Gibt es ein Rezept für das Gelingen von Inklusion?
"Gute Schule ist wie guter Burger - ist alles drin!" - so brachten Schülervertreter(innen) das Anliegen des Modellprojekts "Schule für Alle" auf einem der zahlreichen Netzwerktreffen auf den Punkt. Das Projekt wurde 2016 von IN VIA Deutschland gestartet und ist heute in drei Regionen gegliedert. Neben dem Etablieren eines bundesweiten Netzwerks liegt ein besonderer Schwerpunkt auf dem Aufbau der regionalen Netzwerke durch den Caritasverband Essen und IN VIA Quakenbrück sowie durch IN VIA Freiburg. Möglichst viele Schulen und Bildungspartner sollen anhand von zehn Mindestkriterien zur Organisation einer inklusiven Schule in Bewegung gebracht sowie gesellschaftliche Veränderungsprozesse angestoßen werden.
Konzeptionelle Grundlage des Projekts ist das Community Organizing1 – ein Ansatz der zivilgesellschaftlichen Selbstorganisation, um ein lösungsorientiertes, öffentliches Engagement auf breiter gesellschaftlicher Basis von unten aufzubauen. Im Mittelpunkt steht die Aktivierung und Beteiligung von Schlüsselpersonen auf der Basis von Beziehungsarbeit. Als Schlüsselpersonen gelten Menschen, die eine besondere Leidenschaft für das Thema Inklusion aufbringen und für Veränderungen „brennen“. Berufliche Zuständigkeiten und Fachlichkeit spielen demgegenüber eine relativ untergeordnete Rolle – wobei aber im Projekt „Schule für Alle“ auf eine multiprofessionelle und -perspektivische Zusammensetzung ge­achtet wird.
Zentrale Elemente sind der Aufbau eines Netzwerks sowie die Entfaltung seiner Wirkung in konkreten Aktionen. In Ergänzung zum klassischen Konzept von Community Organizing zielen die Aktionen in diesem Projekt damit nicht nur darauf ab, politischen Druck aufzubauen, sondern zugleich auf konkrete Wege der Umsetzung.
Wissenschaftliche Begleitung fragt nach guter Praxis
Inwieweit und wodurch dies gelingt, wird durch das Institute of Research and Educa­tion der Medical School Hamburg prozessbegleitend evaluiert. Dem dienen teilnehmende Beobachtungen von Netzwerkaktionen sowie Befragungen der Netzwerkakteure mittels qualitativer Leitfaden-Interviews. Ein besonderer Wirkfaktor – so das Ergebnis – liegt darin, dass die verschiedenen Aktionen, die in den jeweiligen regionalen Kontexten auf unterschiedlichen Ebenen stattfinden, zu­gleich übergreifend gebündelt und systematisiert werden, um so eine größere Schlagkraft zu entwickeln. Diese Vielfalt verdeutlichen im Folgenden drei Praxisbeispiele aus den einzelnen Modellregionen.
Familien einbinden
Das „Familienklassenzimmer“ beziehungsweise die „Multifamilientherapie“ ist ein Gruppenprogramm für Familien, deren Kinder gravierende Verhaltensproblematiken zeigen. Ziel ist es, einem Schulausschluss entgegenzuwirken beziehungsweise die Kinder wieder in ihre Klassen zu integrieren.2 Die Besonderheit des Ansatzes besteht darin, das verhaltensauffällige Kind nicht isoliert zu betrachten, sondern das Verhalten – verbale oder körperliche Aggressivität gegenüber Mitschüler(inne)n, Schulschwänzen etc. – als Teil eines komplexen Wirkungsgefüges des jeweiligen Familiensystems zu begreifen. Damit wird die Familie als zentraler Teil des schulischen Geschehens einbezogen: Familien mit ähnlichen Problematiken treffen sich einmal wöchentlich im geschützten Rahmen des Familienklassenzimmers, um gemeinsam mit ihren Kindern unter fachlicher Begleitung an einer Analyse und Veränderung ihrer komplexen Wirkungs- und Handlungsmuster zu arbeiten. Es ist in der Schule angesiedelt und in den Schulalltag integriert, um so die Kooperation zwischen Schule und Elternhaus zu stärken. Dementsprechend gibt es schulische Sequenzen (zum Beispiel lösen die Kinder individuell Aufgaben und werden dabei von ihren Eltern unterstützt) ebenso wie beziehungsfördernde Aktivitäten (zum Beispiel Gestalten eines Familienwappens). Durchgängig werden Freiräume dafür ge­schaffen, dass sich die Familien in der Gruppe gegenseitig anregen und unterstützen (zum Beispiel im Umgang mit Konflikten). So gelingen Vernetzung und ein Aufbrechen von Isolation und starren Systemgrenzen, die eine Veränderung häufig behindern. „Gut war auch, dass wir nach Ende der Familienklasse uns weiter mit den anderen Familien getroffen haben. Das hilft auch, wenn es mal wieder schwierig wird“, äußerte ein am Projekt teilnehmender Vater.
