Gefangene vermissen Würde und Menschlichkeit
Der Strafvollzug soll die Gefangenen auf ein straffreies Leben in sozialer Verantwortung vorbereiten.1 Daraus resultiert eine paradoxe Anforderung: In einer Umgebung des Entzugs fundamentaler Freiheiten sollen die Gefangenen lernen, sich als freie und verantwortliche Bürger(innen) zu verhalten. Dies gelingt nicht immer, die Rückfallraten sind hoch. Die Gründe dafür sind vielfältig und seit Jahren Gegenstand wissenschaftlicher Forschung.2 Im Haftalltag werden den Gefangenen kaum Wahlmöglichkeiten eingeräumt. Trägt dies zu den hohen Rückfallquoten bei? Könnte mehr Selbstbestimmung im Strafvollzug helfen, diese zu senken?
Mit diesen Fragen ist auch die Ethik angesprochen: Sie verkürzt sich nicht auf „du darfst“ und „du sollst“, sondern reflektiert das, was im Alltag gelebt wird, und will so zu einem gelingenden Leben beitragen. Eine zentrale Grundlage der Ethik ist die Aussage, dass der Mensch frei und selbstbestimmt ist und dementsprechend handeln kann. Ohne diese Voraussetzung kann dem Menschen keine Verantwortung für sein Leben zugesprochen werden. Diese Annahmen sind der Grund dafür, dass jeder Mensch in seiner Würde geachtet werden muss.
Mit Blick auf die Institution Gefängnis wird jedoch deutlich, dass dem Ausleben der eigenen Freiheit Grenzen gesetzt sind. Ein äußerer Freiheitsentzug mag unter gewissen Voraussetzungen unausweichlich sein. Die (innere) Selbstbestimmung der Inhaftierten aber derart zu beschneiden, dass diese sich nicht als Menschen anerkannt fühlen, kann aus ethischer Perspektive niemals gutgeheißen werden.
Studie: mehr Selbstbestimmung für Gefangene
Wie erleben die Gefangenen den Mangel an Selbstbestimmung? Wie könnte der Strafvollzug Selbstbestimmung fördern und ermöglichen? Dazu haben das Departement Prison / Justice von Secours Catholique / Caritas France und die Katholische Bundesarbeitsgemeinschaft Straffälligenhilfe (KAGS) gemeinsam mit dem Fachbereich Straffälligenhilfe im Deutschen Caritasverband eine Studie konzipiert. Durchgeführt wurde die Befragung von einem Netzwerk katholischer Organisationen aus acht europäischen Ländern.
Im Mittelpunkt stand die Frage an die Inhaftierten, wie das Gefängnis ihnen mehr Kontrolle über ihr Leben und ihre bürgerlichen Freiheiten geben kann. Darüber hinaus wurden Vertreter(innen) der Justiz und des Strafvollzugs gefragt, wie sie Gefangene bei der Ausübung staatsbürgerlicher Rechte – in der beziehungsweise aus der Haft heraus – unterstützen können. Welche Rolle die Partnernetzwerke der Caritas und die Zivilgesellschaft dabei spielen, war Gegenstand eines dritten Fragenblocks, der sich an Organisationen, die im Gefängnis tätig sind, und die Gefängnisseelsorger(innen) richtete.
Der Rücklauf bestand aus rund 1200 Fragebögen, die aus elf Ländern kamen. Knapp 900 Fragebögen wurden von Gefangenen ausgefüllt. Die Befragung konnte wegen unterschiedlicher Strukturen nicht überall einheitlich realisiert werden. Die Ergebnisse sind daher nicht repräsentativ. In erster Linie verleihen die vielen Statements der Inhaftierten, die mit Methoden der qualitativen Sozialforschung ausgewertet wurden3, der Studie Aussagekraft und Relevanz.4
Die Menschenwürde muss geachtet werden
„How can a man change himself and reintegrate if for a number of years here they treated him like an animal?“ („Wie kann ein Mensch sich ändern und wieder in die Gesellschaft eingliedern, wenn er hier viele Jahre lang wie ein Tier behandelt wurde?“) Zitat aus Litauen.5
Dass viele Gefangene zuallererst Menschlichkeit und Würde im Gefängnis vermissen, ist ein wesentliches Ergebnis der Studie. Denn die Achtung der Menschenwürde ist eine fundamentale Voraussetzung, dass Gefangene ihre Entscheidungsmöglichkeiten und Selbstbestimmung hinterfragen und sich um Verbesserung bemühen können. Erfahrungen von Anerkennung und Respekt sind einerseits nötig, um die im Gefängnis bedrohte Würde zu schützen, andererseits tragen sie aber auch zur Bewahrung von Identität und geistiger Gesundheit bei. Häufig wurde beklagt, dass die Haftstrafe es nicht zulasse, sich als eigenständige Personen zu fühlen, wofür die Dominanz des Sicherheitsparadigmas verantwortlich gemacht wurde.
Positive Wirkungen auf ihre Selbstbestimmung schreiben die Gefangenen Aktivitäten im Strafvollzug zu, mit denen sie grundlegende Bedürfnisse erfüllen können. Genannt werden vor allem der Sport und die Besuche von Personen außerhalb des Strafvollzugs. Hingegen werden die von Verwaltung und Sozialarbeit initiierten befähigenden Angebote von den Gefangenen selbst als weniger wichtig angesehen. Viele Inhaftierte hatten Schwierigkeiten, sich überhaupt andere als die bekannten Betätigungen vorzustellen. Dies verweist auf die geringen Auswahl- und Befähigungsmöglichkeiten, die der Gefängniskontext bietet.
