Christliche Werte in Einrichtungen der Erziehungshilfe
Die Diskussion um katholische Einrichtungen der Erziehungshilfe war in den letzten 15 Jahren mehrheitlich geprägt von immer wieder und immer mehr aufgedeckten Fällen seelischer wie auch körperlicher Misshandlung von Kindern und Jugendlichen sowie von repressiven, manchmal menschenverachtenden Erziehungsmethoden. Insbesondere das christliche Selbstverständnis der dort Handelnden sowie die Werte, aus denen heraus sich die Einrichtungen entwickelt haben, lassen erahnen, wie beschämend und erschütternd die Selbsterkenntnis über die persönliche oder organisationale Biografie vielerorts gewirkt hat. Die Rede von den Grundlagen eines christlichen Menschenbildes, der Einzigartigkeit des Menschen, seiner Gottebenbildlichkeit sowie der daraus resultierenden Würde als Grundlagen der pädagogischen Arbeit wirken angesichts der aufgedeckten Fälle geradezu zynisch.
Richtig und wichtig ist daher das Vorhaben, dem sich etwa der Bundesverband der katholischen Einrichtungen und Dienste der Erziehungshilfen (BVkE) verschrieben hat: lückenlose Aufarbeitung früherer Heimerziehung sowie Transparenz und Qualitätsorientierung für die Zukunft.
Neben diesen historischen Hypotheken sind die Einrichtungen der Erziehungshilfe seit 2014 durch die Begegnung mit einer großen Zahl von geflüchteten Menschen anderer Kulturen und Religionen herausgefordert. Christliche Träger haben landauf, landab alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel eingesetzt, um zur Lösung dieser humanitären Notlage beizutragen.
Beide Schlaglichter auf die Arbeit katholischer Erziehungshilfe - die Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit sowie die (mittlerweile abnehmenden) Bedarfe unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge - werfen die Frage nach ihrem Selbstverständnis auf: Worin äußert sich "das Katholische" in den Einrichtungen und Diensten? Wie wird es spürbar - für Klient(inn)en ebenso wie für Mitarbeitende? In welchen Punkten unterscheiden sich katholische gegebenenfalls von nichtkatholischen Einrichtungen und Diensten?
Ein Blick in die Medien zeigt, dass Stichworte wie "Profil" oder "Identität" in Gesellschaft und Politik aktuell diskutiert werden. Christliche Einrichtungen im Sozial- und Gesundheitswesen beschäftigen sich seit Jahren mit diesen Fragen. Orden beispielsweise, die Träger solcher Einrichtungen sind und sich wegen eigener Nachwuchsprobleme personell immer mehr aus dem Tagesgeschäft zurückziehen müssen, haben das Interesse, dass ihre Werke in ihrem Sinne weitergetragen werden. Es geht darum, Verantwortung einerseits zu übernehmen und andererseits abzugeben, um auf die Zeichen der Zeit reagieren zu können.
Damit verbunden ist auch die Herausforderung, den jungen Menschen und deren Familien mit ihren unterschiedlichen religiösen und kulturellen Hintergründen gerecht zu werden. Christliche Erziehungsarbeit ist ja geprägt (besser: beseelt) von der Idee, Kindern und Jugendlichen in maximaler Wertschätzung zu begegnen und sie bei der Entwicklung wesentlicher Lebenskompetenzen zu unterstützen, welche die eigene religiöse Dimension mit beinhaltet. Gleiches gilt auch für die Mitarbeitenden in unseren Einrichtungen, die mit ihren je verschiedenen religiösen Hintergründen eine gemeinsame Wertebasis oder ein gemeinsames Profil als Fundament ihrer Arbeit benötigen, wenn sich katholische Erziehungsarbeit an Jesus Christus orientieren will.
Der BVkE stellt sich in seinem Fachausschuss "Christliches Profil und Ethik" der Aufgabe, seinen rund 460 Mitgliedseinrichtungen Instrumente an die Hand zu geben, um sich den Herausforderungen für das eigene Selbstverständnis zu stellen und individuelle Wege zu finden, ihre christliche Identität mit Leben zu füllen.
Projekt "German-CIM" in der Erziehungshilfe
Das in den USA entwickelte Instrument der Catholic Identity Matrix (CIM) bietet katholischen Einrichtungen die Möglichkeit, wissenschaftlich fundiert die spezifischen Elemente eines katholischen Profils zu identifizieren und in einem strukturierten Prozess nachhaltig in die Praxis umzusetzen.
Entwickelt wurde CIM 2006 vom größten katholischen Krankenhausträger in den USA, Ascension Health, in Zusammenarbeit mit dem Veritas Institute der University of St. Thomas in Minneapolis (Minnesota) zur Selbstbewertung katholischer Krankenhäuser. Im Rahmen eines Projekts wurde das Verfahren von 2012 bis 2015 erstmals außerhalb der USA in kirchlichen Krankenhäusern im Erzbistum Paderborn angewendet und als Instrument "German-CIM"1 weiterentwickelt. Aus Sicht des Fachausschusses eignet sich German-CIM dafür, die Fragen nach katholischer Werteorientierung und Gestaltung christlicher Identität zu bearbeiten und bereits bestehende Maßnahmen und Konzepte in den Antwortprozess zu integrieren.
