Konflikte um Gleichwertigkeit: ein Plädoyer für „Soziale Orte“
Unsere demokratische Kultur, die beansprucht, gleichwertige Lebensverhältnisse zu gewährleisten, sieht sich durch neue sozialräumliche Spaltungen herausgefordert. Die Daseinsvorsorge und die Bereitstellung öffentlicher Güter geraten zum Konfliktfall. Wo hält der Bus in die nächstgrößere Stadt, und wie oft fährt er? Wie werden in ländlichen Räumen Gesundheitsvorsorge und Pflegedienst organisiert? Haben Freibad und Jugendclub noch einen Sinn, wenn junge Familien eine Rarität im dörflichen oder kleinstädtischen Alltag geworden sind?
Mit Blick auf das Altern der Bevölkerung, auf den Wegzug der Jungen sowie auf den Schwund sozialer und baulicher Strukturen wachsen in den ländlichen Räumen Nutzungs- und Verteilungskonflikte. Diese Konflikte fordern neue Antworten, die nicht mehr nur staatlich beziehungsweise örtlich zentral gegeben werden können. Sie müssen aus den lokalen Kontexten, aus dem Engagement der Bürger(innen) kommen. Das „Konzept der sozialen Orte“1 steht hier exemplarisch für neue Wege zur intraregionalen Sicherung des sozialen Zusammenhalts und zur interregionalen Dämpfung sozialer Spaltung.
Welche Nutzungskonflikte gibt es?
Wer nutzt in Zukunft mit welchen Interessen und in welcher Weise ländliche, suburbane und kleinstädtische Räume? Verschiedene Szenarien lassen sich erkennen2:
- Ländliche beziehungsweise kleinstädtische Räume bleiben Arbeitsorte und Lebensmittelpunkte. Zwar können dabei die Infrastrukturen der Daseinsvorsorge schrumpfen und die Sozialstrukturen altern. Dennoch haben wir es mit vitalen öffentlichen Räumen zu tun, in denen die Institutionen der öffentlichen Daseinsvorsorge intakt sind und in denen wirtschaftliche Aktivitäten vor Ort und bürgerschaftliches Engagement sich wechselseitig ergänzen.
Wir treffen hier auf eine wirtschaftlich aktive Mittelschicht von Handwerksbetrieben, Freiberufler(inne)n oder auch industriellen Klein­ und Mittelbetrieben. Hinzu kommen Verwaltungseinheiten unterschiedlicher Größe, die neben kommunalen Aufgaben landes-­ und bundesbezogene Zentralfunktionen übernehmen und ausführen. Der demografische Wandel geht nicht spurlos vorüber, kann aber in funktionsfähigen lokalen Strukturen aufgefangen werden.
Ländliche beziehungsweise kleinstädtische Räume erfüllen Substitutionsfunktionen für mehr oder weniger nahe gelegene Ballungsräume. Sie sind relativ günstige Wohnorte für Arbeitspendler(innen), daher wirtschaftlich nicht belebt oder nur schwach entwickelt, aber von einer durchaus wohlhabenden Mittelschicht bewohnt. Diese Nutzung von Dorf und Kleinstadt hat unmittelbare Auswirkungen auf das soziale Leben dieser Pendlerdörfer. Das lokale Leben passt sich den Rhythmen an, die in der mehr oder weniger nahe gelegenen Großstadt angeschlagen werden. Das Leben in den von Arbeitspendlern geprägten Dörfern und Kleinstädten gründet auf auswärtige Ressourcen, die aber zugleich für lokalen Wohlstand sorgen. - Ländliche beziehungsweise kleinstädtische Räume sind in erster Linie Abwanderungsgebiet. Sie veröden wirtschaftlich und demografisch. Zurück bleiben räumliche und soziale Brachen. Wer gegangen ist, kommt nicht wieder. Und wenn jemand kommt, dann mit strategischer Absicht. Leerlaufende Räume werden besetzt. Die demokratische Öffentlichkeit findet nicht mehr statt. Es entstehen neue bürgerschaftliche Aktivitäten, die sich in einigen Fällen allerdings weit von der demokratischen Gestaltung lokaler Öffentlichkeit entfernt haben. Integrativer Bürgersinn wird von Ausdrucksformen nationalistischer Selbstbehauptung oder von clanartigen Sozialverbänden ("Hells Angels") abgelöst. Sozialleistungen, Bildungs- und Beratungsangebote werden Gegenstand "politischer Bewegungen" und sind nicht mehr in der Hand der öffentlichen Verwaltung.
