Ein Kinderdorf setzt auf „Neue Autorität“
Wenn ich davon berichte, dass wir uns als Bethanien Kinder- und Jugenddorf in Bergisch Gladbach auf den Weg gemacht haben, das Konzept der "Neuen Autorität" nach Haim Omer in unserer Einrichtung als Grundhaltung und Leitfaden unserer pädagogischen Arbeit einzuführen, kommt als Erstes die Frage: "Warum, waren die alten Konzepte nicht mehr tragfähig?"
Das Bethanien Kinder- und Jugenddorf liegt in einem Waldgebiet in Bergisch Gladbach nahe der Kölner Stadtgrenze. Es ist von der baulichen Anlage auch wie ein Dorf errichtet und betreut mit über 80 pädagogischen Mitarbeitenden in 13 Häusern 117 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene - in Kinderdorffamilien, aber auch in vielen anderen differenzierten Jugendhilfeangeboten.
Ausgangspunkt unserer Suche nach neuen Wegen und unserer Entscheidung für das Konzept von Haim Omer waren folgende Überlegungen:
- Hauptmotiv war der Wunsch nach einer gemeinsamen pädagogischen Grundüberzeugung und Grundhaltung. Wie viele Jugendhilfeeinrichtungen haben wir gewachsene Traditionen und ein gemeinsam entwickeltes Leitbild, aber dennoch sind die Mitarbeiter(innen) so verschieden wie die Kinder, für die sie verantwortlich sind. Jeder Mitarbeiter/Jede Mitarbeiterin bringt seine/ihre eigene Sozialisation, seine innerfamiliären Erfahrungen mit, die jenseits aller Ausbildung sein/ihr pädagogisches Handeln bestimmen. Mit dem Konzept der "Neuen Autorität" haben wir für den pädagogischen Alltag erstmals eine einheitliche Haltung und Sprache gefunden.
- Hinter manchen scheinbar modernen pädagogischen Überzeugungen versteckt sich oft noch das alte Modell der Autorität: An die Stelle des "Solange du deine Füße unter meinen Tisch stellst" ist heute oft eine sachliche Überregulierung, Überstrukturierung und ein Automatismus von Konsequenzen getreten.
- Die pädagogische Grundhaltung Haim Omers sagt aber nicht einfach nur "Nein" zur alten Autorität, sondern bietet alternative Wege und gewaltfreie Formen, wie Pädagogen mit den Verweigerungen und Herausforderungen verhaltensauffälliger Kinder und Jugendlicher umgehen können.
- Als christlich geprägte Einrichtung haben wir zudem in der "Neuen Autorität" eine pädagogische Grundhaltung gefunden, die unsere Werte und Überzeugungen nicht nur teilt, sondern sie in der Gewaltfreiheit, der Wertschätzung jedes Kindes und der Pädagogik der Präsenz in besonderer Weise umsetzt.
- In jeder Jugendhilfeeinrichtung, auch in unserem Kinderdorf, besteht die Gefahr, dass jedes Haus, jedes Team oder sogar jeder Mitarbeiter/jede Mitarbeiterin versucht, Problemlagen allein zu lösen.
Mit dem von Haim Omer postulierten "Unterstützersystem" entsteht eine neue Offenheit, eine Gegenseitigkeit, die den afrikanischen Spruch "Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf" verstehen lässt und ihm neues Leben gibt.
Was heißt "Neue Autorität"? Der Psychologe Haim Omer hat ein praxisorientiertes Modell gewaltfreier Erziehung entwickelt, in dem es darum geht, nicht gegen das Kind, sondern um das Kind zu kämpfen, um das Erhalten oder die Wiederherstellung der Beziehung, auch und gerade in schwierigen Konfliktsituationen. Die Grundhaltung Haim Omers bewährt sich besonders in eskalierenden Konfliktsituationen mit Kindern oder Jugendlichen und basiert auf Präsenz, verstanden als "wachsame Sorge". Seine wesentliche Grundüberzeugung besteht darin, dass eine gesunde und natürliche Autorität nicht allein aus ihrer Rolle, sondern durch die Verbindung von wertschätzender, wachsamer (Für-)Sorge, einer Haltung der Verantwortlichkeit und einer im Konfliktfall nicht lockerlassenden Beharrlichkeit erwächst (siehe Infokasten).
Wie haben wir das Konzept in das Kinderdorf getragen?
Um gemeinsames Wissen, besonders aber um eine neue gemeinsame Haltung aufzubauen, bedurfte es einer breit angelegten Fortbildungsreihe für alle Mitarbeiter(innen). Am Anfang stand daher die Suche nach einem kompetenten Referenten oder einer kompetenten Referentin. In Liane Stephan, Systemische Familientherapeutin/-beraterin, haben wir eine Persönlichkeit gefunden, die uns über drei Jahre hinweg durch diesen Weiterbildungsprozess wie folgt begleitet hat:
- Kick-off-Veranstaltung als Einführung (Tagesveranstaltung);
- Fortbildungen in Tandems à zwei Gruppenteams (je zwei Tagesveranstaltungen);
- Fortbildungen in den einzelnen Teams (je zwei Halbtagsveranstaltungen);
- Fortbildung der Gruppenleiter(innen)/Kinderdorfmütter je einen eigenen Tag;
- Abschlussveranstaltung in Form einer ganztägigen, durch die Teilnehmer(innen) selbst organisierten und auch inhaltlich gestalteten Fachtagung/Fortbildung für alle Kolleg(inn)en und Mitarbeiter(innen) der beiden anderen Bethanien Kinder- und Jugenddörfer in Schwalmtal und Eltville.
