Trotz guter Ergebnisse gibt es noch Optimierungsbedarf
In der aktuellen, oft fiskalisch intendierten Debatte werden Jugendhilfen für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF) gleich mehrfach infrage gestellt. So wird gefordert, Hilfen zur Erziehung durch erheblich niederschwelligere und damit kostengünstigere Angebote, beispielsweise Sozialpädagogisch Begleitetes Wohnen nach § 13 Abs. 3 SGB VIII, zu ersetzen. Auch werden Hilfen für junge Erwachsene nach § 41 SGB VIII für junge erwachsene Flüchtlinge seitens mancher Politiker(innen) nicht mehr als finanzierungswürdig bewertet. Daher kommt einer wissenschaftlichen Studie, die die Leistungen und Wirkungen, aber auch deren Hintergründe in den Blick nimmt, zurzeit eine besondere Bedeutung zu. Seit 2014 vom Bundesverband katholischer Einrichtungen und Dienste der Erziehungshilfen (BVkE) in Kooperation mit dem Institut für Kinder- und Jugendhilfe (IKJ) erstellt und mit Mitteln der Glücksspirale gefördert, ist die Studie nun abgeschlossen.1 Damit liegen zum ersten Mal wissenschaftlich gesicherte Aussagen zur Effektivität pädagogischer Arbeit mit diesen besonders belasteten jungen Menschen vor. An dem Projekt beteiligten sich 37 Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen aus Deutschland und Österreich. Die Auswertung basiert auf folgenden Stichprobenumfängen:
- 1272 Hilfen, die in der Aufnahmeeinrichtung zu Beginn der Inobhutnahme dokumentiert wurden;
- 734 Hilfen, für die Informationen zum Beginn der Jugendhilfe vorlagen;
- 182 Hilfen, für die Informationen bei Beendigung der Jugendhilfe vorlagen.
Die unterschiedlichen Lebensläufe
Die jungen Menschen kommen aus 45 Ländern Asiens, Afrikas und Europas. Davon ein knappes Drittel (28,5 Prozent) aus Afghanistan, 15,2 Prozent aus Syrien, jeweils 10,6 Prozent aus Gambia und Eritrea und 9,2 Prozent aus Somalia. Der Anteil männlicher junger Menschen liegt bei 96,5 Prozent. Das Durchschnittsalter beträgt 16,2 Jahre. Im Heimatland lagen eine Reihe von belastenden und zum Teil auch traumatisierenden Erfahrungen vor, so zum Beispiel (Bürger-)Krieg, Gewalt außerhalb der Familie, Armut/Schulden der Familie und Verfolgung. Belastende Erlebnisse während der Flucht sind in besonderem Maße gefährliche Bootsfahrten, Gewalt/Verletzung, Haft, Fluchttrauma und (Bürger-)Krieg.
Daten zur Inobhutnahme
Die evaluierten Inobhutnahmen dauerten im Durchschnitt 1,8 Monate. Begleitung zu ärztlichen Untersuchungen, zu Ämtern und das Hinzuziehen von Dolmetscher(inne)n erfolgten mit über 80 Prozent fast durchgängig in diesem Zeitraum. Dies trifft nicht im gleichen Maße für das Clearing zu: Der Entwicklungs- und Bildungsstand wurde zu 70,7 Prozent abgeklärt, und ein möglicher therapeutischer Hilfebedarf sogar nur zu 26,3 Prozent diagnostiziert. Wie die Auswertungen zu den Wirkfaktoren zeigen, werden hier Chancen für die nachfolgende Jugendhilfe vergeben.
Veränderungen zwischen Beginn und Ende der Hilfe
Die Unterbringung zu Hilfebeginn erfolgte in 71,1 Prozent der Fälle in Wohngruppen, die ausschließlich mit UMF belegt werden und in 18,1 Prozent der Fälle in gemischten Wohngruppen. Bis zum Hilfeende nahmen teilbetreute Settings (9,5 Prozent) leicht zu.
Die Erfolgsquote der Jugendhilfen für junge Flüchtlinge betrug 65 Prozent und fiel damit knapp fünf Prozent höher aus, als die aus einer parallelisierten Vergleichsstichprobe ohne Fluchterfahrung (die aus dem Datenpool des Einheitlichen Verzeichnisses aller Statistiken des Bundes und der Länder (EVAS) von mehr als 50.000 Erziehungshilfen extrahiert wurde)2. Die Misserfolgsquote von 30 Prozent (Vergleichsgruppe 36 Prozent) belegt aber auch, dass trotz überwiegend positiver Entwicklungen noch Optimierungsbedarf besteht. Die vorliegenden Ergebnisse zu den Wirkfaktoren (s. Abb. 1, unten) geben hierzu Hinweise.
