Herausforderungen des BTHG in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe
Aus der Perspektive der Leistungsempfänger stellt sich das neue Bundesteilhabegesetz (BTHG) wie folgt dar: Mit dem BTHG wurde die Eingliederungshilfe von einer überwiegend einrichtungszentrierten zu einer personenzentrierten Leistung neu ausgerichtet. Gleichzeitig wird die Gliederung der Leistungen der Eingliederungshilfe in ambulante, teilstationäre und stationäre Maßnahmen aufgehoben Die notwendige Unterstützung des Menschen mit Behinderung orientiert sich deshalb nicht mehr an einer bestimmten Wohnform. Die notwendige Unterstützung soll sich - im Lichte insbesondere von Artikel 19 der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) - unter ganzheitlicher Perspektive ausschließlich an dem individuellen Bedarf orientieren. Dieser soll gemeinsam mit dem Menschen mit Behinderung ermittelt, das passende "Hilfepaket" zusammengestellt und im gewohnten oder gewünschten Lebensfeld organisiert werden.1
Das BTHG verwirklicht mit dieser "konsequent personenzentrierten Ausrichtung der Eingliederungshilfe" unter anderem die Aussage im Koalitionsvertrag für die 18. Legislaturperiode des Deutschen Bundestags, die Menschen mit wesentlichen Behinderungen aus der "Fürsorge" herauszuführen, indem die Leistungen nicht länger institutionszentriert, sondern personenzentriert bereitgestellt werden.2
Im BTHG selbst ist der Begriff der "Personenzentrierung" nicht im Leistungsrecht, sondern im Leistungserbringungsrecht3 als Bestandteil des Sicherstellungsauftrages der Träger der Eingliederungshilfe verankert. Diese haben danach nicht die nach dem individuellen Bedarf erforderliche Leistung "personenzentriert" zu bewilligen, sondern im Rahmen ihrer Leistungsverpflichtung eine personenzentrierte Leistung unabhängig vom Ort der Leistungserbringung sicherzustellen und dazu Vereinbarungen mit den Leistungserbringern abzuschließen. Im Gegensatz zum Individualisierungsprinzip des Teils 1 des SGB IX4 ist die Zusage der "Personenzentrierung" im Teil 2 nicht unmittelbar auf die Zusage der nach dem festgestellten Bedarf benötigten individuellen Leistung durch Verwaltungsakt an den Leistungsberechtigten gerichtet, sondern darauf, dass der Berechtigte über die Leistungsvereinbarung mit dem Leistungserbringer von diesem eine personenzentrierte Leistung erhält. Der Leistungserbringer wiederum hat sich in der Leistungsvereinbarung schriftlich verpflichtet5, bei der Leistungserbringung die Inhalte des Gesamtplans6 zu beachten. Dieser knüpft an die trägerübergreifend wirksamen Bestimmungen des Teils 1 zur Ermittlung des Rehabilitationsbedarfs und die Erstellung eines Teilhabeplanes an.
Ermittlung des Leistungsbedarfs
Der Gesetzgeber hat mit dem BTHG - abweichungsfest für alle Rehabilitationsträger - einheitlich und nachprüfbar in den Teil 1 des SGB IX Bestimmungen über die Teilhabeplanung eingeführt. Sie besteht aus der Wahrnehmung (Erkennung) eines Teilhabeproblems7, der funktionsbezogenen Feststellung der individuellen Teilhabebeeinträchtigung8, der Festlegung der Rehabilitationsziele9, der darauf ausgerichteten Erfolgsprognose bezüglich der infrage kommenden Leistungen10 sowie der darauf basierenden funktionsbezogen Feststellung des Leistungsbedarfs11, gegebenenfalls einer Teilhabeplankonferenz12 und wird im Teilhabeplan13 dokumentiert.
