Nicht weniger, sondern mehr Teilhabe-Zugang
Die Teilhabe von Geflüchteten mit einer Behinderung ist ein vernachlässigtes Thema -, entsprechende Bedarfe sind bislang in der Öffentlichkeit wenig sichtbar. Darauf verweist auch der Zweite Teilhabebericht der Bundesregierung, in dem die Schnittstellen von körperlichen und/oder psychischen Beeinträchtigungen, Behinderungen und Migrationshintergrund erstmalig explizit benannt werden.1 Dem Bericht zufolge hatten im Jahr 2013 von 16,6 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund 1,6 Millionen Menschen eine Beeinträchtigung (9,5 Prozent) -, nicht berücksichtigt ist bei dieser Datenlage die Gruppe der Geflüchteten, weil diese auch erst seit 2015 stärker in den Fokus gerückt ist.
Neben bedeutsamen Aspekten zu den Lebenslagen von Migrant(inn)en wird im Bericht auf zusätzliche diskriminierende Merkmale oder Zuschreibungen hingewiesen. Diese sind bedingt durch das Alter oder das Geschlecht Zugewanderter sowie durch ihre ethnische und kulturelle Zugehörigkeit. Auch wenn im Bericht die bisherige Forschungslage als unzureichend bezeichnet wird, kann davon ausgegangen werden, dass eine Verschränkung dieser migrationsspezifischen und behinderungsspezifischen Diskriminierungsmuster verminderte Teilhabechancen nach sich zieht - dies gilt besonders im Kontext von Flucht und Asyl, zumal in diesem Bereich die Bedarfe erst langsam sichtbar werden.2 Es bedarf eines gezielten Aufspürens dieser Teilgruppe Geflüchteter, eines Wissenstransfers zu ihren Lebenslagen in den diversen Fachdiensten sowie einer Erprobung von Beratungs- und Begleitungsstrategien für ihre Bildungs- und Arbeitsmarkt-Teilhabe.
Unterstützung für alle Geflüchteten
Seit 2001 werden in Deutschland kontinuierlich Netzwerke zur beruflichen Integration von Geflüchteten mit einem ungesicherten Aufenthaltsstatus aufgebaut. Gegenwärtig sind bundesweit 41 Projektverbünde mit circa 300 Teilprojekten aktiv, um die berufliche Integration Geflüchteter zu unterstützen.3 In den Netzwerken sind unterschiedliche Akteure von "flüchtlingsnahen" Einrichtungen und Bildungsträgern sowie Arbeitsmarktakteure zusammengeschlossen; sie bieten ein breites Spektrum von Maßnahmen an: Beratung und Coaching; Sprachförderung beziehungsweise berufsorientiertes Kommunikationstraining sowie berufspraktische Vorbereitung in diversen Berufsfeldern; Vermittlung in Praktika; schulische Bildung; duale Ausbildung und sozialversicherungspflichtige Beschäftigung sowie Schulungen von Multiplikator(inn)en. Die Netzwerke kooperieren mit den Regeldiensten der Arbeitsverwaltung, der Kommunen und Länder sowie mit Kammern und Wirtschaftsbetrieben, die als "strategische Partner" ebenso eingebunden sind (vgl. zum Beispiel www.fluchtort-hamburg.de oder www.esf-netwin.de).