Ein ähnlich positives Bild zeigte sich bezüglich der Effektstärken, die in der pädagogischen Arbeit mit jungen Flüchtlingen erreicht wurden. Wie die Erfolgsquoten übertreffen auch die bei den UMF gemessenen Effektstärken das Niveau, das die Jugendhilfe bei jungen Menschen ohne Flüchtlingshintergrund erreicht. In besonderem Maße konnten soziale Integration, Selbstkonzept/Selbstsicherheit, sozial-kommunikative Kompetenzen, soziale Attraktivität und Autonomie/Selbstständigkeit gestärkt werden. Zudem gelang es, die Sprachkenntnisse erheblich zu steigern. Besaßen zu Beginn der Hilfe noch 30?Prozent keine Deutschkenntnisse, so waren es zum Hilfeende nur noch sechs Prozent. Der Anteil, der (sehr) gut oder fließend Deutsch spricht, erhöhte sich während der Hilfe hingegen von 13 Prozent auf 49 Prozent.
Bedeutsame Wirkfaktoren
Für die Qualitätsentwicklung von besonderem Interesse ist die Fragestellung, welche Faktoren für erfolgreiche Hilfeverläufe förderlich beziehungsweise hinderlich sind. Hierzu liegen mittlerweile in einer Vielzahl von Studien Ergebnisse vor.3,4 Fokussiert auf Hilfen für junge Flüchtlinge gab es bislang hierzu keine empirischen Arbeiten. Diesem Mangel begegnet die vorliegende Evaluation. Nachfolgend eine Auswahl von Wirkfaktoren, die einen statistisch signifikanten und gleichermaßen inhaltlich bedeutsamen Zusammenhang zum Erfolg der Hilfen aufweisen:
Umfassendes Clearing
Jugendhilfen, denen während der Inobhutnahme ein umfassendes Clearing vorausgeht, gelingt es, bei den jungen Flüchtlingen ausgeprägte Ressourcen auf- und Defizite abzubauen. Dieser Befund gilt nur, wenn sowohl der Entwicklungsstand wie auch ein möglicher therapeutischer Hilfebedarf geklärt werden. Ist dies nicht der Fall, folgen negative Entwicklungen: Ressourcen werden reduziert und Defizite erhöht.
Partizipation
Mit hohen Partizipationsgraden gelingt der Aufbau von Ressourcen und Kompetenzen bei den jungen Flüchtlingen besser. In besonderem Maße erweist sich Partizipation als förderlich, um Symptome zu reduzieren. Am stärksten trifft dies auf den Abbau von Ängsten und Panikattacken, depressiven Verstimmungen, Schlafproblemen und körperlichen Begleitsymptomen beziehungsweise psychosomatischen Symptomen zu. Wie nicht anders zu erwarten, wirkt sich Partizipation auch auf die Erfolgsquote der Jugendhilfen für junge Flüchtlinge aus: Bei niedrigen Partizipationsgraden liegt sie nur bei 50 Prozent - bei hohen Partizipationsgraden hingegen bei 84 Prozent. Zudem wird die Wahrscheinlichkeit für negative Hilfeverläufe durch Partizipation sehr reduziert: Bei hoher Partizipation liegt die Misserfolgsquote bei 15, bei niedriger bei 44 Prozent.
Beziehungsqualität
Die Bedeutung von Beziehungsqualität in den Hilfen zur Erziehung wurde bereits von mehreren wissenschaftlichen Studien hilfeartübergreifend belegt.5,6 Diese Bedeutung zeigt sich auch in der Arbeit mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen7: Bei geringer Beziehungsqualität wird über den gesamten Verlauf der Hilfe im Durchschnitt nahezu keine Veränderung erreicht. Demgegenüber erzielt eine hohe Beziehungsqualität statistisch signifikante und inhaltlich bedeutsame positive Effekte. Diese Ergebnisse der statistischen Analyse decken sich mit denen der vorliegenden qualitativen Interviews. Sie belegen, dass auch aus der Sicht der jungen Flüchtlinge Beziehungsqualität eine zentrale Bedeutung zukommt:
- "Mein Betreuer sagt immer: ‚Mach weiter. Keine Angst. Kein Streit. Mach heute alles weiter. Du schaffst das. Er sagt das IMMER! Und immer hat es geholfen. Der ist der Beste." [Arash, 16 Jahre]
- F: "Wie wäre dein Leben hier ohne Betreuer gewesen?" A: "Verloren." [Latif, 18 Jahre]
Kooperation
Eine Reihe von empirischen Studien bestätigten die aktive Kooperation der Hilfeadressaten als den wichtigsten Wirkfaktor im Bereich der Hilfen zur Erziehung.8,9 Auch für die pädagogische Arbeit mit unbegleiteten Flüchtlingen ist dies zutreffend: Bei hoher Kooperation gelingt ein ausgeprägter Ressourcenauf- und Defizitabbau. Zudem werden Sprachkenntnisse signifikant besser erworben und die Anschlussperspektiven der jungen Menschen nach Ende der Hilfe signifikant besser eingeschätzt: Gute beziehungsweise sehr gute Perspektiven liegen bei hoher Kooperation für 51 Prozent der jungen Flüchtlinge vor, gegenüber nur sieben Prozent bei niedriger Kooperation.
