Eine Unterhaltspflicht von hinten durch die Brust ins Auge
Seit dem 1. Juli 2017 gilt im Recht der Grundsicherung für Menschen mit voller dauerhafter Erwerbsminderung oder im Rentenalter eine besondere Regelung für Leistungsberechtigte, die mit ihren Eltern oder mit erwachsenen Geschwistern zusammenleben. Das betrifft vor allem volljährige Menschen mit einer Behinderung, die umfangreiche Hilfebedarfe haben und von Eltern oder Geschwistern versorgt werden. Die neue Regelung findet sich in § 42?a Abs. 3 SGB XII und besagt, dass die Kosten der Unterkunft, die im Rahmen der Grundsicherung vom Sozialamt übernommen werden, in der Regel nach der sogenannten "Differenzmethode" zu berechnen sind.
Grundlage der Differenzmethode sind die Höchstbeträge, die die Jobcenter und die Sozialämter im Rahmen von Grundsicherungsleistungen im Regelfall für die Unterkunftskosten übernehmen (sogenannte Angemessenheitsgrenzen). Diese Höchstbeträge sind gestaffelt nach Zahl der Personen im Haushalt. Sie werden für ein räumliches Vergleichsgebiet festgelegt. Meist ist das eine Stadt oder eine Gruppe von Gemeinden eines Landkreises. Nach der in § 42?a Abs. 3 SGB XII vorgegebenen Differenzmethode ist zunächst die Angemessenheitsgrenze für die Gesamtzahl der Personen im Haushalt heranzuziehen. Sodann ist die Angemessenheitsgrenze für einen Haushalt mit einer Person weniger festzustellen. Die Differenz zwischen diesen beiden Werten ergibt die fiktiven Kosten der Unterkunft, die behinderten Menschen, die von ihren Angehörigen oder Geschwistern versorgt werden, seit Juli 2017 noch zugebilligt werden. In vielen Fällen ist das nur ein zweistelliger Betrag.
Beispiel:
In Ingolstadt beträgt die Angemessenheitsgrenze einschließlich Heizkosten für einen Dreipersonenhaushalt 836,50 Euro. Der entsprechende Wert für einen Zweipersonenhaushalt beträgt 763,50 Euro. Die Differenz zwischen beiden Werten, also 73 Euro, wird nach der Differenzmethode als Betrag für die Kosten der Unterkunft akzeptiert. Für einen Einpersonenhaushalt gelten dagegen Unterkunftskosten einschließlich der Heizkosten in Höhe von bis zu 588 Euro als angemessen.
Der Vorteil dieser Regelung ist, dass der Differenzbetrag auch für diejenigen Leistungsberechtigten bewilligt wird, die bislang gar kein Geld für die Unterkunftskosten erhielten - zum Beispiel weil die Eltern mit ihnen keinen Mietvertrag abgeschlossen haben oder keine Unterkunftskosten geltend machen. In anderen Fällen führt die Regelung jedoch zu Ergebnissen, die offensichtlich ungerecht sind.
Ein Beispiel für die ungerechte Regelung
Fallbeispiel:
Frau P. ist 29 Jahre alt und arbeitet als Altenpflegerin. Sie lebt zusammen mit ihrem Lebenspartner, der noch in Ausbildung ist. Der Bruder Frau P.s ist 25 Jahre alt und aufgrund eines frühkindlichen Autismus stark behindert. Der Bruder hat bisher bei den Eltern gelebt und zieht zu seiner Schwester, die die aufwendige Versorgung zu großen Teilen übernimmt. Die Miete der Wohnung, in der Frau P. mit ihrem Partner und ihrem Bruder lebt, beträgt insgesamt rund 1100 Euro warm. Die Wohnung hat drei Zimmer. Herr P. hat ein Zimmer für sich. Das Paar teilt sich ein Schlafzimmer. Das Wohnzimmer nutzen alle gemeinsam. Wenn die gemeinsam genutzten Flächen den dreien jeweils zu einem Drittel zugeordnet werden, ergibt sich, dass Herr P. 45 Prozent der Wohnfläche nutzt, das Paar die übrigen 55 Prozent.
Das Sozialamt übernimmt für Herrn P. jedoch nicht 45 Prozent der Mietkosten für die Kosten der Unterkunft, sondern nur einen Betrag von 122 Euro. In einer Wohngemeinschaft hätte er dagegen den auf ihn entfallenden Anteil, also 495 Euro monatlich, zu zahlen. Dieser Betrag liegt immer noch unter der Angemessenheitsgrenze für eine Person. Im Regelfall wäre also die Übernahme durch den Sozialhilfeträger gar kein Problem. In diesem Fall aber müssen Frau P. und ihr Partner die Differenz, 363 Euro, aufbringen, obwohl sie dazu kaum in der Lage sind und sich darauf verlassen haben, dass das Sozialamt den Anteil Herrn P.s an den Wohnkosten übernimmt.
