abrufbar unter: https://bit.ly/3pY7ncj
4. Neben den erwähnten nationalen Regelungen (§§ 44 Abs. 2 a sowie 53 Abs. 3 AsylG) sind in diesem Zusammenhang unter anderem auch europäische Vorgaben und internationale Abkommen zu beachten. 5. Vgl. Bolay, R.: Ein Konzept, das viel verspricht und wenig hält. In neue caritas Heft 16/2020, S. 22-24.
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