Stiefkinder der Inklusionsdebatte: Migranten mit Behinderung
Es wird viel geredet von Inklusion und vor allem von der UN-Behindertenrechtskonvention. Diese legt das Recht auf Teilhabe von Menschen fest, die von Behinderung bedroht oder betroffen sind. Die Bundesrepublik hat sich zu ihr verpflichtet. Migrant(inn)en und ihre Partizipationschancen an den Angeboten der Behindertenhilfe hat dabei leider kaum jemand der Beteiligten im Blick. Viele Einrichtungen tun sich weiterhin schwer bei der gleichberechtigten Teilhabe von Menschen mit (drohendem) Handicap und Migrationshintergrund. Durch die bisherige Separation von Ausbildungsgängen im Bereich Behinderung und Migration ist das Feld der inklusiv und inter-/transkulturell denkenden und agierenden Fachkräfte in der Behindertenhilfe in Deutschland noch nicht gut bestellt. Im Land der Spezialisierung haben wir jahrelang eine Kultur gepflegt, in der Spezialist(inn)en ausgebildet wurden. Fachkräften aus dem Bereich der Migrationsarbeit stehen Heilpädagogen und andere Professionen gegenüber. Das ändert sich langsam und hoffentlich stetig. Erste Ausbildungsstätten erkennen den Bedarf an Fachkräften, die im Kontext Behinderung kulturenübergreifend arbeiten können.
Zeiten des Umbruchs taugen für eine innere Revision bestehender Angebote und dazu, sich im Zuge der Inklusionsdebatte auch um ein Stiefkind der Behindertenhilfe zu kümmern: Inklusion von, für und mit Migrant(inn)en mit Behinderung. Es kommt immer wieder zu Missverständnissen oder Hürden in der Zusammenarbeit mit Migranten(-familien) und Fachkräften der Behindertenhilfe. Das hat oftmals viel mit Kultur und Wanderungsprozessen zu tun, die wir in Deutschland allzu oft unbeachtet lassen.
Im Gespräch mit Familien wird immer wieder deutlich, wie wichtig es ist, bei der Auseinandersetzung mit der Behinderung und der Bewältigung der sie begleitenden Barrieren die Sozialisationskultur zu berücksichtigen.
Fatma A. geht es gehörig gegen den Strich, dass die gesamte Schwiegerfamilie ihr die Schuld an der Behinderung ihrer beiden Kinder zuschiebt. Ihr Ehemann belächelt sie, wenn sie den "bösen Blick", der epileptische Anfälle auslösen kann, mit Leitungswasser wegspült. Er stuft sie als rückständig ein und deshalb streiten sich die beiden oft. Der Ehemann kümmert sich kaum um die Nachbegleitung der regelmäßigen Physio- und Frühfördertermine der Kinder. Sie würde sich gerne einmal irgendwo aussprechen. Doch welche deutsche Beraterin interessieren ihre Sorgen? Sie will ja nicht für dumm gehalten werden.
Winfried J. ist Flüchtling aus Liberia und hörbehindert. Er hat zwar eine gute Beratungsstelle gefunden, kann jedoch keine Hilfen beantragen, da er als Bezieher von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz keinen Anspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe hat. Die Krankenhilfe ist begrenzt auf das Notwendigste. Das lokale Sozialamt entscheidet, ob ein Hörgerät bezahlt wird oder nicht.
Sarumaythurai K. will sich einbürgern lassen. Er fühlt sich wohl in Deutschland, seiner zweiten Heimat seit 20 Jahren. Er kann das Zertifikat für den bestandenen Sprachkurs bei der Ausländerbehörde nicht nachweisen, da er als fast blinder Mann dem Regelkurs in der Volkshochschule auch in der ersten Reihe nicht folgen kann. Der Spezialkurs für Sehbehinderte wird im weit entfernten Berlin zwar angeboten, ist aber für ihn nicht bezahlbar.
Wo liegen die Gründe für eine Fehlversorgung?
Dies sind Fälle, die dazu anregen, neu über Inklusion nachzudenken. Der volkswirtschaftliche Schaden ausbleibender, falscher oder misslungener Hilfe ist immens. Er kann jedoch kaum beziffert werden, da valide Zahlen fehlen. Wir wissen nicht, wie viele Migrant(inn)en mit spezifischem kultursensiblem Beratungs- und Hilfebedarf in Deutschland leben. Fälle falscher oder sogar schädlicher Begleitung werden in sehr geringem Maße den Antidiskriminierungsstellen gemeldet und dort dokumentiert. Aber besonders türkische und albanische Eltern beklagen eine sehr hohe Überweisungsquote ihrer Kinder an Förderschulen, die nicht immer sinnvoll und richtig ist.
