Fort mit den Hindernissen!
Sitha ist eines dieser Kinder, von denen es in Kambodscha viele gibt, nach denen man aber trotzdem lange suchen muss. Die Neunjährige ist mit einer Hirnschädigung auf die Welt gekommen und damit eines von gut 32.000 Kindern unter 14 Jahren, die in Kambodscha mit einer Behinderung leben. Quicklebendig, neugierig, durchsetzungsstark und ein bisschen frech ist sie. Beste Voraussetzungen für ein spannendes Leben. Als behindertes Kind stehen ihre Chancen dennoch nicht gut.
Noch stärker als in vielen anderen Kulturen fehlt auch in Kambodscha das Bewusstsein, dass es normal ist, verschieden zu sein. Dass eine Behinderung keine Schande oder gar Strafe Gottes ist, die man am besten vor der Welt versteckt hält. Deshalb war Sitha nicht nur für viele Einwohner ihres Dorfes lange Zeit unsichtbar, sondern sie musste sich auch vieles härter erarbeiten als andere Kinder. Und ihre Unterstützer, die sie im Laufe ihres Lebens fand, müssen auch härter für sie kämpfen, als das für andere Kinder nötig ist.
Nachdem ihre Mutter kurz nach der Geburt starb, sind es ihre Brüder, ihr Vater sowie die Helfer(innen) und Mitarbeitenden der Caritas, die sich für Sitha einsetzen. Vor 25 Jahren wurde das "Center for Child and Adolescent Mental Health" (CCAMH, Zentrum für geistige Gesundheit von Kindern und Jugendlichen) in Phnom Penh unter dem Dach der Caritas gegründet. Eine nach wie vor einzigartige Einrichtung in Kambodscha. Während Menschen mit körperlichen Behinderungen auf die Unterstützung von etlichen Hilfsorganisationen zählen können, finden Familien mit geistig behinderten Kindern im ganzen Land nur bei CCAMH medizinische Hilfe, persönliche Beratung und individuell angepasste Therapien.
Diese Menschen werden sehr ausgegrenzt
Menschen mit einer geistigen Behinderung, so die Erfahrung der Caritas-Mitarbeiter(innen), werden in Kambodscha deutlich stärker ausgegrenzt und stigmatisiert als Menschen mit körperlichen Behinderungen - vermutlich, weil aufgrund der Kriegserfahrungen die Vertrautheit mit körperlichen Beeinträchtigungen viel größer ist. Immer wieder berichten Eltern zum Beispiel, dass ihre Kinder von Nachbarskindern ferngehalten werden, weil befürchtet wird, dass Epilepsie ansteckend sei.
Das Spektrum der Beeinträchtigungen der Kinder und Jugendlichen, die vom CCAMH betreut werden, reicht von Entwicklungsverzögerungen über Autismus und Epilepsie bis hin zu zerebralen Lähmungen. Der Hilfsansatz der Mitarbeitenden für sie geht weit über die immer noch da und dort anzutreffende schlichte karitative Sorge in einer isolierten Sonderwelt hinaus. Sie orientiert sich an einer dezentralen, emanzipatorischen, rechtebasierten und inklusiven Arbeit. Ihr Ziel ist es, dass die Kinder und Jugendlichen die Chance bekommen, selbstbewusste und verantwortliche Mitglieder der Familien und des Dorfes mit voller Würde und Teilhabe zu werden. "Wichtig ist für uns, nicht nur die Kinder mit Behinderungen selbst zu behandeln, sondern die sozialen Probleme des Umfeldes, aus dem die Kinder kommen, immer miteinzubeziehen. Und wir versuchen auch die mögliche gesellschaftliche Ursache der Behinderungen und Krankheiten, die zu Behinderungen führen, zu verändern", erläutert der Kinderpsychiater Bhoomikumar Jegannathan, der das CCAMH seit mehr als 20 Jahren leitet.
Die Hauptverantwortung liegt bei den Familien
Gemeinsam mit den Betroffenen sucht das Team Antworten auf die selbst definierten Bedürfnisse der Menschen mit Behinderung. Die Familien werden dabei unterstützt durch Fachleute und Freiwillige, die sie anleiten, wie sie ihre Kinder bestmöglich zu Hause, im heimischen Lebensumfeld fördern können. Die Hauptverantwortung für ihr Leben aber soll den Kindern und ihren Familien nicht entrissen werden. Bei der Verfolgung dieses Zieles orientiert sich das CCAMH an der strategischen Ausrichtung der Community-Based Rehabilitation und kombiniert diese mit Ansätzen der inklusiven Entwicklung.
