Es fehlt eine unabhängige Stelle, die über alle Angebote informiert
Das von Stift Tilbeck1 initiierte, partizipative Forschungsprojekt "SliQ - Selbstständig leben im Quartier" hat einen Ansatz entwickelt, der es von Behinderung oder altersbedingten Beeinträchtigungen betroffenen Menschen und deren Angehörigen erleichtert, Rat und Unterstützung zu bekommen. Ziel dabei ist, dass die Menschen möglichst lange selbstbestimmt und selbstständig wohnen können, sich selbst versorgen und Teilhabe im Wohnquartier erfahren.2 Die eigenständige häusliche Versorgung wird von den meisten als Idealform betrachtet. Vor allem der nahe Wohnraum - das Wohnquartier - wird für ältere Menschen aufgrund des sich zunehmend verringernden Aktionsradius und der daraus resultierenden sozialraumnahen Versorgung immer wichtiger. Aktuell wird allerdings deutlich, dass diese eigenständige Versorgung, die bisher lange durch das familiäre Hilfesystem gestützt wurde, aufgrund des demografischen und sozialen Wandels zunehmend an ihre Grenzen gerät. Die Zahl der älteren und hochaltrigen Menschen in Deutschland steigt stetig an, während parallel gerade in ländlichen Regionen große Versorgungsengpässe entstehen. Grund dafür ist die Binnenmigration der jüngeren Menschen, die zunehmende Berufstätigkeit von Frauen und der daraus oft entstehende Verlust familiärer Hilferessourcen. Fallen diese privaten Leistungen weg, erhöht dies nicht nur den Druck auf die Kommune oder das Pflege- und Gesundheitssystem, sondern auch auf die Menschen selbst. Es kann dazu führen, dass Menschen mit Funktionsbeeinträchtigungen die eigenständige Versorgung, solange es irgendwie möglich ist, selbst übernehmen und dadurch schneller an ihre Grenzen der selbstständigen Lebensführung geraten.
Die meisten informieren sich erst, wenn sie akut Hilfe brauchen
Auch die Beratungserfahrungen von Stift Tilbeck zeigen, dass Betroffene sich erst im Akutfall, also wenn die selbstständige Lebensführung bereits stark gefährdet ist, mit dem Thema Alter und Pflege auseinandersetzen. Doch was ist der Grund, dass Beratungs- und Unterstützungsangebote nicht angenommen werden? Liegt es an der Qualität der Angebote oder reichen sie nicht aus? Oder führt die Unkenntnis über die Leistungsansprüche der Betroffenen und Angehörigen zu einem schnelleren Verlust der Selbstständigkeit?
Das Projekt SliQ hat in drei Jahren Laufzeit diese Phänomene und Entwicklungen in zwei ausgewählten Quartieren, in der ländlichen Gemeinde Nottuln (Kreis Coesfeld) und dem Stadtteil Dorenkamp in Rheine (Kreis Steinfurt) in zwei Schritten untersucht.
Zu Beginn wurden die Beratungs- und Unterstützungsangebote analysiert, um sich einen Überblick über die Infrastruktur, Demografie und die Versorgungslandschaft für Menschen mit Behinderung und Menschen im Alter zu verschaffen und die Quartiere kennenzulernen. Danach wurden Bürger(innen) und Expert(inn)en quantitativ und qualitativ befragt.3
Die erste Analyse, die aus einer Onlinerecherche, Quartiersbegehungen und Gesprächen mit engagierten Bürger(inne)n sowie Verantwortlichen der Gemeinde- und Stadtverwaltung bestand, zeigte, dass es in beiden Quartieren bereits viele professionelle und nichtprofessionelle Präventions- und Unterstützungsangebote gibt. Vor allem traditionell gelebtes Ehrenamt, das die Gemeinschaft stärkt, Teilhabemöglichkeiten und niedrigschwellige Angebote schafft, ist ein wichtiger und fester Bestandteil in den Wohnorten.
In den anschließenden Befragungen wurde aufgrund der Vielfältigkeit der Bürgerschaft ein Methodenmix aus klassischem Fragebogen, Einzel- und Gruppeninterviews, betreuter Pinnwand und einem Bürgersofa angewendet. Dieser zweite Teil der Untersuchung ergab ein umfangreiches Meinungsbild der Bürger(innen) und Expert(inn)en über die Versorgungsstruktur im Quartier sowie das Nutzerverhalten und die Zufriedenheit mit vorhandenen Hilfsangeboten.
