Harte Vorgaben durch das Bundesteilhabegesetz
Durch das Bundesteilhabegesetz (BTHG) gibt es einen gravierenden Systemwechsel im Unterstützungssystem für Menschen mit Behinderung in Deutschland. Dieser Wechsel betrifft auch die sozialpsychiatrischen Hilfesysteme. Mit dem Ziel, die Selbstbestimmung und Teilhabe zu stärken, hat der Gesetzgeber unter anderem eine leistungsrechtliche Trennung der Leistungen der Eingliederungshilfe (Teilhabeleistungen) von denen der Sozialhilfe (existenzsichernde Leistungen, vor allem für Unterkunft und Verpflegung) vollzogen. Derzeit beziehen etwa 900.000 Menschen in Deutschland Leistungen der Eingliederungshilfe. Sie alle sind vom BTHG betroffen. Der Abschied von einer Komplexleistung und einer pauschalen Leistungssystematik hin zu getrennten Leistungen tritt über eine Stichtagsregelung am 1. Januar 2020 in Kraft. Leistungen der Eingliederungshilfe werden sich ab diesem Zeitpunkt auf die Fachleistungen der Teilhabe konzentrieren (müssen). Zumindest aus Sicht des Bundesgesetzgebers sind keine Übergangsregelungen vorgesehen. Das Gesetz soll damit in seiner wichtigsten Weichenstellung am 1. Januar 2020 scharf gestellt werden. Die Länder und damit deren leistungsrechtlichen Akteure haben allerdings Spielräume, die sie nutzen sollten.
Entwicklung des Hilfesystems
Die derzeit noch gültige Zuordnung der Eingliederungshilfe im System der Sozialhilfe beruht auf einer Entwicklung vom sogenannten Körperbehindertengesetz vom 27. Februar 1957 über das Bundessozialhilfegesetz bis zur Sozialhilfe im SGB XII. Das Bundesteilhabegesetz erzwingt nun die nahezu vollständige Überführung der Leistungen für Menschen mit Behinderung in das SGB IX mit gravierenden Folgen für alle Beteiligten. Der durch das Bundesteilhabegesetz eingeleitete Systemwechsel wird nicht von heute auf morgen zu realisieren sein, sondern ein sehr langwieriger Prozess der Umsetzung des Gesetzes auf Landesebene werden. Bereits heute verläuft er sehr unterschiedlich, und den Interessenvertretungen der Leistungsträger, Leistungsberechtigten und Leistungsanbieter wird viel abverlangt.
Auswirkungen auf die Anspruchsberechtigten
Alle Menschen mit Behinderung und psychischer Erkrankung, die auf Unterstützung angewiesen sind, werden durch das BTHG berechtigt, Grundsicherungsleistungen in Anspruch zu nehmen, wenn sie voll und dauerhaft erwerbsgemindert sind. Wenn die Feststellung einer vollen und dauerhaften Erwerbsminderung fehlt, müssen Anspruchsberechtigte darauf hinwirken, dass diese bald erfolgt, andernfalls steht ihnen lediglich die Hilfe zum Lebensunterhalt zu. Ferner müssen sie einen Antrag auf Leistungen der Eingliederungshilfe stellen, um ein entsprechendes Bedarfsfeststellungsverfahren beim zuständigen Leistungsträger einzuleiten. Um das auf Landesebene rechtlich abzusichern, müssen neue Landesrahmenverträge, neue Leistungs- und Vergütungsverträge mit den Kostenträgern und neue Wohn- sowie Betreuungsverträge mit Menschen mit Behinderung und mit psychischen Erkrankungen noch vor dem 1. Januar 2020 abgeschlossen und beschieden werden. Dazu müssen die künftigen Träger der Eingliederungshilfe von den Landesgesetzgebern neu benannt werden, und zwar über entsprechende Ausführungsgesetze. In den meisten Bundesländern sind bisher nur Teile dieser Änderungsvorgaben umgesetzt worden, und bei allen Beteiligten wächst die Sorge vor unklaren Rahmenbedingungen - zumal der Gesetzgeber eine kostenneutrale Umstellung vorgegeben oder zumindest behauptet hat.
