Bundesteilhabegesetz erfordert Korrekturen
Mit der dritten Reformstufe am 1. Januar 2020 tritt auch das Kernanliegen des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) in Kraft. Die Leistungen der Eingliederungshilfe werden aus dem SGB XII (Sozialhilfe) herausgelöst und im SGB IX (Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen) verankert. Zudem entfällt künftig die Trennung von ambulant, teilstationär oder stationär. Dies führt dazu, dass die existenzsichernden Leistungen wie Verpflegung und Unterkunft von den Leistungen der Eingliederungshilfe, insbesondere den Assistenzleistungen, getrennt werden. Für die Leistungen der Eingliederungshilfe gilt künftig ein Antragserfordernis.
Bisher bieten stationäre Einrichtungen der Behindertenhilfe für den gesamten Lebensbedarf der Menschen mit Behinderung eine sogenannte Komplexleistung an. Die Leistung umfasst die Eingliederungshilfe und die existenzsichernden Leistungen. Die stationäre Einrichtung erhält für diese Aufgabe einen monatlichen Geldbetrag vom zuständigen Träger der Sozialhilfe. Daneben erhält der/die Bewohner(in) – der/die Leistungsberechtigte – einen monatlichen Barbetrag zur persönlichen Verfügung (114,48 Euro) und eine Bekleidungspauschale.
Ab dem 1. Januar 2020 sollen die Leistungen personenzentriert erbracht werden. Für die Fachleistungen der Eingliederungshilfe ist in Zukunft der Träger der Eingliederungshilfe zuständig. Die Abrechnung erfolgt wie bisher zwischen dem Träger der Eingliederungshilfe und dem Leistungserbringer, also dem Anbieter der sogenannten besonderen Wohnform (Bezeichnung für die ehemals stationären Wohnformen). Die Leistungen für den Lebensunterhalt (existenzsichernde Leistungen) werden direkt an den/die Bewohner(in) ausgezahlt. Er oder sie muss damit die Kosten für Unterkunft, Verpflegung und persönlichen Bedarf sicherstellen und das Geld – gegebenenfalls mit der Unterstützung einer gesetzlichen Betreuung – auf seinem/ihrem eigenen Konto verwalten. Die besondere Wohnform rechnet mit den Leistungsberechtigten die Kosten der Unterkunft und die Leistungen für den Sachaufwand, die Verpflegung und die Hauswirtschaft direkt ab.
Die Abrechnung mit zwei verschiedenen Kostenträgern bedeutet für Anbieter der besonderen Wohnform einen höheren Verwaltungsaufwand und ein höheres Zahlungsausfallrisiko. Es empfiehlt sich, dieses Risiko durch eine Einzugsermächtigung zu minimieren. Die in einigen Bundesländern derzeit kursierenden pauschalen Abtretungserklärungen für Grundsicherungsleistungen sind rechtswidrig.
Wünsche und Erfordernisse vorher klären
Personenzentrierung kann nur gelingen, wenn in einem ersten Schritt die Wünsche und Erfordernisse von Menschen mit Unterstützungsbedarf sorgfältig erhoben werden. Daher ist es für die besonderen Wohnformen problematisch, dass in nahezu keinem Bundesland der Bedarf der Menschen mit Behinderung nach dem neuen Bedarfsermittlungsverfahren – das seit dem 1. August 2018 gelten soll – festgestellt wird. Da es keine personenzentrierte Beurteilung des Bedarfs gibt, werden die Leistungen der Eingliederungshilfe oftmals möglichst pauschal benannt, um damit verschiedene Fallkonstellationen zu erfassen. Unter die pauschale Leistungsbeschreibung "Assistenzleistungen zur Teilhabe am gemeinschaftlichen, kulturellen und religiösen Leben" können zum Beispiel die Inanspruchnahme und Teilnahme an Veranstaltungen im Sportverein, Stadtfeste, Besuch im Kino, der Bibliothek sowie des Gottesdienstes fallen. Der/Die Anspruchsberechtigte könnte mit Blick auf seinen/ihren personenzentrierten Leistungsanspruch geltend machen, jeden zweiten Nachmittag die Bibliothek zu besuchen und bei einer entsprechend pauschalen Leistungsbeschreibung diesen auch einklagen.
Für den Leistungserbringer führt das zu dem Problem, dass er alle Leistungen, die unter die pauschale Bestimmung fallen, erbringen muss. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Wohnform zum Beispiel für die gewünschte Leistung ausreichend Personal zur Verfügung hat. Dies ist im Hinblick auf den Menschen mit Behinderung und die Intention des Gesetzgebers sachgerecht. Es führt aber in der Praxis dazu, dass die unzureichende Bedarfsfeststellung zulasten des Leistungserbringers geht, wenn er nicht klar gegenüber dem Leistungsträger und dem/der Leistungsberechtigten regelt, welche Leistung er erbringen kann und welche er nicht erbringen kann.
Öffnungsklauseln bei Übergangsvereinbarungen
In fast allen Bundesländern wurden sogenannte Übergangsvereinbarungen zwischen den Vertretern der Eingliederungshilfe und den Vereinigungen der Leistungserbringer zur Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes beschlossen, die unter anderem wegen der fehlenden Bedarfsermittlungsverfahren eine budgetneutrale Umstellung der Leistungen vorsehen. Die meisten Übergangsvereinbarungen sind zunächst auf zwei bis drei Jahre abgeschlossen. Diese treffen beispielsweise - für die Trennung der Leistungen - notwendige Regelungen zur Zuordnung der Flächen. Viele Übergangsvereinbarungen bestimmen, dass pauschal 20 Prozent der Flächen zu dem Bereich der Fachleistung gehören und der Rest der existenzsichernden Leistung, dem Wohnen, zuzuordnen ist. Sieht die Übergangsvereinbarung hier keine Öffnungsklausel für Ausnahmen vor, gelten die Regelungen auch für Wohnformen, die einen besonders großen Anteil an Flächen für Fachleistungen haben. Diese könnten dann letztlich nicht mehr refinanziert sein. Wichtig ist entsprechend für alle Flächen – auch Außenflächen –, Klarheit zu gewinnen, welche Aufgaben diesen zufallen und welche Bedarfe sie decken.