Gründe für die Unter- oder Fehlversorgung von Migrant(inn)en mit Behinderung oder drohender Behinderung liegen in der Vielfalt der Gruppe selbst. Es gibt zum Beispiel die "Neuen", frisch Zugezogenen, die über das System der deutschen Behindertenhilfe nicht informiert sind. Aber auch die Migrant(inn)en der dritten oder vierten Generation weisen spezielle Beratungsbedarfe auf. Spätaussiedler(innen) sind auf dem Papier Deutsche. Sie werden in vielen Statistiken nicht als Migrant(inn)en erfasst, haben aber migrationsspezifische Fragen an unser Hilfesystem. Großfamilien und Familienclans haben ein anderes Verständnis von Miteinander, Füreinander und Verantwortung. Kollektivistischen Gruppen werden oft tragende Netzwerke unterstellt. Es fällt somit kaum auf, dass diese Gruppen nicht in die Beratung kommen. Die Familien selbst berichten aber von wegbrechenden sozialen Netzwerken, wenn eine Behinderung deutlich wird. Besonders schwer ist es mit der Sprache. Vielleicht ist der auf Deutsch korrekt bezeichnete "Mensch mit Behinderung" in der übersetzten Sprache ein Schimpfwort wie "Krüppel" oder "Bekloppter"?
Was trägt zur Verwirrung bei?
Für die Fachkräfte der Behindertenhilfe ist es verwirrend, dass sie im Rahmen ihrer Ausbildung keine "Diversity-Kompetenz" gelernt haben. Diese steht für den kompetenten und lösungsorientierten Umgang mit kultureller Vielfalt im jeweiligen beruflichen Spezialgebiet. In Fortbildungen zeigt sich oft eine große Ratlosigkeit, wenn hochmotivierte Fachkräfte der Behindertenhilfe befragt werden, woran sie erkennen, wann ihr berufsbezogenes Agieren kultur- und wann fachbezogen ist.
Die Gruppe der Migrant(inn)en hingegen ist vielfältig und der Druck zur Integration sehr hoch. Viele wollen von deutschen Fachkräften als "gelungen integriert" angesehen werden, weil sie sich hier wohlfühlen und dazugehören möchten. Da werden dann häufig eigene, kulturbezogene Gedanken für sich behalten. Für die Zusammenarbeit ist dies unfruchtbar.
Und was hilft?
Die pauschale Annahme, alle Menschen mit Zuwanderungsgeschichte in Deutschland bedürften einer besonderen Beratung im Hinblick auf Fragen ihrer (drohenden) Behinderung, kann nicht die Lösung sein. Eigentlich sollte hier der Gedanke des "individuellen Hilfe- und Förderplanes" greifen, der den in der UN-Behindertenrechtskonvention geforderten Abbau von Inklusionsbarrieren und die Förderung der individuellen Hilfe berücksichtigt. Doch wer achtet im interkulturellen Gespräch darauf, dass mögliche kulturspezifische Fragen und Problemlagen von Migrant(inn)en berücksichtigt werden? Dies sollte die Fachkraft der Behindertenhilfe tun! Wir benötigen sensibilisierte Moderator(inn)en für die doppelte Kulturfremdheit: Eine in kultursensiblem Arbeiten geschulte Fachkraft der Behindertenhilfe ist gut in der Lage, ihrer eigenen Kulturfremdheit gegenüber der kulturellen Auseinandersetzung der Familien mit der Behinderung und ihren Belangen gerecht zu werden. Sie ist aber auch befähigt, verständlich die deutsche Kultur im Umgang mit und der Begleitung von Behinderung vorzustellen und Interesse dafür zu wecken. Um diese kompetenten Mitarbeitenden in den Angeboten der Behindertenhilfe vorzuweisen, bedarf es jedoch einer Sensibilisierung für den bestehenden Fortbildungsbedarf, insbesondere in den Köpfen von Geschäftsführungen und Bereichsleitungen. Ihre Aufgabe ist es, zu erkennen, ob Migrant(inn)en Zugänge zu ihren Angeboten finden, ob sie damit zufrieden sind und ob Möglichkeiten der Einflussnahme auf die oft deutsch geprägte Angebotsstruktur bestehen. Sie sollten im Rahmen der Personalentwicklung im Blick haben, wann der Umgang mit kultureller Vielfalt gelingt und wann Mitarbeitende weiteres Rüstzeug benötigen, um Defizite der Fachausbildung aufzuholen. Neben einer unzureichenden Begleitung von Migrant(inn)en mit Behinderung kommt es leider immer noch oft zu Fehleinschätzungen, insbesondere bei Migrantenkindern mit Entwicklungsverzögerungen und Verhaltensauffälligkeiten - mit negativen Konsequenzen für das individuelle Kinderschicksal und die Volkswirtschaft.
