Minderjährige Flüchtlinge sprechen gut auf Hilfen an
Die Zahl der Menschen, die sich auf der Flucht befinden und nach Deutschland einreisen, ist in den letzten Monaten stark rückläufig. Nichtsdestotrotz ist die Frage nach dem Umgang mit diesen Menschen weiterhin ein bestimmendes Thema in Gesellschaft und Politik. Einen besonderen Status innerhalb dieser Gruppe nehmen die minderjährigen Flüchtlinge ein, die ohne Begleitung von Erwachsenen die Flucht auf sich genommen haben. Sie werden nach ihrer Einreise vom Jugendamt in Obhut genommen und in Jugendhilfemaßnahmen vermittelt - meist in stationäre Einrichtungen.
Diese Entwicklung hat in den letzten Jahren das Jugendhilfesystem sowohl der öffentlichen als auch der freien Träger vor enorme Herausforderungen gestellt - nicht nur, was das Schaffen von entsprechenden Platzkapazitäten betrifft. Auch die pädagogische Arbeit selbst sah sich mit Problemen konfrontiert, die bisher für die meisten Fachkräfte noch unbekannt waren. Umso mehr erstaunt es, dass es nahezu keine wissenschaftlich abgesicherten Daten zur Entwicklung von diesen jungen Menschen in unserer Gesellschaft gibt.
Vor diesem Hintergrund evaluiert der Bundesverband katholischer Einrichtungen und Dienste der Erziehungshilfen (BVkE) in Kooperation mit dem Institut für Kinder- und Jugendhilfe (IKJ) seit Mai 2014 stationäre Jugendhilfemaßnahmen für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge/Ausländer (umF/umA). Damit werden zum ersten Mal wissenschaftlich abgesicherte Aussagen zur Effektivität pädagogischer Arbeit mit diesen besonders belasteten Jugendlichen gewonnen. Auf dieser Basis sollen die Hilfen einerseits weiter optimiert und andererseits deren Wirksamkeit überprüft werden. Am Projekt beteiligen sich 37 Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen aus Deutschland und Österreich. Dieses Vorhaben wird mit Mitteln der Glücksspirale über drei Jahre hinweg gefördert.
Mittlerweile liegen Zwischenergebnisse vor, die auf folgenden Stichproben basieren:
- 397 junge Menschen, deren Hilfen in der Aufnahmeeinrichtung zu Hilfebeginn dokumentiert wurden;
- 99 Hilfen, für die Informationen zu Beginn der Jugendhilfe und nach einem halben Jahr vorlagen.
Trotz dieser relativ großen Umfänge sind diese Ergebnisse noch als vorläufig anzusehen, weil die Stichprobe bis zum Ende der Evaluation noch merklich anwachsen wird. Die vorliegenden Zwischenergebnisse betreffen folgende, chronologisch angeordnete Themenbereiche:
- Person, Heimatland, Flucht;
- Inobhutnahme;
- Ende Inobhutnahme/Beginn Jugendhilfe;
- Veränderungen in den ersten sechs Monaten der Jugendhilfe.
Themenbereich Person, Heimatland, Flucht
Die Jugendlichen kommen aus 36 verschiedenen Ländern Asiens, Afrikas und Europas, davon etwas weniger als ein Drittel (30,8 Prozent) aus Afghanistan, 15,2 Prozent aus Syrien, 11,6 Prozent aus Eritrea, 10,4 Prozent aus Somalia und 6,3 Prozent aus Ghana. Alle anderen Länder sind mit einer relativen Häufigkeit von unter fünf Prozent vertreten. Der Anteil männlicher Jugendlicher liegt bei 96,2 Prozent. Die Bundesstatistik weist zum Vergleich für das Jahr 2014 einen Wert von 90,3 Prozent auf (allerdings bezieht sich dieser auf den Zeitpunkt der Inobhutnahme).