Im Rahmen der funktionsbezogenen Feststellung der individuellen Beeinträchtigung der Teilhabe ist mindestens zu erfassen,
- ob eine Behinderung vorliegt oder einzutreten droht,
- welche Auswirkung die Behinderung auf die Teilhabe der Berechtigten hat,
- welche Ziele mit Leistungen zur Teilhabe erreicht werden sollen und
- welche Leistungen im Rahmen einer Prognose zur Erreichung der Ziele voraussichtlich erfolgreich sind.14
Im Rahmen einer gerichtlichen Überprüfung von Entscheidungen wird eine fehlende oder fehlerhafte Erstellung des Teilhabeplans dahingehend zu würdigen sein, ob die getroffenen Feststellungen zum Bedarf und zu den erforderlichen Leistungen überhaupt verwertbar sind.15
Der Bedarf muss durch Leistungen gedeckt sein
Da das Leistungsrecht des Teils 2 des SGB IX weit überwiegend nur Ansprüche dem Grunde nach definiert, aber selten Vorgaben zur Leistungshöhe enthält, ist den Trägern der Eingliederungshilfe bei der Entscheidung über Art und Umfang der Leistungen ein weites Ermessen eingeräumt. Dieses wird allein durch den nach § 13 SGB IX hinsichtlich Ziel, Art und Umfang ermittelten und im Teilhabe-/Gesamtplan dokumentierten individuellen Leistungsbedarf gebunden. Die Leistungen der Eingliederungshilfe bestimmen sich nämlich auch nach Inkrafttreten des BTHG weiterhin nach den Besonderheiten des Einzelfalles, insbesondere nach der Art des Bedarfs.16
Aus der Sicht der Leistungsbezieher stellt die rechtmäßige Bedarfsermittlung die große Herausforderung dar, weil diese die Grundlage nicht nur für die anstehende Leistungsentscheidung, sondern auch für das gesamte weitere Teilhabeverfahren bildet. Er muss darauf achten, dass der festgestellte Bedarf vollständig durch Leistungen gedeckt und nicht durch Teilhabezielvereinbarungen17 auf Mindestinhalte reduziert wird.
Die Sicht der Leistungserbringer
Bund und Länder hatten bereits 2003 im Vermittlungsverfahren zum SGB XII die Vereinbarung getroffen, die seit Jahren signifikant steigenden Empfängerzahlen und Kosten in der Eingliederungshilfe gemeinsam aufzuarbeiten und Lösungen zu entwickeln.18
Vor diesem Hintergrund kann es niemanden überraschen, wenn mit dem BTHG auch Maßnahmen ergriffen werden, die Ausgabendynamik in der Eingliederungshilfe nachhaltig zu bremsen.19
Neben den dazu im Leistungsrecht enthaltenen Restriktionen (verschärfte Leistungsvoraussetzungen20, im Verhältnis zum Teil 1 niedrigschwelligere Leistungsziele und Leistungen, Leistungsstreichungen) sowie der Trennung von Hilfe zum Lebensunterhalt und Teilhabeleistungen, enthält insbesondere das Leistungserbringungsrecht Bestimmungen, die auf Kostenvermeidung und -senkung abzielen. Schon die Zielsetzung des BTHG gibt vor, dass keine neue Ausgabendynamik entstehen und die bestehende durch Verbesserungen in der Steuerungsfähigkeit der Eingliederungshilfe gebremst werden sollen.21
Den Trägern der Eingliederungshilfe wird eine Steuerungsfunktion übertragen und dazu ihre Möglichkeit von effektiveren Wirtschaftlichkeits- und Qualitätspru¨fungen gestärkt. Zugleich werden die Sanktionsmöglichkeiten bei Verletzung vertraglicher oder gesetzlicher Pflichten erweitert.22 Die Wirtschaftlichkeits- und Qualitätsprüfung (W&Q-Prüfung) erstreckt sich auf Inhalt, Umfang, Wirtschaftlichkeit und Qualität einschließlich der Wirksamkeit der erbrachten Leistungen.23
Korrespondierend mit der zugesagten Personenzentrierung der Leistungen dürfte ein Schwerpunkt der W&Q-Prüfung die Wirksamkeit der Leistungen sein.
Leistungserbringer gestalten Maßstäbe mit
Der Träger der Eingliederungshilfe darf die Leistungen nur durch Leistungserbringer ausführen lassen, die sich schriftlich verpflichtet haben, die Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Qualität sowie die Inhalte des Gesamtplanes zu beachten.24 In der Leistungsvereinbarung sind zu regeln Inhalt, Umfang und Qualität einschließlich der Wirksamkeit der Leistungen.25 Der Leistungserbringer gestaltet bei der Leistungsvereinbarung die Maßstäbe selbst mit, an denen sich die W&Q-Prüfung insbesondere auch bezüglich der Wirksamkeit orientiert.
