Gerechtigkeit heißt: annähernd gleiche Chancen für alle
Ein Volksentscheid im Oktober 2013 gab den Ausschlag dafür, die „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse und Arbeitsbedingungen“ als Staatsziel in die Bayerische Landesverfassung aufzunehmen. Ursprünglich aus den Raumwissenschaften und der Raumordnungspolitik stammend, wurden gleichwertige Lebensbedingungen dann als gegeben erachtet, wenn allen Bürger(inne)n „ein quantitativ und qualitativ angemessenes Angebot an Wohnungen, Erwerbsmöglichkeiten und öffentlichen Infrastruktureinrichtungen in zumutbarer Entfernung zur Verfügung steht“1. Ganz ähnliche Begrifflichkeiten werden oft in Zusammenhang mit dem Sozialstaatsprinzip genannt, das neben dem Gebot sozialer Sicherheit und Gerechtigkeit auch den staatlichen Auftrag zur „Herstellung erträglicher Lebensverhältnisse für alle“ umfasst. Das Postulat gleichwertiger Lebensverhältnisse wird somit zum räumlichen Pendant des Sozialstaatsprinzips.
Während Letzteres ein Staatsziel ist und in Artikel 20 an prominenter Stelle im Grundgesetz steht, ist dem Begriff der gleichwertigen Lebensverhältnisse kein eigener Artikel gewidmet. Er findet sich bei der Abgrenzung der Gesetzgebungs-Kompetenzen zwischen Bund und Ländern (Art. 72 Abs. 2 GG). Ausnahmsweise darf der Bund bestimmte Aufgaben gesetzlich regeln, die eigentlich den Ländern zugeordnet sind, wenn dies zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse erforderlich ist. Das Aufenthalts- und Niederlassungsrecht der Ausländer(innen), die öffentliche Fürsorge, das Lebensmittel- oder das Straßenverkehrsrecht sind Beispiele für die Notwendigkeit einer bundeseinheitlichen Regelung. Während auf Bundesebene diskutiert wird, ob die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in einer eigenen Gemeinschaftsaufgabe verankert werden soll, hat der Bayerische Landtag im Sommer 2014 eine Enquete-Kommission eingesetzt, die konkrete Handlungsempfehlungen zur Verwirklichung des neuen Staatsziels erarbeiten sollte. Der Arbeitsauftrag in Gestalt eines sehr ausführlichen Fragenkatalogs umfasst sieben Themenschwerpunkte: von allgemeinen und fachübergreifenden Fragen über Wirtschaft, kommunale Finanzausstattung, Infrastruktur, Bildung sowie medizinische Versorgung und Pflege bis hin zu Lebens-, Arbeits- und Wohnbedingungen. Ausgangspunkt der Enquete ist der heute allgemeine Konsens, dass „gleichwertig“ nicht „gleich“ bedeuten kann. Regionale Disparitäten und Ungleichheiten bis zu einem gewissen Grad sind akzeptabel, wenn trotz Unterschiedlichkeiten und Vielfalt für den Einzelnen annähernd gleiche Chancen für die individuelle Entwicklung bestehen und sich Abweichungen in einem akzeptablen Rahmen bewegen.
Der Bericht der bayerischen Enquete-Kommission betont, dass das Postulat gleichwertiger Lebensverhältnisse neben der räumlichen vor allem auch eine gesellschaftspolitische Dimension hat, die nicht nur Mindeststandards definiert, sondern auch die Schere innerhalb der Gesellschaft insgesamt und in den Regionen in den Blick nimmt.2
Vier Dimensionen der Gerechtigkeit
Dabei sind vier Gerechtigkeitsdimensionen zu unterscheiden:3
- Die Verteilungsgerechtigkeit zielt darauf ab, eine angemessene Grundversorgung in guter Qualität sicherzustellen. Diese ermöglicht die Entfaltung der Persönlichkeit und Teilhabe an der Gesellschaft, unabhängig vom Wohnort und von der individuellen Ausgangssituation.
