Mini-Reform statt grundlegender Neuausrichtung
Das Jahr der Pflege, für das Jahr 2011 vom damaligen Gesundheitsminister Philipp Rösler ausgerufen, zeigt nun endlich Wirkung. Die Pflegereform nimmt in Form des „Pflege-Neuausrichtungsgesetzes“ Gestalt an, der Expertenbeirat zur Weiterentwicklung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs hat Anfang März seine Arbeit begonnen und Mitte März legte die Bund-Länder-Arbeitsgruppe zu einer gemeinsamen Pflegeausbildung ein Eckpunktepapier vor, das einem neuen Pflegeberufsgesetz den Weg ebnet.
Der Deutsche Caritasverband (DCV) hat zum Referentenentwurf des Pflege-Neuausrichtungsgesetzes umfänglich Stellung genommen und in der Anhörung des Bundesgesundheitsministeriums Kritik, aber auch Lob zu Gehör gebracht. Der wichtigste Kritikpunkt der Caritas ist, dass der Gesetzentwurf entgegen seinem Titel eben nicht die Pflegeversicherung „neu ausrichtet“. Die erhoffte Einführung und leistungsrechtliche Umsetzung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs unterbleibt.
Kern des Gesetzes sind Leistungsverbesserungen für Menschen, die erheblich eingeschränkt sind. Dazu wird im Vorgriff auf den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff die „häusliche Betreuung“ als Leistungskomplex in die Pflegesachleistung eingeführt. Darauf aufbauend erhalten Menschen, die in Pflegestufe 0, I und II eingestuft sind und zu Hause gepflegt werden, Aufschläge auf das Pflegegeld, die Pflegesachleistung und die Kombinationsleistung. Dies ist durchaus positiv zu bewerten. Gleichzeitig verursacht die Neuregelung zahlreiche Probleme in der Umsetzung: Es ist nicht klar gesetzlich definiert, welche Leistungen die „häusliche Betreuung“ umfasst. Art, Inhalt und Umfang der neuen Leistung sollen in gemeinsamen Rahmenvereinbarungen nach § 75 Abs. 8 SGB XI vom Spitzenverband der Pflegekassen, der Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände und der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Sozialhilfeträger festgelegt werden, unter anderem unter Beteiligung der Verbände der Träger der ambulanten Pflegeeinrichtungen auf Bundesebene.
Die Gefahr eines Verschiebebahnhofs
Es fehlt jedoch an einer klaren Abgrenzung der neuen Leistung zu den Teilhabeleistungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII und SGB VIII. Dies birgt die Gefahr eines Verschiebebahnhofs von Leistungen aus der Eingliederungshilfe in die Pflegeversicherung. Hier zeigt sich, dass die neuen Leistungen ohne die Einführung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs und sauberen Abgrenzungen zu anderen Sozialleistungen Makulatur bleiben müssen. Der DCV setzt sich dafür ein, dass der Gesetzgeber die Leistung einschließlich der Abgrenzungsfragen streitfrei definiert und dass die Leistung dem Inhalt nach in den Verträgen nach § 75 Abs. 2 direkt geregelt wird. Der Referentenentwurf sieht außerdem vor, dass mit Einführung der neuen Betreuungsleistung neben den Pflegediensten auch Betreuungsdienste tätig werden können. Nach § 71 Abs. 3a SGB XI sollen „ambulante Dienste“ zugelassen werden, deren Tätigkeitsfeld sich auf die Betreuungsleistung und die hauswirtschaftliche Versorgung für demenziell erkrankte Pflegebedürftige schwerpunktmäßig konzentrieren sollen. Pflegen dürfen diese Dienste also nicht. Nicht klar geregelt hat der Gesetzgeber jedoch, welche Berufsgruppen für die Leitung dieser Dienste infrage kommen. Als Kriterien genannt werden lediglich eine berufliche Qualifizierung mit zweijähriger Berufserfahrung im erlernten Beruf, fachliche Eignung und Zuverlässigkeit. Der Gesetzestext schweigt sich darüber aus, welche Berufsgruppen für die Leitungsfunktion infrage kommen. Lediglich in der Begründung werden beispielhaft als infrage kommende Berufsgruppen Altentherapeut(inn)en, Heilerzieher(innen), Heilpädagog(inn)en, Sozialarbeiter(innen) sowie Sozialtherapeut(inn)en aufgezählt. Auch hier ist der Gesetzestext dringend nachzubessern.
Begrüßenswert ist der Versuch des Gesetzgebers, die Rolle der Einzelpflegekraft zu stärken. Angesichts der Herausforderung des Sicherstellungsauftrags ist es jedoch fraglich, ob sich langfristig mehr „Einzelpersonen“ für die häusliche Pflege – so der neue Terminus technicus – auf dem Markt finden werden.
Neben dieser Grundsatzkritik gibt es jedoch eine ganze Reihe von Verbesserungen für pflegebedürftige Menschen, die auch der DCV im Vorfeld der Reform gefordert hatte und somit begrüßt: So soll das Gutachten dem Pflegebedürftigen künftig automatisch übermittelt werden, sofern er dem nicht widerspricht. Außerdem soll die Rehabilitationsempfehlung, die bisher Bestandteil des Gutachtens war, gesondert erstellt und übermittelt werden. Hier fordert die Caritas zudem eine Begründungspflicht, wenn Gutachter feststellen, dass kein Rehabilitationsbedarf besteht. Positiv ist auch, dass die Versicherten nun über den Ablauf des Begutachtungsverfahrens und Beschwerdemöglichkeiten informiert werden müssen. Dafür bedarf es aus Sicht der Caritas allerdings keiner Richtlinie, sondern nur der Verankerung der entsprechenden Punkte in den Regelungen zur Begutachtung.