In der Vergangenheit wurden Leistungsvereinbarungen häufig relativ abstrakt formuliert, auf abstrakte Beschreibungen in Landesrahmenverträgen oder anliegende Konzepte verwiesen.26 Künftige Leistungsvereinbarungen sollten neben der Definition der zu versorgenden Zielgruppe immer auch eine dezidierte Beschreibung der mit der Leistung angestrebten Teilhabeziele sowie der zu deren Erreichung unabdingbaren Struktur- und Prozessqualität (und anderes) enthalten.
Bereits bei der Ermittlung des Rehabilitationsbedarfs ist in jedem Einzelfall eine Prognose abzugeben, welche Leistungen zur Erreichung der bei der Bedarfsermittlung definierten Teilhabeziele voraussichtlich erfolgreich sind.27 Rechtlich knüpft die Wirksamkeitsprüfung an diese Prognose an, so dass die Beschreibung der angestrebten Teilhabeziele in der Leistungsvereinbarung dem Rechnung tragen sollte.
Dem Leistungsberechtigten wird mit dem Verwaltungsakt eine seinem Bedarf entsprechende individuelle Teilhabeleistung zugesagt. Dieser Verwaltungsakt beruht auf der in den Gesamtplan eingegangenen Ermittlung des individuellen Rehabilitationsbedarfs.28 Der Leistungserbringer hat sich mit der Leistungsvereinbarung schriftlich verpflichtet, diese auch entsprechend dem Gesamtplan "personenzentriert" auszuführen. Kommt er dem nicht nach, kann wegen "gravierender Mängel bei der Leistungserbringung" eine außerordentliche Kündigung begründet sein.29
Ein Zielkonflikt für Leistungserbringer
Für den Leistungserbringer kann sich ein Zielkonflikt zwischen der individualisierten Leistungsausführung auf der Basis des Gesamtplanes und den Vereinbarungen in den Landesrahmenverträgen30 ergeben. Dort ist weiterhin keine Individualisierung der Vergütung, sondern die Bemessung der Vergütung nach abstrakt definierten Gruppen mit vergleichbarem Bedarf und Leistungspauschalen vorgesehen. Reicht das daraus für einen Leistungserbringer verfügbare unternehmerische Budget nicht aus, den Aufwand zu decken, der sich aus der individuellen Leistungserbringung für alle in einer Einrichtung versorgten behinderten Menschen ergibt, liegt das unternehmerische Risiko allein beim Leistungserbringer. Da eine Absenkung der Leistungsqualität zur außerordentlichen Kündigung führen kann, bleibt nur die Neuverhandlung der Leistungs- und Vergütungsvereinbarung. Um das zu vermeiden, sollten die Leistungserbringer bei der Verhandlung der Landesrahmenverträge Revisionsklauseln zur Anpassung der Gruppen mit vergleichbarem Bedarf und Öffnungsklauseln für von den Rahmenverträgen abweichende Vergütungsvereinbarungen für spezifische Leistungsvereinbarungen anstreben.
Aus der Sicht der Leistungsträger
Die Leistungsträger haben mit dem BTHG die von ihnen über viele Jahre geforderten Steuerungsinstrumente zur "nachhaltigen Bremsung der Ausgabendynamik" erhalten und werden sie nutzen. Da die Länder die Träger der Eingliederungshilfe sehr unterschiedlich bestimmen31, wird es trotz gemeinsamer Rahmenempfehlungen und Orientierungshilfen zu landes- und kommunalspezifischen Praktiken kommen.
Eine Einschätzung lässt eine Veröffentlichung von Peter Gitschmann32 zu, nach der die zielgerechte Umsetzung auf der Strukturebene (Angebotsstrukturentwicklung über Landesrahmenverträge sowie Leistungs- und Vergütungsvereinbarungen) und der "Fallebene" (personenorientierte Leistungszugangs- und Bedarfsfeststellung, Leistungsgewährung und -steuerung) besondere Bedeutung zukommt. Es müsse im Trialog Interessenvertretungen der Leistungsberechtigten - Leistungsträger - Leistungserbringer nicht nur gelingen, bedarfsgerechte Angebotsstrukturen fortzuentwickeln, sondern auch im individuellen Teilhabeplanverfahren der Beweis angetreten werden, dass personen- und wirkungsorientierte Aushandlungen auf Augenhöhe stattfinden, deren konsensuale Ergebnisse das konkrete Leistungsgeschehen dann messbar prägen, und ein Mehr an Teilhabe generieren.