- Ziel der Chancengerechtigkeit ist es, die individuellen Entfaltungsmöglichkeiten zu gewährleisten und zu fördern: Jede(r) soll die gleichen Chancen zur Persönlichkeitsentwicklung und zur Teilhabe an den gesellschaftlichen Errungenschaften haben.
- Die Verfahrensgerechtigkeit will demokratische Teilhabe und Mitgestaltung bei gesellschaftlichen Aushandlungs- und Entscheidungsprozessen gewährleisten, die zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse und Arbeitsbedingungen erforderlich sind.
- Generationengerechtigkeit im Sinne einer solidarischen Gesellschaft zielt auf einen fairen Ausgleich zwischen den Generationen und betont damit die Notwendigkeit, das Nachhaltigkeitspostulat zu berücksichtigen.
Staat: Rahmen für gerechte Verhältnisse schaffen
Die Verwirklichung dieser vier Gerechtigkeitsdimensionen bringt eine Arbeitsteilung innerhalb des staatlichen Gefüges mit sich. Der zentrale Staat hat die Aufgabe, die Rahmenbedingungen für die Verwirklichung der vier Gerechtigkeitsprinzipien bereitzustellen und dafür zu sorgen, dass diese auch gewährleistet sind.
Auf der örtlichen Ebene muss für eine konkrete Ausgestaltung der Gleichheit (räumliche Grundsicherung, Chancengleichheit) und der Vielfalt (spezifische Entwicklungspfade auf der Basis endogener Qualitäten und Potenziale) sowie für die Herstellung von Diskursen über die Akzeptanz von Differenz gesorgt werden. Hier sind neben den Kommunen mittlerweile eine Vielzahl an privaten und zivilgesellschaftlichen Akteuren an der Bereitstellung von Infrastrukturen der Daseinsvorsorge beteiligt. Es braucht folglich hybride Kooperationsformen, in denen staatliche, zivilgesellschaftliche, kommunale und privatwirtschaftliche Akteure zusammenwirken.4
Der Ausgangspunkt einer jeden Handlungsempfehlung ist die Kenntnis des zu beurteilenden Sachverhalts beziehungsweise Zustands. Da sich Gerechtigkeit per se nicht direkt messen lässt, greift man auf Indikatoren zurück, die stellvertretend einen eingetretenen Zustand oder eine Entwicklung sichtbar machen. Für jede Gerechtigkeitsdimension wurden mehrere Indikatoren festgelegt, die sich teilweise von den üblichen Indikatoren des Raumordnungsberichts unterscheiden. So wurde beispielsweise die Verteilungsgerechtigkeit anhand von Indikatoren wie Beschäftigtendichte, Einkommensverteilung, Arztversorgung, Breitbandqualität, Zugang zu Einkaufsmöglichkeiten, Schulen und ÖPNV, Wohnkosten oder Straßenkriminalität gemessen.
Was die Kommission empfiehlt
Die Kommission hat ihren Handlungsempfehlungen zwei Grundannahmen vorangestellt. Zum einen sieht sie leistungs- und gestaltungsfähige Kommunen als einen wesentlichen Hebel zur Herstellung der räumlichen Gerechtigkeit an. Dazu sind eine ausreichende Personalausstattung und Qualifikation sowie genügend Finanzmittel erforderlich. Die Enquete schlägt zweitens für die Sicherstellung der grundlegenden Daseinsvorsorge die Gründung von interkommunalen Versorgungsverbünden vor, „um die kommunalen Aktivitäten so zu koordinieren, dass die Qualität des Gesamtangebots insgesamt gesteigert sowie Konkurrenzen und Kannibalisierungen überwunden werden können“5.
Die weiteren Handlungsempfehlungen orientieren sich am Konzept der räumlichen Gerechtigkeit mit seinen vier Dimensionen. Um Verteilungsgerechtigkeit herzustellen, müssen vor allem eine hochwertige wohnortnahe Grundversorgung und die Erreichbarkeit funktionsfähiger zentraler Orte, auch mit digitaler Technik, gewährleistet sein.
