Wo die Regierung nicht hilft, sieht sich die Caritas in der Pflicht
Auch ein Jahr nach dem Erdbeben, dem Tsunami und dem atomaren Super-GAU vom 11. März 2011 in Japan benötigen dort weiterhin mindestens hunderttausend Menschen dringend Hilfe von außen. Der Wiederaufbau wird Jahre dauern. Entscheidende Unterstützung leistet dabei die deutsche Caritas über ihre lokalen Partner-Organisationen, die Caritas Japan und die Association for Aid and Relief (AAR).
„Zuerst kam das Wasser. Dann kam das Feuer. Und dann war da nur mehr Asche und Schutt, wo einst die große Stadt stand.“ Nein, dies ist kein Zitat aus der Apokalypse. So beschreibt ein Augenzeuge, der 79-jährige Keigo Kikuchin, die Zerstörung der nordjapanischen Stadt Kesennuma durch den gewaltigsten Tsunami, den das Land je erlebt hat. Doch erscheint es ihm und mit ihm Millionen anderen Japaner(inne)n so, als hätten sie tatsächlich die Apokalypse erlebt.
Die Kameras sind weg, die Opfer leiden weiter
Die Dreifach-Katastrophe – Erdbeben, Tsunami und atomarer Super-GAU – hat ganze Städte ausgelöscht, knapp 20.000 Tote gefordert und über hunderttausend Menschen über Jahre hinweg von Hilfe von außen abhängig gemacht. Der Wiederaufbau wird, dies bestätigen Hilfsorganisationen wie Regierungsstellen, noch viele Jahre dauern.
Einen Tag lang standen vor kurzem die Katastrophenopfer wieder im Brennpunkt des Medieninteresses: Am 11. März, dem ersten Gedenktag der Katastrophe, berichteten Fernseh- und Hörfunksender sowie Printmedien aus aller Welt umfassend über die Situation in Japan. In zahlreichen Beiträgen wurde dabei ausdrücklich die Hilfe von Caritas international gewürdigt. Doch schon einen Tag später wurde es in der Presselandschaft wieder merkwürdig still in Sachen Japan. Das Tagesgeschehen überlagert seitdem die – mit einem geschätzten Schaden von 245 Milliarden Euro – teuerste Naturkatastrophe der Geschichte. Die Kameras zogen ab, die Opfer leiden weiter. Die Caritas bleibt und unterstützt die Betroffenen, um ihnen Hoffnung und neuen Lebensmut zu schenken. „Die Caritas“, erklärte der Präsident der Caritas Japan, Bischof Isao Kikuchi, „war und ist vor, während und nach der Katastrophe für die Menschen da.“
In der Tat ist die Caritas dies in den betroffenen Regionen Japans. So auch in Kesennuma, der Stadt, die Keigos Heimat war, der Stadt, in der durch den Tsunami ein Chemiewerk in Brand geriet. Was sich dort das Wasser nicht holen konnte, holte das Feuer. Der größte Teil Kesennumas ist zerstört. In anderen Küstenstädten genügte alleine das Wasser, um sie auszulöschen. Etwa in Minami-Sanriku, einem einst beschaulichen Küstenort mit 18.000 Einwohnern, 70 Kilometer südlich von Kesennuma.
Anfang Februar 2012 stehe ich dort auf einer Anhöhe, zwei Kilometer vom Meer entfernt, und blicke auf eine vom Schneefall der letzten Tage weiß bedeckte Wüstenlandschaft herab. „Das leere Feld vor Ihnen“, erklärt mir meine japanische Begleiterin Sayako Nogiwa, „war die Stadt Minami-Sanriku. Sie haben mich vorher nach sichtbaren Zeichen der Verwüstung durch den Tsunami gefragt. Das sichtbarste Zeichen ist, dass man nichts mehr sieht.“ Von den ehemaligen Häusern der Stadt stehen nur mehr 15 bis 20 Zentimeter hohe Fundamente. Wie Fremdkörper ragen noch ein Stahlskelett und einige Betonklötze – eines davon das ehemalige Krankenhaus – in den Himmel.