Die Teilnahme war für alle Teammitglieder verpflichtend, was aber selten nachdrücklich eingefordert werden musste, da bei den Mitarbeiter(inne)n "der Funke bereits übergesprungen" war. Auch die Erziehungs-, Bereichs- und Kinderdorfleitung hatten eigene Fortbildungseinheiten.
Vier wichtige Bausteine sorgen nun für das lebendige Arbeiten nach diesem Konzept und sollen auch die Nachhaltigkeit der Weiterbildung sichern:
Beratung durch die Erziehungsleitung
Zentraler Baustein und Motor für die Umsetzung des Konzepts sind der Aufgabenbereich der Erziehungs- beziehungsweise Bereichsleitung und die darin handelnden Personen. Sie sind es, die regelmäßig in den einzelnen Häusern, in den Gruppenteams, bei den Team- und Fallbesprechungen anwesend sind, die schwierige Hilfeplangespräche moderieren oder fachlich begleiten und in vielen Einzelgesprächen über die Sorgen und Nöte einzelner Kinder und Jugendlicher im Austausch sind.
Die Fallwerkstatt
Sechsmal im Jahr treffen sich Vertreter(innen) aus allen Häusern zu einer sogenannten "Fallwerkstatt". Im Rahmen einer vorher festgelegten Tagesordnung gibt es neben der Erstvorstellung neuer und der Abschlussreflexion entlassener Kinder auch die Fallvorstellung mit einer individuellen Problematik. Wir fragen dabei jedes Mal, welche alternativen Lösungsideen wir mit dem Blick und der Haltung der "Neuen Autorität" entdecken können.
Interne Fortbildung
In allen Mitarbeitereinführungstagen gibt es einen eigenen Block, in dem ausführlich über die Haltung und methodischen Wege der "Neuen Autorität" nach Haim Omer berichtet wird. Die neuen Mitarbeiter(innen) werden angehalten, sich selbst um weitere Fortbildungswege zu bemühen. Vertiefungsworkshops werden auch Mitarbeiter(inne)n angeboten, die bereits an der dreijährigen Inhouse-Fortbildung teilgenommen haben.
Eine eigene Arbeitsgruppe wacht über die Umsetzung
Eine Arbeitsgruppe wurde ins Leben gerufen, deren ausschließliche Aufgabe es ist, die Haltung und die methodischen Ansätze nach Haim Omer weiter im Bewusstsein zu halten, "wachsame Sorge" über die Kultur in der Einrichtung zu pflegen, konstruktiv nach Umsetzungsmöglichkeiten zu suchen, aber auch Mahnerin zu sein, wenn das Wissen und Bewusstsein rund um die dreijährige Fortbildung allzu sehr im Sand des alltäglichen Handelns und den Verlockungen der "alten Autorität" unterzugehen drohen. Diese Arbeitsgruppe ist wie eine kleine Stabsstelle zu betrachten, die auch das Leitungsteam und den Gesamtleiter der Einrichtung entsprechend erinnert und Anregungen gibt.
Alltag und Widerstand
Unterm Strich kann nach unseren Erfahrungen nur empfohlen werden, dass sich Jugendhilfeeinrichtungen auf den Weg machen, ein gemeinsames Grundwissen, eine gemeinsame Grundhaltung zu entwickeln, die neben den üblichen fachlichen Standards eine weitere Ebene des Denkens und methodischen Handelns eröffnet. Die pädagogische Grundhaltung Haim Omers, das Konzept der "Neuen Autorität", hat sich dabei für die Arbeit in Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen als ein ausgesprochen hilfreicher Ansatz erwiesen. Ein nicht zu unterschätzendes Problem ist der Aufbau von Nachhaltigkeit. Wir waren positiv überrascht, wie gut das Konzept bei jüngeren, aber auch bei älteren Mitarbeiter(inne)n ankam, wie schnell sie sich damit identifiziert haben. Wir müssen aber auch feststellen, dass bei manchen Krisen und Konflikten, vor allem, wenn man schnelle Effekte sehen will, doch wieder auf die alten pädagogischen Muster zurückgegriffen wird. Wichtig ist, dass die Mitarbeiter(innen) persönlich gute Erfahrungen mit der Haltung der "Neuen Autorität" machen, dann werden aus einer (anfänglichen) Begeisterung für ein neues Konzept eine persönliche Überzeugung und wirkliche Haltung. Ich kann sagen: Es gelingt überraschend gut, die gesamte Mitarbeiterschaft zu gewinnen und mitzunehmen auf diesen neuen Weg. Es verlangt wesentlich mehr Energie, die gemeinsame Haltung in den Herzen und Köpfen der Mitarbeiter(innen) lebendig und wachzuhalten. Aber ein zentraler Baustein der "Neuen Autorität" ist ja bekanntlich Beharrlichkeit.
Literatur
Omer, H.; Schlippe, A. von: Autorität durch Beziehung. Die Praxis des gewaltlosen Widerstands in der Erziehung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2012.
Omer, H.; Schlippe, A. von: Stärke statt Macht: Neue Autorität in Familie, Schule und Gemeinde.
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2010.
Macsenaere, M., Esser; K.; Knab, E.; Hiller, S. (Hrsg.): Handbuch der Hilfen zur Erziehung. Freiburg: Lambertus Verlag, 2014.
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