Chancengerechtigkeit erfordert die Bereitstellung von Infrastrukturen und Dienstleistungen der Daseinsvorsorge, die die Entfaltung der Persönlichkeit unterstützen und die Teilhabe an gesellschaftlichen Errungenschaften erleichtern. Dazu gehören neben Verkehrsinfrastruktur, Internet und Mobilfunk auch die (Hoch-)Schul-, Gesundheits- und Kulturversorgung. Über Bürgerbeteiligung und Dialogverfahren kann Verfahrensgerechtigkeit im Sinne der demokratischen Teilhabe und Mitgestaltung hergestellt werden. Ziel ist es, die Menschen möglichst intensiv in Entscheidungsprozesse einzubeziehen, denn es muss immer wieder neu ausgehandelt werden, welches Maß an Differenz akzeptabel ist, und so müssen Interventionsschwellen festgelegt werden. Es müssen Formen der Beteiligung gefunden werden, die sicherstellen, dass gerade die Interessen und Bedürfnisse von vulnerablen gesellschaftlichen Gruppen repräsentiert sind.
Die Generationengerechtigkeit erfordert Strategien und Handlungsansätze, die die Entfaltungsbedingungen kommender Generationen nicht verschlechtern, sondern dazu dienen, sie zu verbessern. Beispielhaft kann die verstärkte Verwendung von regional erzeugten Lebensmitteln sowie die Produktion von Energie aus regenerativen Quellen für wirtschaftliche Wertschöpfung und eine Aufwertung des ländlichen Raums sorgen.
Aktueller Stand der Umsetzung eher dürftig
Im Januar 2018 haben die Freien Wähler unter Bezug auf die Handlungsempfehlungen der Enquete zahlreiche Anträge im Bayerischen Landtag gestellt. Die meisten Anträge wurden jedoch abgelehnt. Erfolg hatte der Antrag, „dauerhaft ein Online-Ideenforum als offene Plattform für alle Bürger und Bürgerinnen einzurichten“.6 Ebenfalls auf die Empfehlungen der Enquete zurück geht der Bericht über „die Bemühungen zum Ausbau regionaler Wertschöpfung durch die Energiewende“, der dem Landtag künftig vorgelegt werden muss, die Bekräftigung, „Ganztagsangebote in der Kinderbetreuung weiterhin bedarfsgerecht auszubauen“ und die Etablierung der Telemedizin im Rettungsdienst (sogenannter Telenotarzt).7
Die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse ist ein langwieriger und oft kleinteiliger Prozess. Erwartungsgemäß haben sich die Verhältnisse in Bayern ein Jahr nach Abschluss der Arbeit der Enquete-Kommission noch nicht grundlegend geändert.
Anmerkungen
1. Raumordnungs-Programm für die großräumige Entwicklung des Bundesgebiets (Bundesraumordnungs-Programm), Bundestags-Drucksache 7/3584 vom 30. April 1975, Seite 6.
2. Bericht der bayerischen Enquete-Kommission, Drucksache 17/19700, Seite 17 ff.
3. Auch aus sozialethischer Sicht sind „Gleichwertigkeit“ oder „Einheitlichkeit“ der Lebensverhältnisse eine Frage der Gerechtigkeit unter den Bewohner(inne)n Deutschlands. Aus: „Zukunft auf dem Land“ – Herausforderungen und Perspektiven für die Politik und die Caritas aus dem demografischen Wandel in strukturschwachen ländlichen Räumen. 2015, Seite 4. Herausgegeben von der Kommission Sozialpolitik und Gesellschaft, einer Kommission der Delegiertenversammlung des Deutschen Caritasverbandes, als Hintergrund für das Impulspapier „Zukunft auf dem Land“ ( beides abzurufen unter www.caritas.de/magazin/kampagne/stadt-land-zukunft/diskussion/forderungen/forderungen ).
4. Bericht der Enquete-Kommission, Drucksache 17/19700, Seite 23.
5. Bericht der Enquete-Kommission, Drucksache 17/19700, Seite 65.
6. Drucksache 17/22142 vom 15. Mai 2018.
7. Drucksachen 17/22155 und 17/21823 vom 19. April 2018.
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