Der Betreiber einer Wohnform muss mit allen Leistungsberechtigten wegen der Trennung der Leistungen neue Wohn- und Betreuungsverträge abschließen. Er ist bei der Ausgestaltung des Vertragsverhältnisses mit dem leistungsberechtigten Menschen mit Behinderung in der Regel an die Vorgaben aus dem Wohn- und Betreuungsvertragsgesetz gebunden und muss daher viele verbraucherschützende Besonderheiten beachten, wie beispielsweise vorvertragliche Informationspflichten.
Gerade im Hinblick auf zukünftige Entgelterhöhungen und den besonderen Schutz des Verbrauchers – hier des leistungsberechtigten Menschen mit Behinderung – besteht eine Schwierigkeit für die besondere Wohnform. Einige Übergangsvereinbarungen sehen pauschalierte Abrechnungen vor. Eine Entgelterhöhung nach dem Wohn- und Betreuungsvertrag ist aber nur zulässig, wenn sich die Berechnungsgrundlage ändert. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn wegen neuer Tarifabschlüsse die Personalkosten steigen. Wenn anstelle der im Wohn- und Betreuungsvertrag geforderten Berechnungsgrundlage auf eine Festlegung in der Übergangsvereinbarung abgestellt wird,ändert sich die Berechnungsgrundlage nach Ablauf der Übergangszeit jedoch nicht. Für die Betreiber der besonderen Wohnformen besteht daher ein gewisses rechtliches Risiko, wenn sie entsprechende Vereinbarungen in den Wohn- und Betreuungsvertrag übernehmen. Sie sollten daher die tatsächlichen Kosten der Unterkunft und Heizung ausweisen, damit die Kosten im Sinne des Wohn- und Betreuungsvertragsgesetzes als vereinbart gelten. Ob ein Gericht dies bei entsprechendem Nachweis als Vereinbarung wertet und die zeitweise Pauschalierung während der Übergangszeit toleriert, kann nicht abschließend beurteilt werden. Neben dem Prozessrisiko bedeutet die Zugrundelegung der tatsächlichen Kosten für die besondere Wohnform einen deutlich höheren Verwaltungsaufwand.
Unklare Umsatzsteuerpflicht
Zudem besteht bei vielen Anbietern noch Unklarheit im Hinblick auf die umsatzsteuerrechtliche Bewertung von Verpflegungsleistungen in besonderen Wohnformen. Lebensmittel oder auch andere Waren sind nicht mehr untrennbar mit den steuerbegünstigten Betreuungsleistungen verbunden und profitieren daher nicht von der Steuerbefreiung. Die konkrete Umsatzsteuerpflicht ist abhängig von der Vertragsgestaltung des Leistungserbringers. Für die Beurteilung des Einzelfalls ist die jeweilige Fallkonstellation zu prüfen. Lebensmittel werden grundsätzlich mit einem Umsatzsteuersatz in Höhe von sieben Prozent versteuert. Kommen jedoch weitere Dienstleistungselemente hinzu, wie die Bereitstellung von Tischen und Stühlen und das Benutzen von Geschirr, so ist die Lebensmittellieferung unter Umständen eine Restaurationsleistung und mit 19 Prozent zu besteuern. Für die Leistungsberechtigten entstehen dadurch deutlich höhere Preise, die der Leistungsanbieter nur durch eine Anpassung seines Konzepts vermeiden kann.
Junge Volljährige müssen Wohngruppe verlassen
Für Wohnformen, die Minderjährige und junge Volljährige betreuen, gibt es eine weitere Herausforderung: Die Fach- und existenzsichernden Leistungen werden bei Minderjährigen auch in Zukunft nicht getrennt erbracht, sondern wie bisher als integrierte Komplexleistung. Junge Volljährige mit Behinderung müssen mit Blick auf das SGB IX mit dem Erreichen des 18. Lebensjahres die Wohnform, zum Beispiel die Wohngruppe, verlassen. Dass sich die Entwicklungsschritte nicht nach starren Altersgrenzen richten, sondern nach der individuellen Lebenssituation, wie beispielsweise dem Abschluss der Schule oder dem gelungenen Eintritt in die Arbeitswelt, spielt nach dem Gesetz keine Rolle, was die Caritas scharf kritisiert.
Der Verbleib in der Wohnform ist nur möglich, wenn die Leistungen mit dem Leistungsträger der Kinder- und Jugendhilfe abgerechnet werden können. Einige Leistungserbringer müssen sich daher um eine Zulassung nach dem SGB VIII bemühen, um durch einen individuellen Übergang Brüche im Leistungsgeschehen für die jungen Volljährigen zu verhindern. Die Caritas-Leistungserbringer erwarten die dritte BTHG-Umsetzungsstufe mit großer Sorge und appellieren an die Politik auf Bundes- und Landesebene, in den gesetzlichen Bestimmungen klare Öffnungs-, Änderungs- und Überprüfungsregelungen festzuschreiben, um noch Raum und Zeit für notwendige Korrekturen zu schaffen.
Bundesteilhabegesetz erfordert Korrekturen
Das Gesetz umzusetzen erfordert noch viel Arbeit
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