Um einen Beitrag zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention zu leisten, hat das IvAF-Netzwerk "Fluchtort Hamburg" eine Bestandsaufnahme zur gesundheitlichen Situation im Netzwerk und in seiner Umgebung durchgeführt. Zur Identifizierung gesetzlicher Ausschlüsse gab es zudem in Kooperation mit der Hamburger Universität eine Rechtsexpertise in Auftrag.4 Da der Zugang zu den Leistungen der Sozialgesetzbücher für Migrant(inn)en und Geflüchtete mit körperlichen und seelischen Beeinträchtigungen im Schnittpunkt des Aufenthalts- und Behindertenrechts geregelt ist - mit Auswirkungen darauf, welche Sozialleistungen diese Zielgruppen in den verschiedenen Leistungsbereichen erhalten können -, wurde auf Basis dieser rechtlichen Expertise eine Arbeitshilfe entwickelt.5 Dieser Leitfaden bietet einen Überblick über den Zugang zu sozialrechtlichen Leistungen für die verschiedenen Migrant(inn)engruppen, bezogen auf medizinische Rehabilitation, Teilhabe am Arbeitsleben, soziale Teilhabe, Teilhabe an Bildung sowie Pflege. Neben Hinweisen zur Feststellung einer Schwerbehinderung sowie zur Rechtsdurchsetzung gibt der Leitfaden differenziert Auskunft, welcher Träger für die Erbringung der jeweiligen Sozialleistung zuständig ist.
Rechte und Ausschlüsse am Beispiel eines Leistungsbereichs
Inländer(innen) mit einer Behinderung können zur Teilhabe am Arbeitsleben verschiedene Sozialleistungen erhalten, darunter eine Arbeitsassistenz und Hilfsmittel, behindertenspezifische berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen, rehabilitationsspezifische Ausbildungen, berufliche Weiterbildungen, Zuschüsse für Arbeitgeber, die sie ausbilden oder beschäftigen, sowie Leistungen in Werkstätten für behinderte Menschen (Eingangsverfahren, Berufsausbildungsbereich, Arbeitsbereich).6 Zuständig sind in der Regel die Arbeitsagenturen/Job-Center und nachrangig die Träger der Sozialhilfe, in Ausnahmefällen die Berufsgenossenschaft (nach Arbeitsunfällen) oder auch die gesetzliche Rentenversicherung.7
Aber haben Geflüchtete mit einer Behinderung, die eine Arbeit oder eine Ausbildung aufnehmen möchten, den gleichen Zugang zu diesen Leistungen wie Inländer(innen)?
Anerkannte Schutzberechtigte, Asylsuchende und Geflüchtete mit einer Duldung können von den Arbeitsagenturen/Job-Centern8 einen Großteil der Leistungen unter den gleichen Voraussetzungen wie deutsche Staatsangehörige erhalten, wenn sie sich gewöhnlich in Deutschland aufhalten, was ganz überwiegend anzunehmen ist,9 und wenn sie hier arbeiten dürfen. Ein Arbeitsverbot besteht vor allem für Asylsuchende in Erstaufnahmeeinrichtungen und für Geflüchtete mit einer Duldung, die wegen fehlender Mitwirkung bei der Passbeschaffung nicht abgeschoben werden können.10 Eine vermeintliche "gute Bleibeperspektive"11, bestimmte Deutschkenntnisse oder eine bestimmte Laufzeit des Aufenthaltspapiers sind demgegenüber bei vielen Teilhabeleistungen nicht Voraussetzung für die Leistungserbringung.12
Anders ist die Situation bei der Ausbildungsförderung:13 Bei Geflüchteten ohne Behinderung gibt es hier aufenthaltsrechtliche Einschränkungen.14 So können beispielsweise Asylsuchende im Regelfall keine außerbetriebliche Ausbildung aufnehmen.15 Vor dem Hintergrund höherrangigen Rechts wie der UN-Behindertenrechtskonvention und der EU-Aufnahmerichtlinie stellt sich allerdings die Frage, ob eine Anwendung dieser Einschränkungen auf den Personenkreis der Geflüchteten mit einer Behinderung hier zulässig ist.16
Rechte erkennen und durchsetzen: Beratung ist essenziell
Geflüchtete mit Behinderung haben gegenwärtig nicht generell den gleichen Zugang zu Sozialleistungen wie Inländer(innen); der jeweilige Aufenthaltsstatus kann Ausschlüsse zur Folge haben. Werden aber bei der Rechtsanwendung die Vorgaben des höherrangigen Rechts konsequent berücksichtigt, kann dies in vielen Konstellationen zur Bewilligung der beantragten Leistung führen.