Die Steuerung auf der Fallebene der Eingliederungshilfe finde künftig in einer partizipativen,
trägerübergreifenden "Teilhabeplanung" (Leistungsansprüche bei mehreren Rehabilitationsträgern) beziehungsweise "Gesamtplanung" (Leistungsansprüche in der Eingliederungshilfe) statt, die als komplexer Kommunikationsprozess auszugestalten sei und - sofern der Träger der Eingliederungshilfe verfahrensführend ist - in eine "Teilhabezielvereinbarung"33 münden kann.
Letzteres deutet die Absicht der Träger an, zur Umsetzung des Gesamtplanes - unter Abweichung vom ansonsten gesetzlich geregelten Verfahren - vermehrt Teilhabezielvereinbarungen abzuschließen. Diese Zielvereinbarungen dienen nach dem Wortlaut des Gesetzes "zur Umsetzung der Mindestinhalte des Gesamtplanes", mithin nicht des Gesamtplanes in der auf der Basis der Bedarfsfeststellung34 dokumentierten Teilhabeplanes35. Bestehen Anhaltspunkte dafür, dass die Vereinbarungsziele nicht oder nicht mehr erreicht werden, hat der Leistungsträger die Teilhabezielvereinbarung anzupassen.36 Offensichtlich hat der Gesetzgeber selbst bereits erkannt, dass bei einer vom Gesamtplan abweichenden, das heißt in der Regel absenkenden Zielvereinbarung ein Anpassungsbedarf geregelt sein muss.
Anmerkungen
1. BT-Drs. 18/9522, S. 197.
2. BT-Drs. 18/9522, S. 190.
3. § 95 SGB IX.
4. §§ 13 Abs. 2, 19 Abs. 1, 25 Abs. 2, 36 Abs. 2 SGB IX.
5. § 123 Abs. 5 Nr. 4 SGB IX.
6. § 121 Abs. 4 SGB IX.
7. § 12 SGB IX.
8. § 13 Abs. 2 Nr. 2 SGB IX.
9. § 13 Abs. 2 Nr. 3 SGB IX.
10. § 13 Abs. 2 Nr. 4 SGB IX.
11. § 19 Abs. 1 SGB IX.
12. § 20 SGB IX.
13. § 19 Abs. 2 SGB IX.
14. § 13 Abs. 2 SGB IX.
15. BT-Drs. 18/9522, S. 240.
16. § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB IX.
17. § 122 SGB IX.
18. BT-Drs. 18/9522, S. 189.
19. BT-Drs. 18/9522, S. 199.
20. § 99 RegE.
21. BT-Drs. 18/9522, S. 191.
22. BT-Drs. 18/9522, S. 198.
23. § 128 Abs. 5 SGB IX.
24. § 123 Abs. 5 Nr. 3 und 4 SGB IX.
25 § 125 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX.
26. Siehe Fuchs, H.: Das Leistungsvergütungsrecht der Sozialen Sicherung. In: Mülheims, L. u.a. (Hrsg.): Handbuch der Sozialversicherungswissenschaft. Springer VS, 2015, S. 859 ff.
27. § 13 Abs. 2 Nrn. 3 u. 4 SGB IX.
28. § 120 Abs. 2 SGB IX.
29. § 130 Nr. 2 SGB IX.
30. § 131 Abs. 1 SGB IX.
31. § 94 Abs. 1 SGB IX - Obere Landesbehörden, Kommunale Verbände, Kommunen.
32. Gitschmann, P.: Bundesteilhabegesetz - Herausforderungen und Chancen aus der Sicht eines Leistungsträgers; Beitrag D 3 - 2018 unter www.reha-recht.de, 8.2.2018; Abteilungsleiter Rehabilitation und Teilhabe, Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration der Freien und Hansestadt Hamburg.
33. § 122 SGB IX.
34. § 13 SGB IX.
35. § 19 SGB IX.
36. § 122 Satz 3 SGB IX.
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