In einem partizipativen Verfahren identifizieren die Mitarbeitenden einer Einrichtung oder eines Dienstes Stärken und Verbesserungspotenziale mit Blick auf die Um- setzung christlicher Werte. Ziele der Arbeit mit German-CIM sind neben der Selbstbewertung der organisationalen Umsetzung christlicher Identität die systematische Implementierung einer christlichen Wertekultur, die Stärkung der Dienstgemeinschaft, die Schärfung des Bewusstseins für den kirchlichen Auftrag sowie die Gewinnung von Mitarbeitenden als Werte-Botschafter(innen), die dem christlichen Profil der Einrichtung ein erkennbares Gesicht geben. Die Profilierung im Bereich der Erziehungshilfe betrifft einerseits die Organisation selbst (Strukturen, Mitarbeitende etc.), andererseits wirkt sie sich im Idealfall auch auf die Kinder, Jugendlichen und ihre Familien aus.
Das Instrument German-CIM folgt einem systemischen Ansatz und zielt auf die Entwicklung in allen relevanten Bereichen der Einrichtung:
- Nutzerorientierung (Klient(inn)en, Angehörige, Öffentlichkeit);
- Mitarbeiterorientierung (Dienstgemeinschaft);
- Ressourcenorientierung (Humanressourcen, Sozial-, Finanz- und Naturkapital);
- Kirchlichkeit (kirchlicher Sendungsauftrag, Einrichtung als pastoraler Ort).
Die Bewertung der Einrichtung erfolgt entlang bestimmter christlicher Prinzipien. Diese orientieren sich an Jesus Christus selbst, seinem Leben, seiner Botschaft und seinem Wesen als Sohn Gottes.
In dieser Ausrichtung ergeben sich neue Grundorientierungen und Grundhaltungen, neue Motivationen und Motive, neue Intentionen und Aktionen. Insbesondere werden die Menschen in den Fokus gerückt, die am Rand stehen. Dies stellt die Grundlage dar für alles diakonische, sozial-caritative Tun der Kirche. Fundament dafür ist das christliche Gottesbild: Gott wird Mensch - im kleinen, schwachen Kind. Gott selbst ist die hingebende Liebe ("Wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt, denn Gott ist die Liebe." 1 Joh 4,8). Ihm ist keine menschliche Erfahrung fremd.
Der christliche Glaube beschreibt den Menschen als Person mit einer Würde, die unabhängig ist von Leistungen oder Fehlleistungen. Er eröffnet damit eine radikal bejahende Sicht auf jedes menschliche Leben. Insofern hat Christsein eine soziale Dimension. Entsprechend der katholischen Soziallehre bilden Menschenwürde und Gemeinwohl gleichsam das christliche Werte-Fundament. Auf diesem Fundament aufbauend, bietet German-CIM mit folgenden Prinzipien Prüfsteine für Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe:
Solidarität mit Menschen in Not und Bedürftigkeit
Gemäß der Heiligen Schrift gilt den Armen und Verwundeten die besondere Sorge Gottes (vgl. Dtn 15,11). In Jesus identifiziert sich der menschgewordene Gott mit denen, die in Not sind (vgl. Mt 25,31-46) und stellt die "Kleinen" ins Zentrum seiner Liebe (vgl. Mt 18,1-7). Die Achtung vor dem menschlichen Leben muss sich in entscheidender Weise im Dienst an jenen manifestieren, die an den Rand gedrängt sind. Katholische Jugendhilfeeinrichtungen und Beratungsdienste identifizieren sich mit den ihnen anvertrauten Kindern, Jugendlichen, jungen Erwachsenen und deren Familien, indem sie sich ihrer Bedürfnisse annehmen und ihnen anwaltschaftlich zur Seite stehen. In besonderer Weise gilt dies für junge Menschen in Not und am Rand.
Ganzheitliche Sorge
Jeder Mensch ist eine untrennbare Einheit von Körper, Geist und Seele. In katholischen Einrichtungen und Diensten soll der ganze Mensch in umfassender und mitfühlender Weise in seiner physischen, psychischen, sozialen und religiös-spirituellen Dimension wahrgenommen, wertgeschätzt, herausgefordert und begleitet werden. Das erfordert vonseiten der Organisation einen entsprechend interdisziplinären Ansatz.