Inobhutnahme: überraschende Ergebnisse
Während der Inobhutnahme und des damit verbundenen Clearings konnten in 24 Prozent der Fälle keine Angaben zu belastenden Erlebnissen im Heimatland gemacht werden. Offenbar waren die jungen Menschen noch nicht bereit, über diese traumatisierenden Erfahrungen zu berichten. Diejenigen, die Angaben machten, nannten (Bürger-)Krieg, Verfolgung, Armut/Schulden der Familie, Gewalt außerhalb der Familie und familiäre Gewalt in ihrer Heimat als besonders belastende Erlebnisse. Zu den Geschehnissen während der Flucht liegen sogar von mehr als einem Drittel (36,7 Prozent) keine Angaben vor. Hier waren die häufigsten Nennungen: Gewalterfahrung, Fluchttrauma, Inhaftierung, (Bürger-)Krieg und gefährliche/lebensbedrohende Bootsfahrt. Die wichtigsten Fortbewegungsmittel während der Flucht waren Schiff/Boot, Lkw/Bus und Pkw (jeweils im Bereich zwischen 60,1 und 49,4 Prozent), etwas mehr als ein Drittel nutzte auch Züge (37,3 Prozent) und 13,3 Prozent das Flugzeug. Zusätzlich zu den vorgegebenen Kategorien haben 13,6 Prozent angegeben, zu Fuß geflüchtet zu sein.
Im Hinblick auf spezielle Leistungen für die unbegleiteten Minderjährigen während der Inobhutnahme gab es teilweise auffallende Werte. 96,7 Prozent wurden zu ärztlichen Untersuchungen begleitet, 80,5 Prozent auf Ämter, bei 72,2 Prozent wurden Dolmetscher hinzugezogen. Für 50,6 Prozent wurden außerschulische Sprachkurse angeboten. Überraschend war, dass es nur bei 32,6 Prozent eine Diagnostik des therapeutischen Hilfebedarfs gab. Hier wie auch beim Punkt "Abklärung des Entwicklungs- und Bildungsstandes" (60 Prozent) waren höhere Anteile erwartet worden, weil sie ein originärer Auftrag des Clearings sind. Möglicherweise ist dies darauf zurückzuführen, dass die Kostenübernahme der psychiatrischen Abklärung unklar ist und die Wartezeiten für Termine bei geeigneten Diagnostiker(inne)n und Therapeut(inn)en lang sind. Ebenso wurde darauf hingewiesen, dass in etlichen Fällen kein Informationsfluss zwischen Inobhutnahmestelle und Folgeeinrichtung zu den Leistungen während des Clearings stattfindet.
Der Beginn der Jugendhilfe
Das Durchschnittsalter bei Beginn der Jugendhilfe beträgt 16,3 Jahre. Die Altersspanne reicht dabei von elf bis 19 Jahren. Etwa drei Viertel der Hilfen (77,2 Prozent) werden als Hilfe zur Erziehung nach §?27 gewährt, 9,6 Prozent nach §?41 (Hilfe für junge Volljährige). 78,8?Prozent werden in Wohngruppen untergebracht, die ausschließlich mit umF belegt werden. Zusammen mit anderer Jugendhilfeklientel sind 18,9 Prozent der jungen Menschen beherbergt worden. Bei den fehlenden 2,3 Prozent handelt es sich um teilbetreute Angebote beziehungsweise Unterbringung in Pflegefamilien.
Zu Beginn der Jugendhilfe wird der Aufenthalt noch bei 30,5 Prozent der umF nur geduldet, bei 45,7 Prozent liegt eine Gestattung vor und bei lediglich 3,1 Prozent eine Erlaubnis. Bei 20,7 Prozent ist der Aufenthaltsstatus zu Beginn der Jugendhilfe unbekannt.
Bei der Schulform zeigt sich, dass sich mit gut 50 Prozent der allergrößte Anteil in besonderen Angeboten zum Spracherwerb oder in sogenannten Integrations-, Förder- oder Intensivklassen befindet, während 17,4 Prozent berufsvorbereitende Maßnahmen absolvieren.
Veränderungen in den ersten sechs Monaten
Die Ergebnisse zu den Veränderungen beziehen sich auf die 99 Hilfen, für die Informationen zu Beginn der Jugendhilfe und nach einem halben Jahr vorliegen.