Das CCAMH agiert bei seinem Engagement wie eine Spinne im Netz. Vom Hauptsitz in Phnom Penh aus werden die Fäden gezogen. 29 Mitarbeitende sind in der Hauptstadt tätig, zwei Außenstellen gibt es in den Provinzen Battambang sowie Kampong Thom. Besonderer Wert wird auf die regelmäßigen Besuche in rund 25 Dörfern im Umland von Phnom Penh gelegt, bei denen die Kinder auf mögliche geistige und körperliche Beeinträchtigungen untersucht sowie bei Bedarf sofort behandelt oder an andere Experten weiterverwiesen werden. "Ohne unsere Besuche würden viel weniger Menschen in unsere Tagesstätte kommen, die Hemmschwelle wäre für viele zu groß", erklärt Bhoomikumar Jegannathan. Die Besuche seien aber auch für die eigenen Mitarbeiter(innen) wichtig, um immer wieder aufs Neue mit der Lebensrealität in den Dörfern konfrontiert zu werden und die eigene Arbeit vor dem Hintergrund dieser Eindrücke immer wieder anzupassen.
Die Lebensrealität hat in Kambodscha noch immer viel mit der grausamen Vergangenheit des Landes zu tun: Seit Anfang der 70er Jahre litt die Bevölkerung gut zwei Jahrzehnte unter kriegerischen Konflikten. Das Gesundheitswesen, der Bildungsbereich und zivilgesellschaftliche Strukturen waren nach der Gewalt Ende der 90er-Jahre weitgehend zerstört. Noch immer weist Kambodscha die höchste Kindersterblichkeitsrate in der gesamten Region auf. Die Impfrate ist denkbar gering. Der fehlende Zugang zu medizinischer Hilfe und sauberem Trinkwasser sowie armutsbedingte Mangelernährung führen zu einer hohen Häufigkeit frühkindlicher Gehirnschädigungen und dauerhaften Behinderungen. Vor allem bei Kindern schädigen Protein-, Eisen- und Jodmangelzustände das Entwicklungs- und Lernpotenzial.
Gezielte Lobbyarbeit ist wichtig
Die neunjährige Sitha ist eines der Kinder, die mit diesen Folgen des Krieges und der Armut leben müssen. Aber nicht nur, dass sie durch ihre Hirnschädigung in ihrer Entwicklung eingeschränkt ist. Genauso sehr schränkt ihre Umwelt sie ein: die Ignoranz vieler Menschen, die Bürokratie und Schulbehörden. Die Caritas-Mitarbeiter versuchen auf allen Ebenen, für Sitha und die anderen Kinder die zahlreichen ihre Entwicklung einschränkenden Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Das reicht von Aufklärungsveranstaltungen zum Thema Behinderung über Impfkampagnen und die Verteilung von jodhaltigem Salz bis hin zur Kontaktaufnahme zu Schulen und Behörden. Das Lobbying und die Bewusstseinsbildung bei Eltern, Lehrern, Schulleitern und Schulbehörden nehmen dabei einen stetig wachsenden Raum ein, um die Einschulung und Begleitung der Kinder in Regelschulen zu ermöglichen.
Immer wieder stoßen die Mitarbeitenden aber auch an die Grenzen, die ihnen die Armut im Land setzt: Wenn der Ernährer der Familie nicht genug zum Überleben verdient, ist er oft nur schwer davon zu überzeugen, Zeit und Geld für sein behindertes Kind aufzuwenden, das sich womöglich nicht an der Familienarbeit beteiligen kann. Ähnlich ist es auch bei Sitha, deren alleinerziehender Vater sich, aus Sorge um die Sicherheit seiner Tochter, bislang noch gegen ihre Einschulung stemmt.
Der nächste Schritt ist die Einschulung
Nachdem die Neunjährige gelernt hat, sich zu kämmen und anzuziehen, selbst einzukaufen und den Aktivitäten der Eltern-Kind-Gruppe der Caritas weitgehend problemlos zu folgen, soll die Einschulung dennoch der nächste Schritt für die Neunjährige sein. Möglichst in der Grundschule im Dorf. Das ist für Kinder mit Behinderung in Kambodscha noch immer alles andere als selbstverständlich. Die entsprechenden Kontakte zur Schule sind aber schon geknüpft. So neugierig und aktiv wie Sitha ist, wäre es der nächste logische Schritt auf dem Weg zur Chancengleichheit.
Literatur
Verband Entwicklungspolitik Deutscher Nichtregierungsorganisationen: Gewusst wie - Menschen mit Behinderung in Projekte der Entwicklungszusammenarbeit einbeziehen. Bonn, 2010.
Wegner-Schneider, C.: Teilhabechancen international - das CBR-Konzept. In: Fink, F.; Hinz, T. (Hrsg.): Inklusion in Behindertenhilfe und Psychiatrie - Vom Traum zur Wirklichkeit. Freiburg: Lambertus-Verlag, 2010.
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