Hilfedauer
Die Dauer der Hilfe steht in einem hochsignifikanten Zusammenhang zur Effektivität: Ab einer Hilfedauer von zwölf Monaten werden merklich positive und ab 18 Monaten sogar herausragende positive Effekte erreicht.
Aufenthaltsstatus
Auch der Aufenthaltstatus beeinflusst das Gelingen von Jugendhilfeverläufen: Während bei einer Duldung im Mittel negative Veränderungen vorliegen, werden bei einer Gestattung positive und bei einer Erlaubnis sogar herausragende Effektstärken während der Jugendhilfe erreicht.
Hilfen nach § 41 SGB VIII
Jugendhilfen für junge erwachsene Flüchtlinge nach § 41 SGB VIII erweisen sich als außerordentlich erfolgreich. Trotz ihrer politischen Infragestellung sind sie in Anbetracht ihres empirisch belegten Integrationspotenzials daher aufrechtzuerhalten.
Im Gegensatz zu den dargestellten prozessualen Wirkfaktoren zeigt die Evaluation aber auch, dass Ausgangslagen in der Regel keinen signifikanten Zusammenhang zur Effektivität aufweisen. Dies betrifft beispielsweise das Herkunftsland, den Schulbesuch in der Heimat, die Fluchtdauer, das Alter und das Geschlecht der jungen Flüchtlinge.
Die vorliegende Studie belegt, dass Jugendhilfe mit einer guten Effektivität und Erfolgsquote auf die sehr unterschiedlichen und nicht selten herausfordernden Ausgangslagen der jungen Flüchtlinge reagieren kann. Dies gelingt allerdings nur, wenn die besprochenen Wirkfaktoren hinreichend berücksichtigt werden. Gleiches gilt auch für die pädagogische Arbeit mit jungen Menschen ohne Fluchthintergrund. Beides belegt, dass eine qualitative Weiterentwicklung der Hilfen zur Erziehung an einer Umsetzung der beschriebenen Wirkfaktoren ansetzen sollte. Die empirischen Befunde zeigen hier - trotz der guten Gesamtergebnisse - oft noch erhebliche Verbesserungspotenziale.
Anmerkungen
1. Macsenaere, M.; Köck, T.; Hiller, S. (Hrsg.): Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge - Erkenntnisse aus der Evaluation von Hilfeprozessen. Freiburg: Lambertus, 2017.
2. Macsenaere, M.; Knab, E. (Hrsg.): Evaluationsstudie erzieherischer Hilfen (EVAS). Eine Einführung. Freiburg: Lambertus, 2004.
3. Macsenaere, M.; Esser, K.: Was wirkt in der Erziehungshilfe? Wirkfaktoren in Heimerziehung und anderen Hilfearten. 2. aktualisierte Auflage. München: Reinhardt, 2015.
4. Ziegler, H.: Wirkfaktoren und Wirkungen der Heimerziehung. Blickpunkt Jugendhilfe, 21 (1) 2016, S. 3-10.
5. Gahleitner, S. B.: Das pädagogisch-therapeutische Milieu in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Trauma- und Beziehungsarbeit in stationären Einrichtungen. 2., überarbeitete und aktualisierte Auflage. Köln: Psychiatrie-Verlag, 2017.
6. Macsenaere, M.; Esser, K., 2015.
7. Rothballer, M.: Auf der Suche nach Vertrauen. Beziehungsarbeit mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen. Jugendhilfe, 55 (1) 2017.
8. Macsenaere, M.; Esser, K., 2015.
9. Schmidt, M.; Schneider, K.; Hohm, E.; Pickartz, A.; Macsenaere, M.; Petermann, F. et al. (Hrsg.): Effekte erzieherischer Hilfen und ihre Hintergründe (Schriftenreihe des BMFSFJ, Bd. 219). Stuttgart: Kohlhammer, 2002. Zugriff am 20. April 2017. Verfügbar unter www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/Broschuerenstelle/Pdf-Anlagen/PRM-23978-SR-Band-219,property=pdf,bereich=,rwb=true.pdf
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