Das Problem mit Verträgen und Betreuern
Die neue Regelung in § 42 a SGB XII lässt eine Lösung für dieses Problem zu. Die Differenzmethode soll nämlich dann nicht anwendbar sein, wenn der Leistungsberechtigte vertraglich zur Tragung von Unterkunftskosten verpflichtet ist. Das Problem ist jedoch, dass eine große Zahl der Leistungsberechtigten, für die diese neue Regelung gilt, ohne Vertreter(in) keine Verträge schließen können. Zu gesetzlichen Betreuern werden meist die Eltern bestellt, mit denen sie zusammenleben. Die Eltern können jedoch nicht als Betreuer im Namen ihrer Kinder einen Mietvertrag mit sich selbst schließen (Verbot des Insichgeschäftes, § 181 BGB). Auch wenn der Leistungsberechtigte bei einem Bruder oder einer Schwester lebt und die Eltern zu Betreuern bestellt, kann ein Mietvertrag nicht geschlossen werden. Denn gesetzliche Betreuer dürfen im Namen des Betreuten aus guten Gründen auch mit nahen Verwandten, zum Beispiel mit ihren Kindern, keine Verträge schließen (§ 1795 BGB). Ein Untermietvertrag, der das Problem lösen kann, kann daher meistens nur geschlossen werden, wenn das Betreuungsgericht dafür einen Ergänzungsbetreuer (§ 1909 BGB) bestellt.
Sozialämter haben großes Interesse an geringen Kosten
In der Praxis zeigt sich aber, dass die Sozialämter dazu neigen, dieser Lösung entgegenzuwirken. Dazu haben sie durchaus Möglichkeiten. Zunächst müssen die betroffenen Familien erst einmal wissen, dass diese Lösung möglich ist. Erfahrungsgemäß beraten Sozialämter aber nicht darüber. Sodann muss das Betreuungsgericht davon überzeugt werden, dass die Bestellung eines Ergänzungsbetreuers erforderlich ist. Die Bestellung eines weiteren Betreuers erfordert Aufwand und kann daher auf Widerstand beim Betreuungsgericht stoßen. Wenn das Sozialamt die Notwendigkeit der Ergänzungsbetreuung auf Anfrage der Betreuer bestätigt, wird das Betreuungsgericht dem wohl meistens folgen. Sozialämter haben aber ein Interesse daran, dass die Unterkunftskosten nach der Differenzmethode berechnet werden, und vertreten oft die Auffassung, die Bewilligung höherer Kosten der Unterkunft sei in keinem Fall zulässig. Das entspricht nicht der Rechtslage, kann aber dazu führen, dass die Betreuungsgerichte nicht bereit sind, eine Ergänzungsbetreuung einzurichten. Im Ergebnis wird so den Angehörigen, die große Teile ihrer verfügbaren Zeit aufbringen, um Menschen mit zum Teil erheblichen Behinderungen zu versorgen, eine Art "indirekte Unterhaltspflicht" aufgebürdet.
Der Gesetzgeber wollte mit der Regelung des § 42 a Abs. 3 SGB XII den Leistungsbeziehern in diesen Fällen einen Anspruch auf Übernahme der Unterkunftskosten geben, die rechtlich zur Zahlung der Kosten verpflichtet sind. Die beabsichtigte Besserstellung hat nun in der Praxis zu einer einschneidenden Kürzung des Anspruchs geführt. Wegen der Regelung werden nur noch Beträge anerkannt werden können, die deutlich unter den bisher anzuerkennenden Kosten liegen. Die übrigen Kosten müssen die Eltern beziehungsweise die Angehörigen des Betroffenen tragen.
Die Gesellschaft ist eigentlich in der Pflicht
Durch die Unterstützung von Eltern beziehungsweise Geschwistern erwachsener Kinder mit Behinderung können diese zu Hause versorgt werden. Dies erfordert von den Angehörigen häufig ein kräftezehrendes Engagement, auf das die Betroffenen rechtlich keinen Anspruch haben. Wird es erbracht, ist die Gesellschaft verpflichtet, diejenigen, die die Betroffenen unterstützen, selbst zu stützen. Durch die Regelung passiert genau das Gegenteil. Zudem werden die erwachsenen Menschen mit Behinderung, die mit Familienangehörigen zusammenwohnen, schlechter gestellt als diejenigen, die in Einrichtungen leben. Die neu eingeführte Regelung ist unter allen Aspekten ungerecht und sollte entweder geändert oder gestrichen werden.
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