Nicht alle sind für die Arbeit mit Zuwanderern geeignet
Leitungskräfte und Mitarbeitende sollten vor der Gefahr einer durch Unachtsamkeit, Unwissenheit oder Hilflosigkeit unbewussten Diskriminierung rat- und hilfesuchender Migrant(inn)en nicht ihre Augen verschließen. Sie sollten sich auch nicht scheuen zu erkennen, dass faktisch nicht alle Mitarbeitenden für die Arbeit mit Zuwanderer(inn)en geeignet sind. Problematisch ist die häufig verbreitete Annahme, dass derjenige, der sich in der Arbeit mit Menschen mit Handicap engagiert, auch anderen gesellschaftlichen "Sonderphänomenen" wohlwollend gegenübersteht. Inklusive Arbeit im Kontext von Migration bedarf einer Haltung, die diese befördert. Die ist nicht der Regelfall. Die gezielte Auswahl von Nachwuchskräften mit eigener Zuwanderungsgeschichte kann eine Lösung sein. Sie erfordert dann jedoch eine Unterstützung des Teams, zum Beispiel in Form von Inter- oder Supervision, um die neue Ressource der kulturellen Vielfalt im Team auch zu nutzen. Zudem ist es unrealistisch anzunehmen, mittelfristig alle kulturellen Gruppen, die Angebote der Behindertenhilfe in Anspruch nehmen möchten, durch muttersprachliche Fachkräfte begleiten zu können. Durch ein vermutlich ausbildungsbedingtes Defizit an Fähigkeiten in kultursensiblem Arbeiten sollten sich deutsche Fachkräfte nicht verunsichern lassen.
Fachkräfte mit eigener Migrationsgeschichte handeln nicht per se kultursensibel. Die Angebotsstruktur der Hilfen für Menschen mit (drohender) Behinderung ist erstens dann zukunftsweisend, wenn es gelingt, möglichst viele Fachkräfte mit und ohne Migrationshintergrund für einen Arbeitsstil zu gewinnen, der Raum gibt für eine kultursensible Hypothesenbildung. Das heißt, bei der Kontaktaufnahme und späteren Hilfeplanung und Begleitung zu schauen, was diese Klientel mit ihrem individuellen Hintergrund genau benötigt. Die Fachkräfte sollten fähig sein, diese Hypothesen im Gespräch mit den Expert(inn)en in eigner Sache, den Migrant(inn)en, valide zu überprüfen. Wenn zweitens unsere Institutionen durch die Mitarbeit von Menschen verschiedener kultureller Prägungen vielfältiger und menschlicher werden und sich das auch der deutschen Klientel erschließt, dann funktioniert kulturelle Inklusion. Starrheit in den Köpfen ("Unsere Mitarbeitenden machen das schon gut so", "Wir sind hier halt in Deutschland") befördert keine kulturelle Öffnung. Wir benötigen einen sensiblen Austausch von Wünschen, Erwartungen und realistischen Umsetzungsmöglichkeiten. Forderungen von Angehörigen anderer Religionen als der christlichen stellen beispielsweise hohe Erwartungen an die Flexibilität von Mitarbeitenden und Einrichtungen. Nicht alle werden umgesetzt werden können.
Bisher ist die Bevölkerungsgruppe der Migrant(inn)en zu sehr benachteiligt, wenn es darum geht, die Angebote für Menschen mit Behinderung zu nutzen. Konzepte zu kultursensiblem Arbeiten als Fachkraft der Behindertenhilfe gibt es. Es bedarf nun mehr als bisher interessierter Helfer(innen), die sie kennenlernen und umsetzen wollen.