Behindert unter erschwerten Bedingungen
Viele Barrieren haben behinderte Menschen zu überwinden, um am Leben der Gesellschaft teilnehmen zu können. Haben sie dazu einen Migrationshintergrund, kommen häufig noch zwei, bei Asylbewerbern sogar drei Hürden hinzu: Sprache, Kultur und kein Anspruch auf Hilfen. Mit gesichertem Aufenthaltsstatus steht ihnen das tief gestaffelte deutsche Sozialsystem offen. Um es nutzen zu können, braucht es allerdings schon gute Sprachkenntnisse und einen gewissen Sinn für deutsches Verwaltungsdenken. Gerade bei Familien mit Migrationshintergrund macht es zudem das Schamgefühl über die Behinderung schwer, Hilfe anzunehmen.
Migration und Behinderung ist ein noch weitgehend unbeackertes Feld. Das fängt bei den Zahlen an, die es nicht gibt. Veli Firtina, Vorsitzender der Ditib-Gemeinde im Münsterland, der sich anlässlich der Regionenreise des Diözesan-Caritasverbandes Münster zur Caritas-Kampagne 2011 mit dem Thema beschäftigt hat, schätzt, dass jeder zehnte Migrant in Deutschland behindert ist, sei es von Geburt an, durch Unfall oder altersbedingt.
Erst durch die im Zuge der UN-Konvention zur Inklusion aufkeimende Diskussion gelangt das Thema in den Blick. Projekte dazu sind noch rar. Dabei tauchen die Betroffenen durchaus und zunehmend in den Einrichtungen und Diensten der Caritas auf. Die Freckenhorster Werkstätten zählen unter ihren 1400 Beschäftigten allein 70 Menschen muslimischen Glaubens. Zu ermitteln wäre, wie viele weitere Mitarbeitende aus anderen Kulturen stammen oder anderen Religionen anhängen. In die heilpädagogische Einrichtung Arche Noah in Ahlen schickte vor 14 Jahren nur eine türkische Familie ihr Kind und tat sich damit schwer. Heute haben 14 von 28 Kindern einen türkischen Hintergrund, berichtet Arche-Leiterin Susanne Jonas.
Migrantenkinder landen eher zu oft auf der Förderschule
Diese Zahl weist auf ein wesentliches Problem hin: die Sprache. Bei Kindern führen Sprach- und soziale Probleme leicht dazu, dass sie in Förderschulen abgeschoben werden. Da verwundert es nicht, dass Eltern eine Abneigung gegen diese entwickelt haben, vor allem wenn ihre Kinder geistig behindert sind. Zudem ist ihnen das System der Förderschulen nicht immer bekannt. Leichter sei es, so Jonas, wenn die Behinderung äußerlich sichtbar ist.
Sprache ist aber auch ein generelles Problem, wenn es darum geht, die passenden Hilfen zu finden und zu nutzen. Dafür müssten mehr Muttersprachler(innen) in Diensten und Einrichtungen der Caritas eingestellt werden, die Orientierung im Verwaltungsdschungel geben können.
Unterschiedliche Traditionen im Umgang mit Behinderung
Nicht weniger hinderlich ist unter Umständen die Kultur. Die Spannbreite ist groß und erfordert entsprechend unterschiedliche Herangehensweisen. Selbst bei gut integrierten Familien bleibt ein Teil des traditionellen Denkens über Generationen erhalten. Dazu zwei Beispiele als Gegensätze, die allerdings nicht von allen Menschen dieser Kulturkreise so betrachtet werden: Von Geburt an behindert zu sein wird im muslimischen Kulturkreis als "Prüfung Gottes" oder als "Strafe Gottes" angesehen. Je nach Auffassung kümmert sich die Familie mehr oder weniger, das schwere Schicksal wird möglichst im Verborgenen gehalten. Bezeichnend, dass im arabischen Raum das Wort für "Behinderte" mit "Krüppel" übersetzt wird. Denken wir allerdings einige Jahrzehnte zurück, war diese Denkweise der deutschen Kultur nicht so fremd.
Bei diesem Personenkreis vereinen sich die Probleme Sprache und Kultur vor allem auch deshalb, weil die Sorge um die behinderten Familienmitglieder Aufgabe der Frauen ist. Gerade sie haben häufig mehr Schwierigkeiten, sich zu verständigen, weil sie, zumindest in den älteren Generationen, wenig Kontakt nach außen und Berührungspunkte zur deutschen Bevölkerung haben.
Ganz anders die Denkweise der russischstämmigen Aussiedler. In Russland kümmerte sich der Staat. Am liebsten war es ihm, wenn Kinder bei drohender Behinderung abgetrieben wurden. In der Öffentlichkeit waren behinderte Menschen weniger präsent, so empfand man auch weniger Handlungsbedarf. Wer durch Komplikationen bei der Geburt oder später behindert wurde, kam in staatliche Obhut. Entsprechend fällt es Aussiedlern eher leichter, die angebotenen Hilfen anzunehmen.
Zunehmend mehr Migranten mit Behinderung gibt es altersbedingt. Die Gastarbeiter der ersten Generation bekamen nur nach gründlicher Gesundheitsprüfung den Fahrschein nach Deutschland. Nach Jahrzehnten harter und oft gesundheitsgefährdender Arbeit werden sie jetzt pflegebedürftig, erleiden Schlaganfälle mit nachfolgenden Behinderungen. Diese Schicksalsfälle zu akzeptieren fällt ihnen und ihren Familien häufig nicht leicht. Emotional ist es schwer zu verarbeiten: gesund nach Deutschland gekommen zu sein, hart gearbeitet zu haben, jetzt behindert zu sein und nicht, wie ursprünglich beabsichtigt, in die Heimat zurückzukehren - aber auch nicht wirklich eine neue Heimat gefunden zu haben.
Behinderte Flüchtlinge haben kein Recht auf Hilfsmittel
Vor gleich drei Hürden stehen Asylbewerber mit Behinderungen. Bei ihnen kommt hinzu, dass die Gesundheitsleistungen für sie eingeschränkt sind. Akute notwendige Behandlungen werden bewilligt, dauerhafte Gesundheitsleistungen stehen ihnen nicht zu. Nicht einmal Rollatoren oder Zahnersatz sind für sie vorgesehen.
Die Zeit hilft bei der Lösung dieser Probleme - allerdings auch nicht von allein. Mit zunehmender Integration von Generation zu Generation verwischen die kulturellen Unterschiede, verlieren sich die Sprachschwierigkeiten und wird das deutsche Hilfesystem vertrauter. Bis dahin gibt es für die Dienste und Einrichtungen der Caritas noch viel zu tun, um auch behinderte Menschen mit Zuwanderungsgeschichte zu erreichen und für sie angepasste Hilfen zu entwickeln. Inklusion muss hier doppelt gedacht werden.