An die Strukturen gehen
Das Ausmaß sexueller Gewalt in der katholischen Kirche erschüttert. In den eigenen Reihen wird immer lauter: Es reicht! So kann es nicht mehr weitergehen! Die deutschen Bischöfe haben ihre Betroffenheit artikuliert und jetzt wird von der Öffentlichkeit erwartet, dass den Emotionen konkretes Handeln folgt. Jetzt ist die Zeit, zu analysieren und den systemischen Fragen Aufmerksamkeit zu schenken, und es ist jetzt die Zeit, Standards der Prävention in allen Bistümern gleichermaßen mit Tempo zu sichern. Das wird aber nicht ausreichen.
Zu Recht wird der katholischen Kirche vorgeworfen, dass sie es in den vergangenen Jahren bei der Aufarbeitung auf der individuellen Ebene bewenden ließ. Warum wurden die strukturellen Ursachen 2011 nicht untersucht? Wurde dieser Teil der Analyse nicht geleistet, um zu vermeiden, dass es ans Eingemachte geht? Wer sich mit Fragen der Gewaltprävention befasst hat, wer "Totale Institutionen" von Erving Goffman studiert hat und wer Heimerziehung in den 50er- und 60er-Jahren kennt, wird verstehen, dass ein System von Herrschaft zur Anwendung von Gewalt keine weiten Distanzen überbrücken muss.
Der bisherige Weg, einzelne Täter zu identifizieren und dann zur Tagesordnung überzugehen, ist in eine Sackgasse geraten. Jetzt ist die Zeit, sich der Einsicht zu stellen, dass kirchliche Strukturen Ausübung und Vertuschung sexueller Gewalt begünstigt haben. Dabei sind alle gefragt: die Bischöfe in ihrer Letztverantwortung für die umfassende Aufarbeitung, die Laien, die vielfach die Lücken schließen, die Räte, die noch die Stange halten, diejenigen unter den Frauen, die sich als Mittäterinnen schuldig machten, weil sie geschwiegen haben. Und auch diejenigen unter den Priestern sind gefragt, die schon lange spüren, dass es so nicht weitergehen kann und die wissen: Mut zur Demut ist jetzt möglicherweise der einzig glaubwürdige Weg.
Bisherige Bewältigungsstrategie ist in eine Sackgasse geraten
Was ist mit den Opfern? Immer noch warten sie auf ein Opferentschädigungsgesetz! Immer noch warten sie auf eine proaktive Haltung der Bischöfe! Immer noch warten sie mancherorts auf die vorbehaltlose Anerkennung der Verletzung ihrer Menschenwürde und selbstverständlichen Zugang zu Beratungszentren - wo immer sie leben! Wir wissen aus der Aufarbeitung der Heimerziehung: Die Zeit heilt keine Wunden. Das ist schmerzlich anzuerkennen. Doch wer jetzt die Augen vor der Wirklichkeit verschließt, läuft Gefahr, die Zukunft zu verspielen. Jetzt ist die Zeit, jetzt ist die Stunde.