Dass die Einrichtung eines solchen Familienklassenzimmers individualisierte Lernangebote ermöglicht, um so der Diversität der Schülerschaft gerecht zu werden (hier bezogen auf unterschiedliche soziale, familiäre Hintergründe), entspricht dem Mindestkriterium 5 einer Schule für alle. Und gemäß Mindestkriterium 1 wird die klare Botschaft gesendet: Alle Kinder sind willkommen. Diese Aktion der Region Nord ist ein Beispiel dafür, wie eine Schule für alle punktuell, aber konkret vor Ort umgesetzt werden kann.
100 Grundschulen zur Teilnahme gewinnen
Gleichzeitig eine Wirkung in der Breite zu erzielen, peilt das zweite Beispiel (aus der Re­gion Süd) an: Die Kampagne „100 Grundschulen für inklusive Bildung“ will 100 Vorreiter aus dem Grundschulbereich versammeln, die in ihrer täglichen Arbeit zeigen, wie gemeinsames Lernen gelingt. Inklusiven Unterricht an allen Grundschulen Realität werden zu lassen, damit alle Kinder in ihrem eigenen nahen Sozialraum zur Schule gehen können, ist ein Kernziel des Projekts „Schule für Alle“.
Die Kampagne knüpft an die erfolgreiche Mobilisierung von Haupt- und Realschulen an, die es im Vorfeld der Errichtung von Gemeinschaftsschulen 2012 in Baden-Württemberg gegeben hat. Aufbauend auf dieser Erfahrung einer positiven Veränderung der Schullandschaft sollen nun die Grundschulen angesprochen werden, mit dem Ziel einer ähnlich kraftvollen Bewegung im Sinne des Projektziels „Schule für Alle“.
Um diese Kampagne auf den Weg zu bringen, haben sich im November 2018 auf einer konstituierenden Sitzung in Freiburg acht aufbruchsgestimmte Grundschulleiter(innen) und andere Engagierte unter der Moderation der regionalen Projektleitung zu einer „Keimzelle“ formiert. Bei diesem Austausch fiel gleich zu Beginn des Treffens ein Satz, der wie ein gemeinsames, energetisierendes Motto wirkte: „Wir finden es komisch, dass es dafür ein Wort geben muss – Inklusion ist doch etwas Selbstverständliches.“
Der damit gezündete Funke wurde genutzt, um konkrete Fragen und Aufforderungen an Kolleg(inn)en und die Öffentlichkeit zu formulieren:
- Inklusion – denk nach, was das bedeutet.
- Mach Inklusion zur Chefsache.
- Möchtest du nicht auch Mensch sein?
- Was wäre, wenn du eine Beeinträchtigung hättest?
Aktionstag Kinderrechte gibt Schülern eine Bühne
Wie lässt sich für solche Botschaften eine öffentliche Bühne schaffen? Das dritte Beispiel zeigt, wie besondere Anlässe (hier der Tag der Kinderrechte) dazu genutzt werden können, gesellschaftliche Sensibilisierung zu fördern: In der Essener Innenstadt gab es Veranstaltungen und Infostände an einem zentralen Ort, außerdem ein bildungspolitisches Streitgespräch an der Essener Volkshochschule über inklusive Schulen.
Wesentlich für die Veranstaltungen und Stände war, Schüler(inne)n eine Bühne zu schaffen, auf der sie durch musikalische Darbietungen, Redebeiträge, Fotowände etc. ihre Sicht auf und ihre Forderungen an eine Schule für alle ausdrücken konnten. Ihre starke aktive Beteiligung lässt sich auf drei Bedingungen zurückführen:
- Erstens hatten die Schüler(innen) die Möglichkeit, ihre ganz konkreten, alltäglichen Probleme zum Gegenstand ihrer jeweiligen Aktion werden zu lassen: So machte eine Schulklasse durch Fotos, Videos und Presseartikel sehr anschaulich auf ihr marodes Schulgebäude aufmerksam: Der Aspekt der räumlichen Ressourcen (ein Bestandteil von Mindestkriterium 7) – aufgrund eigener Betroffenheit unmittelbar greifbar – was Betroffenheit bei den Passanten auslöste.
- Zweitens gab es Freiraum für Kreativität und Spaß: durch selbst komponierte Songs zum Thema, die emotional berührten. Bei einem Cup-Song, bei dem Schüler(innen) einer 5. Klasse mit großer Freude die rhythmische Begleitung eines Songs auf Bechern übernahmen. Oder beim Tanz-Auftritt der Schülerinnen-Band „No Accurate Description“. An den Aktionsständen rund um die Bühne ließ sich auf kreative Weise die eigene Meinung ausdrücken, zum Beispiel beim „Ehrenamts-Barometer“ zu Faktoren des persönlichen Engagements. Es gab Mitmach-Aktivitäten wie den Bau eines menschenhohen Turms aus Bauklötzen, und ein nahe gelegener Jugendraum mit Billard und Kicker bot den Aktiven eine Rückzugsmöglichkeit. Vor allem diese Mischung aus „eine Bühne erhalten“, „kreatives Mitmachen“ und einer Rückzugsmöglichkeit führte dazu, dass die Schüler(innen) durchgängig Spaß und Motivation zur Beteiligung an dieser Projekt­aktion hatten.