In den ersten sechs Monaten der Hilfe verbessern sich die Deutschkenntnisse, was bei einer so intensiven Beschulung in speziellen Sprachklassen auch zu erwarten war. Waren es zu Hilfebeginn fast ein Viertel (24 Prozent) der umF, die während der Inobhutnahme noch gar keine Deutschkenntnisse erworben hatten, sank dieser Wert auf ein Prozent nach einem halben Jahr. Parallel dazu stiegen der Anteil derjenigen mit Grundkenntnissen von 57,3 Prozent auf 72,2 Prozent sowie der Anteil derer mit guten/sehr guten Kenntnissen von 17,7 Prozent auf 25,8 Prozent an.
In den Dokumentationsbögen werden auf verschiedenen Dimensionen Ressourcen der jungen Menschen erfasst. Diese Dimensionen wurden aus dem Dokumentationsverfahren EVAS1 übernommen, mit dem seit 1999 bundesweit mehr als 50.000 Erziehungshilfen evaluiert wurden. Daher können die Ergebnisse aus dem Projekt mit den Werten aus EVAS in Beziehung gesetzt werden. Dies geschieht auf der Grundlage eines Ressourcen- und eines Symptomindex, die theoretisch jeweils Werte zwischen 0 (= minimale Ressourcen/Symptome) und 100 (maximale Ressourcen/Symptome) annehmen können. Da sich diese Ergebnisse aufgrund der relativ kleinen Fallzahl und der eher heterogenen Stichprobe noch im Stadium der Vorläufigkeit befinden und sich durch weitere hinzukommende Daten deutlich verändern können, sollen die Befunde hier nur beschreibend und als Tendenz ohne konkrete Zahlen wiedergegeben werden.
Demnach verfügen die umF zu Beginn der Hilfe über deutlich mehr Ressourcen und eine geringere Symptomatik als die Jugendhilfeklientel in Deutschland, die sich in stationären Maßnahmen und in einem vergleichbaren Alter befindet. Interessanterweise weist eine Teilmenge der umF, deren Hilfe nach § 41 SGB VIII für junge Volljährige gewährt wurde, nochmals bessere Werte auf.
In den ersten sechs Monaten der Jugendhilfe zeigen sich auch jenseits des Spracherwerbs eine Reihe positiver Effekte. So gelingt es, die vorhandenen persönlichen Ressourcen der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge weiter zu stärken. Interessanterweise fällt der Anstieg dieser Ressourcen im Vergleich mit anderen Jugendlichen in vollstationären Maßnahmen erheblich stärker aus. Betrachtet man eine Teilmenge der jungen Flüchtlinge in der Studie, nämlich diejenigen, die auch über ihre Volljährigkeit hinaus eine Jugendhilfe in Anspruch nehmen, so fallen die beobachteten positiven Effekte nochmals stärker aus: Junge volljährige Flüchtlinge profitieren in besonderem Maße von den angebotenen Hilfen und sind somit auf einem sehr guten Weg, die Kompetenzen und Fertigkeiten zu erwerben, die für eine nachhaltige Integration förderlich sind.
Ergebnisse sind ermutigend
Insgesamt zeichnen die vorliegenden Zwischenergebnisse trotz zum Teil schwieriger und sehr differierender Ausgangslagen ein ermutigendes Bild. Die Abschlussergebnisse der Studie, die im Rahmen eines Fachforums auf dem Deutschen Kinder- und Jugendhilfetag im März 2017 vorgestellt werden, werden mit einer voraussichtlichen Stichprobengröße von circa 1000 untersuchten Hilfen Längsschnitt-Aussagen über einen erheblich längeren Zeitraum treffen können. Darüber hinaus werden dann auch Befunde zu den erfolgsfördernden und -hemmenden Einflussfaktoren der Hilfen vorliegen.
Anmerkung
1. Weitere Informationen dazu sind auf der Website www.ikj-mainz.de/index.php/EVAS.html einsehbar.
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