- Der ländliche Raum wird Fluchtpunkt und Rückzugsraum für erholungsbedürftige Städter(innen). Die "Generation Landlust" findet hier soziale und kulturelle Projektionsflächen für ihre Vorstellung vom "guten Leben". Wir haben es dann mit zeitlich teilentleerten ländlichen Räumen zu tun, die sich an Wochenenden und in Ferienzeiten füllen, die Investitionsgegenstand, aber kein Alltagsort mehr sind. In einer wohlhabenden Gesellschaft ist das ein starker Trend, der vermutlich mit dem Einstieg der Wohlstandsschichten der Babyboomer-Generation in das Rentenalter noch erheblich zunehmen wird.
Doch zugleich erfordert dieser Trend infrastrukturelle Voraussetzungen. Die Nutzung als attraktiver Fluchtpunkt gelingt nur, wenn eine bestimmte Ausstattung mit Einrichtungen der Daseinsvorsorge und der öffentlichen Güter gewährleistet ist. - Schließlich: Der ländliche Raum ist nur noch periodisches Nutzungsgebiet – in der Ferienzeit oder am (verlängerten) Wochenende. Hier geht es nicht um die Etablierung dörflicher oder kleinstädtischer Regionen als Fluchtpunkte und dauerhafte Rückzugsorte, sondern um die Entwicklung von Teilzeitorten. Die soziale Bindung an den konkreten Ort begrenzt sich auf Freizeitgelegenheiten. Im Unterschied zur vorgenannten Variante ist die Nachfrage nach öffentlichen Gütern und Infrastrukturen weit begrenzter – denn am Montagmorgen ist man ja wieder weg.
Von Pendlerdörfern bis zum Touristenrefugium
Diese Szenarien zeigen sehr deutlich: Von „dem“ ländlichen Raum kann nicht die Rede sein. Die jeweiligen Typen ländlicher Räume – die wirtschaftlich aktive Region, das Pendlerdorf, das Touristik-Refugium und die Teilzeitorte – haben eine markant voneinander abweichende Sozialstruktur, Wirtschaftsform und auch kulturelle Lebensweise. Mit anderen Worten: Im ländlichen Raum wachsen soziale, ökonomische und kulturelle Ungleichheiten. Ländliche Räume werden einander immer unähnlicher! Dasselbe gilt für die Landbewohner oder die Bevölkerung in Dörfern und Kleinstädten. Sie differenzieren sich in die, die bleiben wollen, die bleiben müssen und die, die immer mal wieder bleiben können! Daher spricht sehr vieles dafür, dass Nutzungskonflikte das Leben in ländlichen Räumen in Zukunft stärker prägen werden. Schon am Beispiel der differenzierten Nutzung ländlicher Räume zeigt sich, dass ein Dorf oder eine Gemeinde auf dem Lande von den Gütern, Ressourcen und Dienstleistungen lebt, die dort vorgehalten und angeboten werden. Doch wo werden mit welcher Begründung öffentliche Güter und Dienstleistungen finanziert? Was sind die Maßstäbe für Entwicklung oder Abwicklung? Wer darf seine Schule behalten, welche Verwaltungsstelle wird zusammengelegt, welche Versorgungseinrichtung wird geschlossen? Verteilungskonflikte kommen ins Spiel.
Welche Verteilungskonflikte entstehen?
Diese Konflikte verändern in vielfacher Hinsicht das Leben vor Ort. Wenn die Schule oder die Verwaltungsstelle schließt, wenn Kirchengemeinden zentralisiert werden, wenn der Arzt die Praxis aufgibt oder wenn die Einrichtungen der Wohlfahrtspflege in den nächstgrößeren Ort verlegt werden, dann gehen mehr als Infrastrukturangebote verloren, die die Menschen nicht mehr nutzen können. Denn es verändert sich auch das lokale Sozialgefüge. Die sozialen Milieus, die gesellschaftlichen Kreise, die Familien verkleinern sich oder verschwinden in der Generationenfolge. Das Besondere dieser Milieus ist ja nicht nur, dass sie ihre professionellen Rollen ausfüllen, indem sie als Ärzte, Lehrer oder Verwaltungsmitarbeiter praktizieren. In diesen Milieus spiegeln sich eigenverantwortliche und gemeinsinnige Lebensformen, die soziale Ausstrahlung auf das Leben in Dorf und Gemeinde besitzen.