Die Anbieter sind bekannt, nicht aber die richtige Anlaufstelle
Die anfängliche These, dass die Nichtinanspruchnahme von Beratungs- und Unterstützungsangeboten insbesondere mit der Qualität oder Quantität zusammenhängt, konnte nicht verifiziert werden. Dies lässt den Schluss zu, dass die Angebote sowohl in Nottuln als auch im Stadtteil Rheine-Dorenkamp an sich eine adäquate und gute Unterstützung leisten. Allerdings zeigte sich vor allem in der qualitativen Befragung, dass die Angebote erst sehr spät beziehungsweise bei akutem Bedarf genutzt werden. Die Menschen beschäftigen sich nicht gerne mit Themen wie Alter und Pflege. Außerdem wurde deutlich, dass zwar fast alle Träger und Institutionen mit Namen bekannt waren, aber nicht die Angebotsvielfalt und auch nicht die richtigen Anlaufstellen bei speziellen Problemen. Viele beschrieben, dass sie oft die nächstliegende Lösung vor lauter Möglichkeiten nicht erkennen würden, nur zufällig von Angeboten erfahren und überfordert seien, die passenden zu suchen.
Zusammenfassend ergeben sich zwei wesentliche Erkenntnisse:
- Beratungs- und Unterstützungsangebote für Menschen mit Funktionsbeeinträchtigungen und deren Angehörige stehen ausreichend, in qualitativ gut bewerteter, niedrigschwelliger und vielfältiger Form zur Verfügung. Die vorhandenen Strukturen und Informationswege, um diese Angebote nutzen zu können, sind nicht gesichert. Die Menschen bedienen sich vorwiegend informeller Wege, um sich zu informieren, zum Beispiel durch Familienmitglieder, Freunde oder Bekannte. Jene haben aber oft ebenso wenig Kenntnis über den Zugang zu diesen Angeboten.
- Bürger(innen) beschäftigen sich nicht präventiv mit dem Thema Alter und Pflege. Sie benötigen Strukturen, damit sie auch in akuten Situationen schnell das passende Angebot finden.
Um das selbstständige Leben von Menschen mit Funktionsbeeinträchtigungen in ihrem gewünschten Wohnumfeld aufrechtzuerhalten, ist es wichtig, dass sich Betroffene und Angehörige rechtzeitig mit den Themen auseinandersetzen und in Akutsituationen schnell Informationen über Beratung und Hilfen finden. Deshalb werden Strukturen benötigt, die einen schnellen und gleichberechtigten Zugang in das Hilfesystem ermöglichen. Die Betroffenen wünschen sich Klarheit und Orientierung. Vor allem ältere Menschen sahen als Lösung eine neutrale und trägerunabhängige Informationsstelle, an die sie sich wenden können.
Alle Informationen in einer Datenbank gebündelt
Aufbauend auf diesen Erkenntnissen hat das Projektteam im Dialog mit interessierten Bürger(inne)n eine cloudbasierte Datenbank entwickelt, in der alle Angebote einheitlich kategorisiert mobil abrufbar sind. Auch bürgerschaftliche Aktivitäten und ehrenamtliche Dienste werden in diese Datenbank aufgenommen, da sie oft nur im informellen Bereich stattfinden, aber gerade dieser Versorgungsmix auf Quartiersebene der entscheidende stabilisierende Faktor ist, um die Selbstständigkeit von Menschen mit Funktionsbeeinträchtigungen zu erhalten.
Beide Projektpartner, die Gemeinde Nottuln und die Stadt Rheine, arbeiten seit 2019 mit der Datenbank, die stetig weiterentwickelt wird. Dadurch wird es künftig allen Bürge(inne)n möglich sein, sich schnell über passende Angebote zu informieren und auch andere Kommunen können die Datenbank nutzen.
Anmerkungen
1. Die Stift Tilbeck GmbH ist eine Einrichtung in den Bereichen der Hilfen und der Unterstützung für Menschen mit Behinderung und für Menschen im Alter.
2. TNS Emnid Medien- und Sozialforschung GmbH: Wohnwünsche im Alter. Grafikreport, 2011, S. 5.
3. Zu den Expert(inn)en zählen Beratungs- und Unterstützungsanbieter(innen) in den Quartieren.
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