Freizeitangebote für vom Tsunami betroffene Kinder
Sayako ist humanitäre Helferin der AAR. Mit dieser japanischen Hilfsorganisation und der Caritas Japan als lokale Partner arbeitet Caritas international seit einem Jahr auf Hochtouren, um die Opfer der Katastrophe(n) zu unterstützen, ihr Leid zu lindern und ihnen neue Perspektiven zu bieten. In Kesennuma und Minami-Sanriku etwa baute die Caritas zwei neue Behinderten-Tageszentren auf, einige Kilometer entfernt von den zerstörten früheren Einrichtungen, landeinwärts und auf einem Hügel, um vor eventuellen neuen Tsunamis geschützt zu sein.
Ebenso finanziert die Caritas Betreuungseinrichtungen für alte Menschen und organisiert Freizeiten für Kinder in den betroffenen Gebieten. Warum solche Hilfe in einem reichen Industrieland wie Japan überhaupt notwendig ist, erklärt Daisuke Narui, Direktor der Caritas Japan: „Das, was der Staat nach dieser Katastrophe für die Menschen macht, reicht schlichtweg nicht aus. Die Regierung versorgt zwar die Bewohner in den Notunterkünften mit den nötigen Haushaltswaren, aber nicht die, die in neue Appartements umziehen mussten. Ebenso hat man die psychosoziale Arbeit größtenteils den Hilfsorganisationen überlassen.“ Und überall da, wo die Regierung nicht oder nicht in vollem Maße helfe, sehe sich die Caritas in der Pflicht. Auch in einem reichen Land wie Japan, erfahre ich, gibt es Lücken in der sozialen Versorgung.
Die Hilfe der Caritas macht die katholische Hilfsorganisation und deren Aktivitäten an zahlreichen Orten in einem buddhistischen Land präsent, in dem die Christen nur eine verschwindende Minderheit von 0,4 Prozent darstellen. In den Orten Sendai, Kamaishi, Ishinomaki, Yonekawa, Shiogama und anderen dienen seit dem 11. März 2011 die katholischen Pfarreien als Freiwilligenzentren und Anlaufstellen für Katastrophenopfer. Die Caritas aktivierte über 4000 ehrenamtliche Helfer(innen) für die soziale und psychosoziale Katastrophenhilfe. Da, wo sich vorher nur zwei Handvoll Katholiken zur Liturgie oder vielleicht zu einem Bibelgespräch trafen, trudeln jetzt Hunderte ein, Katholiken wie Buddhisten, suchen und geben einander Rat im Leid, das sie verbindet. Über die Pfarreien hat die Caritas auf diese Weise Zentren niedrigschwelliger Sozialarbeit eingerichtet.
„Ebenso entfalten die Pfarreien in den betroffenen Gebieten nun selbst auch verstärkt soziale Aktivitäten im Umfeld der betroffenen Gebiete“, ergänzt Narui. Hauptamtliche und Freiwillige machten Hausbesuche in den Notunterkünften und seien einfach für die Menschen da. Besonders in der Region Fukushima sei dies notwendig, um den Menschen beizustehen, die unter der Situation der verstärkten radioaktiven Strahlung leiden würden.