- Drittens bekamen die Schüler(innen) durch diese öffentliche Bühne viel Anerkennung für das Engagement, das sie im Schulalltag zeigen. Zugleich konnten sie an den neuen Anforderungssituationen des Aktionstages wachsen: „Jemand, der die Veranstaltung heute mit organisiert hat, hat mich angerufen und erzählt, dass sie noch jemanden für die Bühne brauchen. Der hat mich damals im Talent-Camp gehört und gefragt, ob ich das machen würde. Und weil das für mich eine neue Erfahrung ist, habe ich gesagt ‚okay, bin ich gerne dabei‘“, erläuterte eine Schülerin ihre Motivation zum Mitmachen.
Zwei Grund­zutaten fürs Gelingen
Anhand der obigen Beispiele wird die Besonderheit des Projektes "Schule für Alle" deutlich: Seine Aktionen setzen auf unterschiedlichen Ebenen an und wirken in die Tiefe, in die Breite sowie in den öffentlichen Raum hinein. Gleichzeitig schafft die Netzwerkarbeit im Sinne von Community Organizing einen gemeinsamen Rahmen. Zwei "Grundzutaten" – um in der eingangs benannten Burger-Metapher zu bleiben – sind dabei für das Gelingen der Aktionen im Rahmen des Projektes entscheidend: Beziehung und Leidenschaft.
Leidenschaft im Sinne von Communitiy Organizing bedeutet, für ein Thema zu brennen. Dahinter steckt der Gedanke, dass Menschen vor allem dann aktiv werden, wenn es um Probleme und Visionen geht, die sie selber teilen und für wichtig halten. Aktionen sind dementsprechend oft von der Tatkraft einzelner Personen abhängig. Das Projekt bietet diesen Schlüsselpersonen eine emotionale Heimat. Bereits vorhandene Energien werden zu einer Gesamtdynamik gebündelt.
Die "Grundzutat Beziehung" bezeichnet eine tragfähige persönliche Verbindung zwischen den Akteur(inn)en. Ziel ist hier das Teilen von Leidenschaft: "Weil mich das irgendwie motiviert, wenn ich merke, dass da viele andere auch so denken wie ich. Wenn man in dem System Schule arbeitet, hat man sonst eher das Gefühl, alleine mit seiner Sicht zu
sein", erklärte eine Schulsozialarbeiterin den Wert der Netzwerkarbeit für ihren persönlichen Einsatz für Inklusion.
Gerade beim Thema Inklusion scheint es (noch) wichtig, mit diesen beiden Grundzutaten die Basis zu legen, um dann mit unterschiedlichen Aktionen die Lebendigkeit rund um Inklusion zu erhalten, sie immer wieder in neuen Kombinationen erlebbar und schmackhaft zu machen - so das Resümee der Projektleitungen, von denen eine konkretisierte: "Das Thema Inklusion ist sehr komplex und teilweise als Begriff in der öffentlichen Diskussion auch verbraucht. Es braucht daher keine technokratische Debatte über Strukturen und Ressourcen, sondern einen Funken, der überspringt und die Menschen im Herzen bewegt und die Menschen bewegt, Ja zur Inklusion zu sagen."
Anmerkungen
1. www.schule-fuer-alle.com/mindestkriterien/
2. Müller, C.; Sznyka, P.: Community Organizing - Was ist das? In: Forum Community Organizing e. V. (Hrsg.): Handbuch Community Organizing - Theorie und Praxis in Deutschland. Bonn, 2014, S. 41-62.
Bührmann, T.; Schmidt, U.: Community Organizing - Eine Methode für kommunale Gestaltungsprozesse auf dem Weg zur "Schule für Alle". In: Der pädagogische Blick Heft 2/2018, S. 110-117.
3. Asen, E.; Scholz, M. (Hrsg.): Handbuch der Multifamilientherapie. Heidelberg, 2017.
Ziel ist ein gutes Lebensumfeld für alle
Konflikte um Gleichwertigkeit: ein Plädoyer für „Soziale Orte“
Gerechtigkeit heißt: annähernd gleiche Chancen für alle
Gefangene vermissen Würde und Menschlichkeit
Hinterlassen Sie einen Kommentar zum Thema
Danke für Ihren Kommentar!
Ups...
Ein Fehler ist aufgetreten. Bitte laden Sie die Seite erneut und wiederholen Sie den Vorgang.
{{Reply.Name}} antwortet
{{Reply.Text}}