Abgrenzung der Leistungen
Ab dem 1. Januar 2020 wird die Eingliederungshilfe ausschließlich die Teilhabeleistungen (Fachleistungen) umfassen. In der Konsequenz müssen die bisherigen Komplexleistungen beim stationären Wohnen in der Eingliederungshilfe (und deren Vergütung mittels Grund- und Maßnahmenpauschale und Investitionsbetrag) gesplittet werden. Gegenwärtig besteht die Vergütung im Bereich des stationären Wohnens grundsätzlich mindestens aus Grundpauschale (Unterkunft/Verpflegung), Maßnahmenpauschale (pädagogische Betreuung und Pflege) sowie Investitionsbetrag (betriebsnotwendige Anlagen und Ausstattung). Im Bereich der Teilhabe am Arbeitsleben in Werkstätten für behinderte Menschen umfasst die Komplexleistung auch das Mittagessen. Die bisherige Komplexleistung (mit der dazugehörigen Vergütung) muss auf Fachleistungen nach SGB IX Teil 2 (Leistungen zur sozialen Teilhabe, Leistungen zur Teilhabe am Ar- beitsleben etc.) und auf existenzsichernde Leistungen nach SGB XII (Sozialhilfe) Kap. 4 (Grundsicherung bei Erwerbsminderung, Hilfe zum Lebensunterhalt) aufgeteilt werden. Gleichzeitig übernimmt der Träger der Eingliederungshilfe die Kosten der Unterkunft, die die sogenannte Angemessenheitsgrenze von 125 Prozent übersteigen.
Eine Ausnahme besteht bei Leistungen der Eingliederungshilfe für minderjährige Leistungsberechtigte. Für diese wird weiterhin die Komplexleistung (Grund- und Maßnahmenpauschale und Investitionsbetrag) in Einrichtungen vereinbart und erbracht.
Zur konkreten Umsetzung der Trennung der Leistungen hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales am 28. Juni 2018 eine Empfehlung1 veröffentlicht. Zur Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes gab es unter anderem eine Arbeitsgruppe im Bundesministerium für Arbeit und Soziales, an der Länder, Bund, Kommunen, die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege und die Fachverbände für Menschen mit Behinderung mitgewirkt haben. Das in der "AG Personenzentrierung" erzielte Ergebnis stellt aus Leistungserbringersicht einen Kompromiss dar, der zumindest über Grundprobleme, die durch die Trennung der Leistungen ausgelöst werden, eine Orientierung auf Landesebene bieten kann. Es muss beispielsweise geklärt werden, welche Flächen beim bisherigen stationären Wohnen künftig den Grundsicherungsleistungen oder den Fachleistungen zugeordnet werden können oder gegebenenfalls anteilig auch beiden Seiten. Das ist ein schwieriger Klärungsprozess, der unter anderem verlangt, dass Leistungserbringer belegen müssen, für welche Fachleistung sie welche Fläche einsetzen. Auch andere Kostenträger kommen dabei ins Spiel. Bei medizinischen oder therapeutischen Maßnahmen kann dafür auch die Krankenversicherung zahlungspflichtig werden. Auch Außenflächen von Komplexträgern, die heute vielfach als Ruhe- und Bewegungsflächen genutzt werden, müssen mit dem Systemwechsel auf ihre Relevanz geprüft werden. Derzeit ist nicht absehbar, wie dies im Einzelnen auf der Ebene der Bundesländer ablaufen wird, welche Vorgaben durch die Leistungsträger gemacht werden und wie diese mit den Leistungsnehmer(inne)n und Leistungsanbietern umgesetzt werden. Der Rahmen dafür wären unter anderem konzedierte Bedarfsermittlungen, Hilfepläne und neue Leistungs- und Vergütungsvereinbarungen. Bis dato ist davon wenig in Sicht.
Kein Unterschied zwischen ambulant und stationär
In der neuen Eingliederungshilfe soll ab 1. Januar 2020 keine Differenzierung mehr zwischen stationären und ambulanten Leistungen erfolgen. Aus Sicht des Gesetzgebers war die Idee, keine einrichtungsbezogenen Leistungen mehr beschreiben zu wollen, sondern personenzentrierte, unabhängig vom Lebensort. Allerdings bleibt die genannte Differenzierung im landesrechtlichen Ordnungsrecht (Heimrecht) und im Baurecht bestehen, mit entsprechenden Kostenfolgen, die der Leistungserbringer mit den Kostenträgern aushandeln muss. Auch die Pflegeversicherung, die ein wichtiger Leistungsträger für Menschen mit Behinderung und mit psychischen Erkrankungen ist, hält am Einrichtungsbegriff fest und weicht nicht ab von § 43 a SGB XI, der im stationären Wohnen der Eingliederungshilfe eine bloße Pauschalleistung in Höhe von derzeit 266 Euro vorsieht. Pflegesachleistungen im ambulanten Wohnen können weit darüber liegen und orientieren sich am individuellen Bedarf. Damit ist deutlich, dass der Systemwechsel nicht konsequent auf allen Ebenen umgesetzt wurde und erhebliche Widersprüche und damit auch Kostenauseinandersetzungen zwischen den Akteuren folgen werden. Unklar ist bislang auch, wie die mit dem Systemwechsel einhergehenden zusätzlichen Koordinations- und Verwaltungsaufgaben bewältigt und finanziert werden können.