Alte Menschen bleiben allein zurück
Wie deprimierend die Situation der Menschen dort ist, wird bei einem Besuch von Menschen am Rande der gesperrten 20-Kilometer-Gefahrenzone um das havarierte Kernkraftwerk Dai-Ichi bei Fukushima deutlich. Wegen der radioaktiven Belastung meiden die Menschen regionale Produkte. Kinder dürfen vielerorts nicht im Freien spielen, um sich nicht mit radioaktivem Material zu kontaminieren. Junge Frauen haben Angst, keine gesunden Kinder mehr zur Welt bringen zu können. Über 60.000 junge Menschen sind aus der Region bereits weggezogen und der Trend hält an. Folge: Die Anmeldezahlen an Kindergärten und Schulen gehen dermaßen zurück, dass einige der Einrichtungen geschlossen werden. Die alten Menschen bleiben alleine zurück. „Ich will mich nicht mehr auf ein neues Leben umstellen. Es macht auch in meinem Alter nichts mehr aus, wenn ich in zehn oder 20 Jahren Krebs kriege“, klagt verbittert eine 71-jährige Rentnerin. Die rund 78.0000 Menschen, die aus der 20-Kilometer-Zone um das havarierte Kernkraftwerk evakuiert wurden, müssen sich damit abfinden, vielleicht nie mehr in ihre Heimat zurückzukönnen.
Hier hat die katholische Kirche, die bislang ein Schattendasein in der japanischen Gesellschaft führte, ein vielbeachtetes Zeichen gesetzt: Die Katholische Bischofskonferenz von Japan forderte in einer öffentlichen Erklärung die sofortige Abschaffung aller Atomkraftwerke in Japan. Kernkraftwerke könnten nie ganz sicher gemacht werden und sollten daher so bald wie möglich abgeschafft werden, um Menschenleben und die Würde der Kinder zu schützen, erklärte der Vorsitzende der Bischöfe, Jun Ikenaga, in einer Pressekonferenz.
Viele Japaner haben diese Erklärung positiv aufgenommen. Die katholischen Bischöfe zählen zu den Wortführern einer Anti-Atomkraft-Bewegung, die sich im Land mehr und mehr formiert. Man hat in Japan nach der Katastrophe von Fukushima sehr wohl registriert, welche Kraft eine solche Bewegung in Deutschland hatte und hat.
Anti-Atomkraft ist auch ein humanitäres Thema
Daher nutzte die Präsidentin von AAR, Yukie Osa, Mitte März einen Besuch beim Deutschen Caritasverband in Freiburg, um sich aus Deutschland Impulse für die Anti-Atomkraft-Lobbyarbeit in Japan zu holen. In Gesprächen mit dem Bund für Umwelt und Naturschutz, der Stadt Freiburg und dem „Solar Info Center“ informierte sie sich über Geschichte, Strukturen und Erfolge deutscher Anti-Atomkraft-Organisationen, über Möglichkeiten und Wirtschaftlichkeit alternativer Energien, die ihrer Meinung nach in Japan bisher zu wenig kommuniziert werden.
„Ich bin beeindruckt von dem, was ich hier in Deutschland erfahren habe“, erzählte sie vor ihrer Abreise. „Ich muss nun die vielen Anregungen sortieren und mir überlegen, was für Japan umsetzbar ist.“ AAR sei zwar, wie die deutsche Caritas, eine humanitäre Organisation, die sich politisch neutral verhalte, doch die Gespräche hätten sie überzeugt, dass das Engagement gegen die Atomkraft auch ein humanitäres Thema sei.
Selbst wenn einflussreiche Personen aus Politik und Wirtschaft in Japan auf dem humanitären und sozialen Ohr taub sein sollten, so glaubt Osa, dass diese „auf die ökonomischen Argumente hören werden. Ich habe in Deutschland erst erfahren, dass man mit Wind- und Sonnenenergie auch Geld verdienen kann und dass diese bald kostengünstiger als die Atomkraft sein werden. Das überzeugt.“
Als Osa hörte, dass Frankreich an der Grenze zu Deutschland, rund 30 Kilometer von Freiburg im Breisgau entfernt, trotz zahlreicher Proteste sein ältestes Kernkraftwerk in Fessenheim betreibt, äußerte sie betroffen: „Ich möchte mir gar nicht vorstellen, dass hier einmal ein Reaktorunfall wie bei uns in Japan passieren könnte.“ Und das zeige ihr überdeutlich: „Die Gefahr ist überall. Fukushima ist nicht irgendeine Geschichte vom anderen Ende der Welt. Fukushima ist ein globales Thema. Es betrifft auch Deutschland.“