Lange gefordert hatte der DCV auch, dass die Beratungspflicht der Pflegekassen bereits ab Antragstellung greifen soll, so dass auch Menschen, die zwar einen Hilfebedarf haben, aber keine Pflegestufe erlangen, beraten werden können. Hier muss der Gesetzgeber allerdings nachbessern und eine wirkliche Wahlfreiheit der Versicherten zwischen der Beratung durch die Pflegekasse und durch unabhängige Beratungsstellen unter Ausstellung eines Beratungsgutscheins herstellen.
Positiv zu bewerten ist, dass der Gesetzgeber die pflegenden Angehörigen stärkt. So soll künftig das Pflegegeld auch während Kurzzeitpflege und Ersatzpflege weitergezahlt werden, wenngleich leider nur zur Hälfte. Die Fortzahlung hatte auch die Caritas im Vorfeld der Reform neben einer ganzen Liste weiterer Möglichkeiten zur Entlastung pflegender Angehöriger gefordert. Für alle Leistungsverbesserungen steht insgesamt nur ein Volumen von 1,1 Milliarden Euro oder 0,1 Prozent Beitragserhöhung zur Verfügung. Aufgrund dieser finanziellen Restriktion werden weitergehende Positionen der Caritas, wie die Streichung der Wartefristen für eine Ersatzpflege, die Möglichkeit einer ambulanten Kurzzeitpflege, eine pflegestufenunabhängige Staffelung der Leistungsbeträge für die Kurzzeitpflege oder Kurzzeitpflege als Nachsorge wohl in diesem Gesetzesverfahren nicht umgesetzt werden können.
Gemeinsam mit dem zu pflegenden Angehörigen in Kur
Weiterhin zu begrüßen ist, dass pflegende Angehörige künftig einen klareren Rechtsanspruch auf Kuren haben und ihren zu pflegenden Angehörigen in die Rehabilitationseinrichtung mitnehmen können. Aus Sicht der Caritas müssen die Rehabilitationseinrichtungen dabei allerdings die Qualitätsanforderungen an die Kurzzeitpflege erfüllen; eine Kurzzeitpflege „light“ darf es hier nicht geben. Außerdem fordert die Caritas, dass es ähnlich wie bei der Vorsorge und Rehabilitation von Müttern und Vätern auch für die Zielgruppe der pflegenden Angehörigen nicht erforderlich sein soll, zunächst alle ambulanten Rehabilitationsmöglichkeiten auszuschöpfen, bevor eine stationäre Rehabilitation oder Vorsorge in Anspruch genommen werden kann.
Der Gesetzgeber stärkt darüber hinaus den Grundsatz „ambulant vor stationär“, indem er die neuen Wohnformen fördert. So sollen Pflegebedürftige, die in ambulant betreuten Wohngemeinschaften leben, künftig einen monatlichen pauschalen Zuschlag von 200 Euro zur Finanzierung einer Präsenzkraft erhalten. Allen häuslich betreuten pflegebedürftigen Menschen kommt zugute, dass die Einkommensgrenzen für die Inanspruchnahme des Zuschusses von 2557 Euro für wohnumfeldverbessernde Maßnahmen künftig wegfallen. Darüber hinaus können die Bewohner(innen) von ambulant betreuten Wohngruppen einen zusätzlichen Zuschuss für die altersgerechte Gestaltung ihrer Wohnung in Höhe von 2500 Euro erhalten. Zu begrüßen ist, dass künftig auch in der Tagespflege zusätzliche Betreuungskräfte nach § 87b eingesetzt werden können, obwohl die Umsetzung noch einige Fragen aufwerfen dürfte. Die Schattenseite dieser vielen positiv zu bewertenden Neuregelungen ist, dass der Gesetzgeber keinerlei Leistungsverbesserungen für demenziell erkrankte Menschen im stationären Bereich vorsieht. Hier hätte sich der DCV gewünscht, dass zumindest der Schlüssel für die zusätzlichen Betreuungskräfte von einer Betreuungskraft für 25 auf 20 Pflegebedürftige verringert wird.
Auch eine Verbesserung der medizinischen Versorgung pflegebedürftiger Menschen wird mit dem Referentenentwurf angestrebt. Der DCV begrüßt den Versuch, Ärzt(inn)e(n) zu Kooperationsverträgen zu animieren, indem sie einen Vergütungszuschlag für Hausbesuche, insbesondere in unterversorgten Regionen, erhalten. Weniger gelungen ist aus Sicht der Caritas der Versuch, die im Argen liegende zahnärztliche Versorgung zu verbessern. Erst mit dem Versorgungsstrukturgesetz wurde ein Vergütungszuschlag eingeführt. Wesentlicher wäre es, Menschen, die aufgrund einer Behinderung oder Pflegebedürftigkeit nicht die motorischen oder kognitiven Fähigkeiten besitzen, die erforderlichen Verrichtungen zur Individualprophylaxe zu verstehen oder umzusetzen, einen Anspruch auf diese Leistung im SGB V zu gewähren.
Anmerkung
Die ausführliche Stellungnahme des DCV zur Neuausrichtung der Pflegeversicherung finden Sie unter: www.caritas.de/fuerprofis/presse/stellungnahmen/stellungnahmen