In den neuen Landesrahmenverträgen sind auch neue Inhalte hinsichtlich der sogenannten Sicherstellungsverantwortung der Träger der Eingliederungshilfe auszuhandeln. Die Verpflichtung des § 17 SGB I (Satz 1) bezieht sich dabei auf die Sicherstellungsverantwortung der Träger der Eingliederungshilfe und nicht auf die der Leistungserbringer. Die Leistungserbringer sind künftig ausschließlich vertraglich verpflichtet. Die bisherige sogenannte Aufnahmeverpflichtung, die sich auf eine Region beziehungsweise den relevanten Land- oder Stadtkreis bezogen hat, ist damit nicht mehr ohne weiteres gegeben.
Die Rahmenverträge müssen die Sicherung der Finanzierung der Leistungen enthalten, die im Teilhabe- und Gesamtplanverfahren individuell festgestellt werden. In dem festgelegten Umfang müssen sie auch vom Leistungsträger finanziert werden. Hierzu werden klare Vereinbarungen erforderlich sein, die sich deutlich von der bisherigen pauschalen Finanzierung unterscheiden (müssten). Unbedingt muss dabei die im Gesetz verlangte Gewährleistung des Wunsch- und Wahlrechts durch die Leistungsträgerseite sichergestellt werden. Der Leistungserbringer ist zur Erfüllung des im Teilhabe- beziehungsweise Gesamtplan vereinbarten Leistungsumfangs verpflichtet. Das "Überstülpen" einer Gesamtverantwortung auf den Leistungserbringer ist abzuwehren, da diese zu Verpflichtungen mit Haftungsfolgen führen kann. Leistungserbringer müssen genau definieren, welche Leistungen sie zu welchen Preisen anbieten und erbringen können. Dafür braucht es auch Einzelvereinbarungen. Kostenträger werden aus fiskalischen Gründen ein Interesse haben, pauschale Vergütungen und gruppenbezogene Leistungen zu vereinbaren. Das kann für die Leistungserbringer riskant werden, wenn sie an anderer Stelle zu personenzentrierten Leistungen gedrängt oder verpflichtet werden und dafür die Refinanzierung fehlt.
Ein neues Prüfrecht kommt
Eine weitere Herausforderung wird die Umsetzung des neuen gesetzlichen Prüfungsrechts darstellen, das die Leistungsträger gegenüber den Leistungserbringern ausüben können. Bei der Prüfung wird zu beachten sein, dass die bereits bestehenden Standards für Prüfungen (zum Beispiel im Heimordnungsrecht) eingehalten und Doppelprüfungen vermieden werden. Auch die doppelte Herausgabe von Unterlagen sollte vermieden werden. Hierzu sind auf Einrichtungsebene Einzelheiten zur Mitwirkung zu vereinbaren (da die Strukturen der Einrichtungsträger sehr unterschiedlich sind), zum Beispiel hinsichtlich Art und Umfang der Unterlagen, die vom Träger der Eingliederungshilfe für die Prüfung benötigt werden.
Die Rechtsgrundlage für die Prüfungen ist bundeseinheitlich geregelt. Die Voraussetzungen und Standards für die Durchführung von Prüfungen müssen aber im Sinne des Artikels 12 Grundgesetz in Landesrahmenverträgen konkretisiert werden. Bei der
Festlegung von Mitwirkungspflichten des Leistungserbringers geht es um die entscheidende Frage der
Verhältnismäßigkeit und Angemessenheit von Prüfungen.
Der Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie e. V. (CBP) plädiert auf Landesebene für befristete Übergangsregelungen, die allen Akteuren mehr Zeit lassen, die oben genannten Aufgaben und Anforderungen zur Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes sorgfältig vorzubereiten. Es darf nicht zu Landesrahmenvereinbarungen kommen, die sowohl Leistungsnehmer(innen)als auch Leistungserbringer schlechter stellen als derzeit.
Anmerkung
1. https://umsetzungsbegleitung-bthg.de/service/aktuelles/empfehlung-der-ag-personenzentrierung
Eine Unterhaltspflicht von hinten durch die Brust ins Auge
Präventionskultur ist ein Wettbewerbsvorteil
Vorsorge und Vertrauen sind nötig
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