Die Bedürfnisse der Gefangenen variieren im Haftverlauf. Während der Haftzeit stehen Kommunikation, Austausch, Entspannung, Unterstützung, Begleitung und das Wiedererlangen des Selbstwertgefühls im Vordergrund. Rückt der Entlassungszeitpunkt näher, wächst dagegen der Wunsch nach zukunftsorientierten Maßnahmen wie der Erhaltung der beruflichen Fähigkeiten oder der Erwerb neuer Fähigkeiten.
Nicht wertende, unterstützende Beziehungen
„Being able to express oneself makes it possible to stay socialized; being able to choose would make it possible to keep intact our faculty to decide once we’re released.“ („Sich selbst ausdrücken zu können, macht es möglich, gesellschaftsfähig zu bleiben; Wahlmöglichkeiten würden unsere Entscheidungsfähigkeit auch über die Entlassung hinaus stärken.“)
Zitat aus Frankreich
Trotz der erfahrenen Widrigkeiten können viele Gefangene bestimmte Personen in den Haftanstalten benennen, bei denen sie sich als Individuum fühlen und bei denen ihre Bedürfnisse einen Raum haben. Seelsorger(innen), Lehrer(innen), die ehrenamtlichen Betreuer(innen) und das externe Fachpersonal zur Entlassungsvorbereitung wurden als wichtige Ansprechpartner(innen) genannt. Den Gefangenen ist wichtig, dass es sich dabei um Menschen handelt, die von außen kommen. Auch Mitgefangene – vor allem Landsleute – können eine wichtige Ressource für die Entwicklung von Selbstbestimmung sein.
Das große Bedürfnis nach Außenkontakten zeigt, wie sehr sich das menschliche Leben in Beziehungen vollzieht. Dies gilt – mag es auch paradox erscheinen – vor allem für die Verwirklichung von Selbstbestimmung. Die Ethik kennt dafür das Konzept der „relationalen Autonomie“: Selbstbestimmung besteht nicht in einer Haltung des „Ich kann tun und lassen, was ich will“. Denn die Fokussierung auf die eigenen Wünsche steht einer Weiterentwicklung entgegen. Freiheit verwirklicht sich in Bindung an ein anderes meiner Selbst – wir werden gewissermaßen ‚am Du zum Ich‘, wie Martin Buber es ausdrückte.6 Dies wird in Situationen deutlich, in denen sich Inhaftierte bei Entscheidungen von Mitgefangenen oder von Angehörigen hinterfragen und dadurch anregen lassen. Im tiefen Gespräch, in dem sie sich trauen, ihre eigene Verwundbarkeit offenzulegen, entstehen Freiheitsräume, die allen Beteiligten die Möglichkeit geben zu wachsen und so das Leben in Verantwortung zu gestalten.
Vorurteilsfreie Kontakte nach draußen helfen
„It is most important that sincere and honest people come who do not look at you as a detained person.“ („Am wichtigsten ist, dass aufrichtige und ehrliche Menschen kommen, die dich nicht als Häftling sehen.“)
Zitat aus Litauen
Wenn Gefangene Programme als sinnvoll und befähigend erleben, ist ihre Einstellung zur Haftstrafe insgesamt positiver. Dann wächst ihre Bereitschaft, sich auf Veränderungen einzulassen. Gefangene, die von Suchtprogrammen in Spanien und Irland profitiert haben, Menschen, die an Beratungs- und Mitbestimmungsgremien in Frankreich und Spanien mitwirkten, erzählen von positiven Veränderungen in ihrem Verhalten und ihrer Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen. Gefangene wünschen sich, dass sie Beziehungen aufbauen können, die auf Vertrauen, Nichturteilen und Hoffnung basieren. Es ist ihnen wichtig, mit dem „wirklichen Leben“ (also dem außerhalb des Gefängnisses) in Kontakt zu bleiben und genug Zeit zu haben, um ihre Wiedereingliederung vorzubereiten.
Freie Träger von außen haben hohen Stellenwert
„Being free teaches us how to live as part of a community.“ („Freisein lehrt uns, wie wir als Teil einer Gemeinschaft leben können.“) Zitat aus Frankreich
Die Gefangenen haben in der Studie die besondere Qualität der Beziehungen zu Menschen außerhalb des Strafvollzugs betont, vor allem wegen deren Unvoreingenommenheit. Sie wünschen sich, dass Maßnahmen und Programme von freien Trägern umgesetzt werden, die von außen in den Strafvollzug kommen. Mit gutem Grund basieren die Angebote der Straffälligenhilfe der Caritas auf den Prinzipien der Wahlfreiheit und Freiwilligkeit. Nicht als Teil des Justizsystems, sondern „von außen“ bietet sie eine durchgängige Betreuung auf der Basis von Vertrauen und Vorurteilsfreiheit getragener Beziehungen an. Gefangene können sich dabei im Spiegel der anderen als Mensch sehen, der verschiedenste Ressourcen hat, um seine Zukunft zu gestalten.
Anmerkungen
1. So die Regelung in StVollzG (Bund) § 2. Fast alle Bundesländer haben inzwischen eigene Regelungen erlassen, die diesen Satz leicht variieren.
2. Das Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz beziffert diese auf bis zu 50 Prozent (siehe https://bit.ly/2FamMRs).
3. Wir bedanken uns bei Clémence Brosse, die im Rahmen ihres ehrenamtlichen Einsatzes bei Secours Catholique die Daten ausgewertet und analysiert hat.
4. http://prison-justice-network.eu/publications
5. Diese und die weiteren zitierten Aussagen wurden von Gefangenen im Rahmen der Studie gemacht.
6. Vgl. Buber, Martin: Ich und Du. Stuttgart: Reclam 2018, S. 3 f.
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Konflikte um Gleichwertigkeit: ein Plädoyer für „Soziale Orte“
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