Respekt vor der Würde des menschlichen Lebens
Der Dienst der Jugendhilfe in kirchlicher Trägerschaft wurzelt in der fundamentalen Pflicht, die menschliche Würde zu fördern und zu verteidigen. Frauen und Männer, die in katholischen Einrichtungen und Diensten arbeiten, sind berufen, Gott in den Menschen zu erkennen, denen sie dienen. Sie sollen tiefen Respekt für das menschliche Leben in all seinen Lebensphasen zeigen. Leitendes Ziel der Mitarbeitenden sind von Mitgefühl, Akzeptanz, Offenheit und wertschätzender Kommunikation geprägte Beziehungen zu den jungen Menschen und deren Eltern. Respekt vor der Würde zeigt sich auch in der gelebten Teilhabe und im Umgang mit Scheitern und Gelingen.
Partizipation und Respekt in der Dienstgemeinschaft
Partizipation und gegenseitiger Respekt der Mitarbeitenden bedeuten, dass sie sich auf Augenhöhe begegnen und die Fachexpertise der unterschiedlichen Professionen anerkennen. Ziel ist die Förderung respektvoller und leistungsfähiger Arbeitsbeziehungen aller, unabhängig von Titel und Funktion. Jede(r) Mitarbeitende wird zur Übernahme von Verantwortung und zu Entscheidungskompetenz ermutigt und durch Personalentwicklungsangebote (Fort- und Weiterbildung, Coaching, Supervision) darin unterstützt.
Eine vorausschauende Personalplanung ist wichtig. Ebenso bedeutsam sind die Bindung der Mitarbeitenden an die Einrichtung oder den Dienst (Identifikation) und die Schaffung eines Betriebsklimas, das gute Arbeit fördert.
Ressourcenorientierung und Nachhaltigkeit
Menschen sind dazu berufen, gut und produktiv mit Anvertrautem umzugehen - so auch alle Mitarbeitenden katholischer Einrichtungen und Dienste. Neben dem Wahrnehmen ökonomischer Verantwortung gilt es, die Menschen mit ihren Talenten, Fähigkeiten und Kräften in der Organisation zu erhalten und zu stärken. Die Einrichtungen müssen zugleich die Schöpfung respektieren, indem sie regelmäßig ihre Betriebs- und Konsumweisen evaluieren, globale Verantwortung wahrnehmen und jegliche Verschwendung von Ressourcen vermeiden.
Handeln als Kirche
Katholische Jugendhilfeeinrichtungen halten am Sendungsauftrag Jesu fest. Als Einrichtungen und Dienste in kirchlicher Trägerschaft beachten sie die ethischen und religiösen Vorgaben der Kirche und bieten den Mitarbeitenden Raum und Impulse zur Auseinandersetzung damit. Die Kirchlichkeit zeigt sich in religiösen Zeichen und Ritualen sowie in spirituell-religiösen Angeboten für Mitarbeitende. In ihrem jeweiligen Einzugsgebiet arbeiten die Einrichtungen auch mit der Kirche vor Ort zusammen, um sich der Bedürfnisse der dort lebenden und arbeitenden Menschen annehmen zu können. Katholische Einrichtungen und Dienste begegnen Menschen anderer christlicher Konfessionen und Religionen sowie Personen, die keiner Religionsgemeinschaft angehören, in einer Kultur der Offenheit und des Dialogs.
Nicht Kür, sondern Pflicht
German-CIM hat sich als Hilfsmittel für kirchliche Einrichtungen bewährt, die genannten christlichen Grundsätze nachhaltig in organisationale Strukturen und individuelles Handeln zu übertragen. Das Ziel dabei ist zweierlei: erstens Menschen zu Werte-Botschafter(inne)n zu machen, denn christliche Identität muss gelebt werden und dadurch auch ein Gesicht bekommen. Zweitens Strukturen und Prozesse derart zu gestalten und zu verankern, dass die gelebte Identität nicht allein von einzelnen Protagonist(inn)en und ihrem Wirken abhängt - und damit potenziell verloren geht, wenn diese nicht mehr in der Einrichtung aktiv sind.
Profil und Identität sind keine Add-ons, die ich aufgreife, sobald ich Zeit und Geld dafür habe, und die ich nach Belieben wieder zurückstelle. Es sind Querschnittsthemen, welche die gesamte Organisation zu jedem Zeitpunkt im Wesen betreffen und ausmachen. Es gibt grundsätzlich keinen Bereich einer Organisation und keinen Mitarbeitenden, der nicht damit zu tun hat und nicht dafür verantwortlich ist. Das christliche Profil muss eine Organisation als Thema durchdringen und spürbar werden.
Anmerkung
1. Die Schreibweise mit Bindestrich ist in Deutschland so eingeführt.
Ein Kinderdorf setzt auf „Neue Autorität“
Das Smartphone als Werkzeug einsetzen
Der Verband wird digitaler und die Spitzengremien werden geschlechtergerecht
Wie ein kultureller Wandel gelingen kann
An die Strukturen gehen
Hinterlassen Sie einen Kommentar zum Thema
Danke für Ihren Kommentar!
Ups...
Ein Fehler ist aufgetreten. Bitte laden Sie die Seite erneut und wiederholen Sie den Vorgang.
{{Reply.Name}} antwortet
{{Reply.Text}}