Daher ist es sehr wichtig, dass Geflüchtete mit einer Beeinträchtigung - auch im Rahmen aufsuchender Beratung - über ihre Rechte informiert und beim Geltendmachen von Rechtsansprüchen unterstützt werden.
Anmerkungen
1. Vgl. Engels, D.; Engel, H.; Schmitz, A.: Zweiter Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen. Teilhabe - Beeinträchtigung - Behinderung. Bonn, 2016.
2. Vgl. ebd. sowie Wansing, G.; Westphal, M. (Hrsg.): Behinderung und Migration. Inklusion, Diversität, Intersektionalität. Wiesbaden: Springer Fachmedien, 2014.
3. Vgl. www.ESF.de/portal/DE/Foerderperiode-2014-2020/ESF-Programme/bmas/2014-10-21-ESF-Integrationsrichtlinie-Bund.html; Handlungsschwerpunkt "Integration von
Asylbewerberinnen, Asylbewerbern und Flüchtlingen"
(IvAF).
4. Vgl. Weiser, B.: Sozialleistungen für Menschen mit einer Behinderung im Kontext von Migration und Flucht. Hamburg: passage gGmbH und Universität Hamburg, 2016. Download: www.fluchtort-hamburg.de/artikel/news/sozialleistungen-fuer-menschen-mit-einer-behinderung-im-kontext-von-migration-und-flucht
5. Gag, M.; Weiser, B.: Leitfaden zur Beratung von Menschen mit einer Behinderung im Kontext von Migration und Flucht. Hamburg/Osnabrück, 2017. Download per Kurzlink: https://bit.ly/2WsOySS
6. §§ 49 ff. SGB IX; § 112 SGB III
7. §§ 5 Nr. 2; 6 Abs. 1 Nr. 2, 3, 4 und 7 SGB IX.
8. Für erwerbsfähige Schutzberechtigte sind die Jobcenter zuständig, für die anderen Geflüchteten die Arbeitsagenturen (§ 7 Abs. 1 SGB II; § 1 AsylbLG). Erwerbsfähig ist, wer unter den üblichen Arbeitsmarktbedingungen täglich mindestens drei Stunden arbeiten kann (§ 8 Abs. 1 SGB II).
9. Weiser, B.: Sozialleistungen für Menschen mit einer Behinderung im Kontext von Migration und Flucht. A.a.O., S. 19 ff.
10. § 61 AsylG; § 60 a Abs. 6 AufenthG.
11. Nur im Kontext der Ausbildungsförderung nennt § 132 Abs. 1 S. 1 SGB III als Leistungsvoraussetzung, dass "ein rechtmäßiger und dauerhafter Aufenthalt zu erwarten ist"; § 131 SGB III, der diese Formulierung auch enthält, bezieht sich nur auf Leistungen während eines Arbeitsverbotes.
12. Vgl. auch Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Leitfaden "Flüchtlinge - Kundinnen und Kunden der Arbeitsagenturen und Jobcenter", Stand: März 2019, S. 25, Tabelle 4. Download per Kurzlink: https://bit.ly/30QorVp
13. Hierzu gehören berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen, Berufsausbildungsbeihilfe, ausbildungsbegleitende Hilfen, assistierte Ausbildung, Außerbetriebliche Berufsausbildung und das Ausbildungsgeld (§§ 51; 56; 75; 130; 76; 122 SGB III).
14. §§ 59; 132 SGB III.
15. §§ 77, 78 Abs. 3, 59 SGB III; ein Zugang kann bei vorangegangener eigener oder elterlicher Erwerbstätigkeit bestehen (vgl. § 59 Abs. 3 SGB III).
16. Weiser, B.: Sozialleistungen für Menschen mit einer Behinderung im Kontext von Migration und Flucht. A.a.O.,
S. 25 ff.; S. 98 f.
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