Ziel ist ein gutes Lebensumfeld für alle
Wir erleben – in Deutschland wie in anderen Ländern und Erdteilen – gerade eine Epoche der Unübersichtlichkeit und Unsicherheit. Globalisierung, Migrationsbewegungen und die durch neue Medien vorangetriebene unbeschränkte Kommunikation haben zu einer immer stärkeren Entgrenzung geführt. Die Menschen suchen vermehrt nach neuen Bezügen und Haltepunkten. Gesellschaftlicher Zusammenhalt entsteht in der Lebenspraxis der Menschen. Er ist keine definierte Größe und kein feststehender Zustand, sondern ein politisch-sozialer Prozess, den es zu gestalten gilt.
Gleichzeitig wird die Bevölkerungsentwicklung in Deutschland durch niedrige Geburtenraten, steigende Lebenserwartung und den Zuzug von Menschen mit Migrationshintergrund geprägt. Das Ungleichgewicht zwischen Ost und West, zwischen stark schrumpfenden kleineren Orten und rapide wachsenden Städten, zwischen Arm und Reich nimmt zu. Im ländlichen Raum können Infrastrukturen der Daseinsvorsorge nicht mehr in ausreichendem Maße vorgehalten werden. In den Städten und Ballungsgebieten ist die Wohnungsnot zu einer sozialen Wirklichkeit geworden, die letztlich zu einem Auseinanderdriften der Lebensräume führt und den sozialen Zusammenhalt gefährdet.
Wie kann vor diesem Hintergrund gesellschaftlicher Zusammenhalt gelingen und wie können gleichwertige Lebensverhältnisse und gleichberechtigte Teilhabe gewährleistet werden? Darüber berät seit September 2018 die Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ unter Vorsitz von Bundesinnenminister Horst Seehofer zusammen mit anderen Ressorts und Akteuren aus den Ländern und kommunalen Spitzenverbänden. Ziel der Kommission ist unter anderem,
1. die Finanzlage der Kommunen mit Blick auf die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse zu untersuchen,
2. ein gesamtdeutsches Fördersystem des Bundes für strukturschwache Regionen zu entwickeln,
3. Impulse zu setzen, um Kommunen in ganz Deutschland baulich und funktional zu stärken, attraktives Wohnen, Arbeiten und Leben zu ermöglichen,
4. Konzepte zu entwickeln, wie eine angemessene Ausstattung aller Regionen mit hochleistungsfähigen Infrastrukturen – insbesondere digitalen Infrastrukturen und neuen Mobilitätsangeboten – gelingt,
5. Maßnahmen für eine flächendeckende Infrastruktur zur Versorgung der Bevölkerung mit Leistungen der sozialen Daseinsvorsorge zu entwickeln und
6. Rahmenbedingungen für einen starken gesellschaftlichen und kulturellen Zusammenhalt und eine solidarische Gesellschaft zu schaffen sowie das ehrenamtliche Engagement vor Ort zu fördern.
Sechs Arbeitsgruppen arbeiten zu folgenden Themen:
1. kommunale Altschulden,
2. Wirtschaft und Innovation,
3. Raumordnung und Statistik,
4. technische Infrastruktur,
5. soziale Daseinsvorsorge und Arbeit,
6. Teilhabe und Zusammenhalt der Gesellschaft.
Zu diesen Arbeitsgruppen werden Vertreter(innen) von Wissenschaft, Wirtschaft, der Zivilgesellschaft und der Wohlfahrtsverbände beratend hinzugezogen. Bis Mitte 2019 sollen erste Ergebnisse zum Fördersystem des Bundes für strukturschwache Regionen vorgestellt werden, das Gesamtergebnis soll bis Herbst 2020 vorliegen. Der Deutsche Caritasverband hat sich bislang in der Arbeitsgruppe 6 zu „Wohnen und Lebensumfeld“ sowie „Demokratieförderung und Engagement“ einbringen können.
Eine Struktur des Zusammenhalts schaffen
Infrastrukturen der Daseinsvorsorge ermöglichen als eine Art „raumbezogene Grundsicherung“ gleichwertige Lebensverhältnisse und sichern damit annähernd gleiche Chancen für die individuelle Entwicklung in einer Region. Aus Sicht der Caritas muss die Politik diese subjektbezogene Perspektive der Infrastrukturpolitik erkennen und vor dem Hintergrund der Frage nach sozialer Gerechtigkeit gestalten. Denn der Begriff der „Daseinsvorsorge“ ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, der nicht bundeseinheitlich geregelt werden kann, sondern für einen spezifischen Raum in strukturpolitischen Prozessen auf nationaler und europäischer Ebener ausgehandelt wird. In dieser Debatte muss geklärt werden, wie die Daseinsvorsorge vor Ort ihre Funktion konkret erfüllen kann, vor allem, Kohäsion zu sichern (das heißt eine Struktur des Zusammenhalts zu schaffen), soziale Integration zu gewährleisten (die Teilhabe aller Menschen in ihrer Vielfalt sicherzustellen), Innovation zu ermöglichen (veränderungs- und anpassungsfähig zu sein) und einen sozialen Ausgleich zu schaffen.
Mit der Kommission "Gleichwertige Lebensverhältnisse" wurde ein erster Schritt in diesem Aushandlungsprozess gemacht. Die Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse berührt eine Vielzahl von Aspekten ökonomischer, sozialer und ethischer Art und erfordert einen breiten gesellschaftlichen Diskurs. Deshalb sollte diese Verständigung nicht allein von staatlicher und kommunaler Seite erfolgen, sondern stärker als bisher eine plurale Expertise aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft einbeziehen. Die Kommission "Gleichwertige Lebensverhältnisse" sollte dahingehend geweitet und entsprechende Expertise vermehrt eingebunden werden.