Arbeitspendler sind selten lokal engagiert
So haben der Abbau sozialer Strukturen und die Aufgabe von Infrastrukturen weiterreichende Effekte. Aufträge der öffentlichen Hand stützen lokale Handwerksökonomie und Kleinbetriebsstruktur. Das bürgerschaftliche Engagement kommt zu guten Teilen aus diesem Umfeld. Die Kirchenvorstände, Sporttrainer und Ortschronisten, die für ein lokales Leben von hoher Bedeutung sind, haben in den sicheren und auskömmlichen Zonen der Arbeitswelt ihr berufliches Zuhause. Wer öffentliche Leistungen in der Fläche politisch und fiskalisch kujoniert, der zermürbt auch die Bereitschaft und Fähigkeit zum außerberuflichen Engagement in Dorf und Kleinstadt. Arbeitspendler sind selten lokal engagiert. Und wer nur noch mit sich selbst und seinen prekären, befristeten und unsicheren Arbeitsverträgen beschäftigt ist, der wird keine Zeit und Kraft finden, sich außerhalb des Berufs für anderes zu interessieren.
Ehrenamt und zivilgesellschaftliche Arbeit haben drei Voraussetzungen: lokale Bindung, soziale Sicherheit und berufliche Verbindlichkeit. Wenn die Landarztpraxis verschwindet, Personal in der kommunalen Verwaltung drastisch reduziert wird oder die örtliche Polizeidienststelle wegfällt, hat dies nicht nur organisatorische Konsequenzen. Diese Prozesse reißen empfindliche Lücken in das Sozialgefüge vor Ort. Die Mitte der kommunalen Gesellschaft schwindet. Typische Berufe der Mittelschicht, die Raum für außerberufliches Engagement lassen, verlieren an Gewicht. An dieser Entwicklung zeigt sich noch einmal deutlich, dass sich in Verteilungskonflikten nicht nur Versorgungsfragen spiegeln, sondern auch Fragen der Engagement-Bereitschaft und der Zukunft lokaler Verantwortungsträger.
Das Soziale-Orte-Konzept als Antwort
An diesen Fragen setzt das Soziale-Orte-Konzept an, das auf die Sicherung sozialen Zusammenhalts zielt. Der Zusammenhalt ergibt sich nicht von selbst. Er muss aktiv hergestellt werden. Dabei kommt dem Staat eine zentrale Rolle zu: nicht aus Staatsgläubigkeit, sondern weil wir in einer Demokratie leben, die sich verfassungsrechtlich in den Gemeinden, Kreisen, Ländern und dem Bund konstituiert.
Dies bedeutet nicht, dass der Staat die Daseinsvorsorge, die Infrastrukturen und die öffentlichen Güter selbst und allein zur Verfügung stellen müsste oder könnte. Er ist dafür auf das Engagement der Bürgerinnen und Bürger, auf eine aktive Zivilgesellschaft und auf eine kooperative Wirtschaft angewiesen.
Das Soziale-Orte-Konzept sucht interessante Initiativen und Menschen, die in ihrem lokalen Umfeld neue Perspektiven für gesellschaftlichen Zusammenhalt entwickeln. Das Soziale-Orte-Konzept erzählt keine Verlustgeschichte ländlicher Räume, sondern nimmt die skizzierten Konflikte in einem positiv optimistischen Ansatz auf, der gezielt die Menschen in den Blick nimmt und auf ihre Lösungskompetenz vertraut – unterstützt durch Politik und Verwaltung.
Das Konzept richtet sich gegen Absiedlung, plädiert für eine Politik der Gleichwertigkeit und setzt auf die Präsenz öffentlicher Infrastrukturen in der Fläche. Nur dadurch entstehen öffentliche Güter und Institutionen, in denen Staat, Zivilgesellschaft und Unternehmen zusammenwirken können. Das Soziale-Orte-Konzept macht sich auf die Suche nach den Virtuosen des Wandels und nicht nach den Verwaltern des Niedergangs.
Das Soziale-Orte-Konzept setzt an Prinzipien der katholischen Soziallehre an. Es vertraut auf die Kraft sozialer Bindungen vor Ort, in denen familiäre Beziehungen eine wichtige Rolle spielen. Es zeigt sich anpassungsfähig an lokale Umstände. Es ist hybride im Sinne der Tatsache, dass es weder staats- noch marktfixiert ist. Es stärkt den ländlichen Raum – kurzum: Es formuliert den Gedanken der Subsidiarität in Zeiten neuer sozialräumlicher Disparitäten und wachsender Konflikte um gleichwertige Lebensverhältnisse neu.
Anmerkungen
1. Vgl. Kersten, J.; Neu, C.; Vogel, B.: Das Soziale-Orte-Konzept. Ein Beitrag zur Politik des sozialen Zusammenhalts. In: Umwelt- und Planungsrecht 2/2017, Seiten 50–56.
2. Vgl. auch das neue caritas Spezial 1/2016: Demografischer Wandel – die Caritas packt’s an.
Ziel ist ein gutes Lebensumfeld für alle
Gerechtigkeit heißt: annähernd gleiche Chancen für alle
Gefangene vermissen Würde und Menschlichkeit
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