Regionale Daseinsvorsorge als Gemeinschaftsaufgabe
Eine gemeinsame Verantwortung von Bund, Ländern und Gemeinden in der Strukturpolitik besteht bereits bei der Gemeinschaftsaufgabe "Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur". Diese betrachtet allerdings nur die wirtschaftlichen Strukturprobleme. Als räumliche Dimension der Gewährleistung gesellschaftlicher Teilhabe und zur Schaffung sozialer Gerechtigkeit geht die Sicherung gleichwertiger Lebensverhältnisse jedoch darüber hinaus. Neben demografischer Entwicklung (Geburten, Sterbefälle, Wanderung) und Arbeitsmarkt-Indikatoren (Erwerbstätigkeit, Arbeitslosigkeit, Armutsquote) sollten deshalb auch soziale Faktoren wie soziale Infrastruktur, Bildung, Kultur und bürgerschaftliches Engagement herangezogen werden. Diese Aspekte müssen als Indikatoren in die EU-Regionalleitlinien grundlegend einfließen und eine spezifische Analyse für den jeweiligen Raum ermöglichen, an der sich die Strukturförderung insgesamt ausrichten muss.
Eine solche Infrastrukturpolitik schafft nicht nur die Voraussetzung für die grundrechtliche Entfaltungsfreiheit von Individuen, sondern ist auch Ausdruck des Demokratie-Prinzips sowie des Bundes- und Sozialstaats-Grundsatzes (Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz). Aus diesem Grund können und müssen sich die Länder und der Bund gemeinsam engagieren, wenn es um gleichwertige Lebensverhältnisse geht. Der Vorschlag der Arbeitsgruppe „Teilhabe und Zusammenhalt der Gesellschaft“, die verfassungsrechtlichen Grundlagen und Möglichkeiten einer Mehrebenen-Finanzierung, also von Bund, Ländern und Kommunen, zu prüfen, wird deshalb begrüßt. Eine neue Gemeinschaftsaufgabe „Regionale Daseinsvorsorge“, die sich an der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ nach Art. 91 a GG orientiert, könnte dazu wegweisend sein. Der Bund hätte dabei die Strategie-, Ordnungs- und Koordinierungsaufgaben inne. Das Umsetzen der gemeinsamen Förderkonzepte bliebe gemäß dem Föderalismus-Prinzip in dezentraler Verantwortung und weiterhin Sache der Länder. Ungleichheit in hybriden Sozialräumen überwinden Die Frage nach Ursachen und Strategien, um Ungleichheit in realen Sozialräumen zu überwinden, muss geweitet werden. Auch hybride Sozialräume, in denen sich digitale und analoge Elemente vermischen, müssen betrachtet werden. Hierfür ist ein breit angelegter und ressortübergreifender Dialog notwendig.
Die von der Koalition eingesetzte Kommission „Wettbewerbsrecht 4.0“ zur Harmonisierung und Zusammenführung der rechtlichen Grundlagen im Digitalbereich und die Daten-Ethikkommission zur Erarbeitung eines Entwicklungsrahmens für Datenpolitik, für den Umgang mit Algorithmen, künstlicher Intelligenz und digitalen Innovationen sowie zur Klärung datenethischer Fragen sind ein erster Schritt. Die Fragestellung muss aber um zusätzliche soziale und soziografische Aspekte erweitert werden, denn digitale Teilhabe wird zukünftig auch elementare Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe sein. Sie muss flankiert werden von einer umfangreichen Befähigungsinitiative zum Erwerb digitaler Kompetenzen für alle Altersgruppen. Bei der Digitalen Bildungsoffensive beziehungsweise der Nationalen Weiterbildungsstrategie sollte dies nicht nur bei der Weiterbildung von Arbeitsuchenden, sondern auch im Hinblick auf die von Langzeitarbeitslosen, Menschen mit Beeinträchtigungen und sozial Ausgegrenzten explizit eine Rolle spielen.
Intermediäre Akteure stärken
Rechtliche Grundlagen und staatliche Förderungen sind notwendige, aber nicht ausreichende Bedingungen für gesellschaftlichen Zusammenhalt. So braucht es zudem ein von Toleranz geprägtes Verständnis von Gesellschaft. Es braucht ein Bewusstsein für das Aufeinander-angewiesen-Sein trotz oder gerade wegen der Heterogenität unserer Gesellschaft. Im Rahmen einer verständigungsorientierten Kommunikation muss zu einer sachlichen Argumentation zurückgefunden werden, die unterschiedliche Perspektiven zulässt und eine Debattenkultur fördert. Infrastrukturen der Daseinsvorsorge sind hier Orte der Begegnung, die Austausch und sozialen Kontakt ermöglichen. Sie sorgen als eine Art "raum- und quartiersbezogene Grundsicherung" für Teilhabe an der Gesellschaft. Insoweit kommt den Wohlfahrtsverbänden als gemeinwohlorientiertes "Gerüst der sozialen Infrastruktur" in der Daseinsvorsorge eine besondere Verantwortung zu. Sie sind intermediäre Instanzen, die zwischen den zivilgesellschaftlichen Akteuren, aber auch zwischen Staat und Wirtschaft vermitteln und Solidarität in der Gesellschaft fördern. Sie beziehen die Menschen aktiv mit ein und fördern Partizipation und Beteiligung. Freiwilligenagenturen, Mehrgenerationenhäuser oder Quartierbüros sind Fundament und Integrationsmodus eines demokratischen Wohlfahrtsstaates und als solche notwendiger Bestandteil bei der aktiven Gestaltung gleicher Lebensverhältnisse.
Ziel ist ein gutes Lebensumfeld für alle
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