„Männer als Betroffene von häuslicher Gewalt – das wurde lange tabuisiert“
Stephan Buttgereit hat zusammen mit Andreas Moorkamp das Beratungsnetzwerk "Echte Männer reden" beim Sozialdienst Katholischer Männer (SKM) in Münster gegründet. Inzwischen leitet er den SKM-Bundesverband, wo er das Programm deutschlandweit ausbaut und weiterentwickelt. Leicht zu erreichen ist Buttgereit daher nicht: Auf der Rückfahrt von einem Treffen zum Thema häusliche Gewalt nimmt er sich Zeit für ein Telefoninterview.
neue caritas: Bei häuslicher Gewalt denken viele spontan an schlagende Männer. Ist das die ganze Wahrheit?
Stephan Buttgereit: Nein. Gewalt ist für beide Geschlechter ein Thema. Circa 70 Prozent der Frauen und 30 Prozent der Männer sind von familiärer Gewalt betroffen. Dieses Verhältnis ist in den letzten Jahren ungefähr gleichgeblieben, obwohl die absoluten Fälle gestiegen sind: Im vergangenen Jahr wuchs die Zahl der bekanntgewordenen Fälle um 6,5 Prozent auf 256.000.
Sie nehmen beim SKM seit einigen Jahren die gewalttätigen Männer in den Blick. Wie gehen Sie das konkret an?
Wir, Andreas Moorkamp und ich, sind im Jahr 2003 eingestiegen und haben begonnen, die erste Männerberatungsstelle aufzubauen. Moorkamp ist der Erste in der verbandlichen Caritas, der eine Ausbildung zum speziellen Männerberater durchlaufen hat. Wir sind froh, dass daraus das Netzwerk "Echte Männer reden" entstanden ist, zunächst im Bistum Münster und mittlerweile bundesweit. Ursprünglich haben wir diese Beratungsstrukturen für Täter häuslicher Gewalt entwickelt und aufgebaut. Über die Jahre haben wir festgestellt, dass Männer darüber hinaus von allen Krisen und auch von häuslicher Gewalt betroffen sind. Das wurde lange Jahre tabuisiert. Wenn wir Hilfesysteme für Männer entwickeln, dürfen wir aber nicht die Notlagen und Probleme von Frauen relativieren. Wir müssen beide Felder der Gewalt geschlechtersensibel und geschlechterspezifisch behandeln. Den von Gewalt Betroffenen ist das Geschlecht egal. Wichtig ist, dass ihnen Hilfe angeboten wird. Wir haben seit Jahren eine Struktur für Frauen, was richtig und wichtig ist. Auch deshalb müssen wir die Bedarfe, die wir bei Männern erkennen, separat in den Blick nehmen und auch separate Finanzierungsstrukturen entwickeln.
Nicht alle, aber sicherlich viele Männer haben nicht gelernt, ihre Gefühle auszudrücken. Kann das Teil des Problems sein?
Man sagt, dass unser ganzes Tun und Handeln zu 80 Prozent gefühlsgeleitet ist. Eigentlich traurig und erschreckend, aber ganz viele Männer streiten Gefühle ab und sagen: "Nein, ich habe ausschließlich rationale Entscheidungen getroffen." Das führt dazu, dass viele Männer abgespalten von ihrer eigenen Gefühlslage unterwegs sind.
Wie gehen Sie damit um?
Es ist wichtig, Männer zu dieser Erkenntnis zu führen. Denn das ist der Schlüssel zur Verhaltensänderung und um wirklich eine Perspektive zu entwickeln. Beziehungsgewalt kann der Mann beenden, wenn er sich seiner Gewalttätigkeit stellt. Dann erst hat er die Chance, Alternativen zu entwickeln und nicht mehr zerstörerisch sich selbst, seiner Partnerin, seinem Partner oder auch seinen Kindern gegenüber zu sein.
Sie beraten Männer. Was ist mit den Frauen? Bieten Sie auch ihren von Gewalt betroffenen Partnerinnen Hilfe an oder beiden gemeinsam?
In den Beratungsstellen arbeiten wir nicht gleichzeitig mit Männern und Frauen. Es ist wichtig, dass betroffene Frauen Ansprechpartnerinnen in Frauenhilfesystemen finden. Wenn wir mit Frauen und Männern gleichzeitig arbeiten würden, kämen wir schnell zu einer Verantwortungsdelegation. Ich glaube: Die Dynamiken, die zur Gewalt geführt haben, würden in einem ersten Beratungsprozess, in dem Paare anwesend sind, kontraproduktiv werden. Aber: Wenn Männer sich ihrer Täterschaft gestellt haben und Frauen über ihre Opferrolle oder ihre Betroffenheit im Klaren sind, kann sich daraus für beide eine neue Perspektive entwickeln. Denn Partnerschaftsgewalt entsteht in der Regel aus einer Liebesbeziehung. Oft ist es allerdings so, dass einfach so viel zerstört ist, dass es nicht mehr geht.
Wie arbeiten Sie beim SKM mit dem SkF zusammen, der oft katholische Frauenhäuser betreibt?
Wir wollen Hand in Hand arbeiten, damit die Geschlechter nicht gegeneinander ausgespielt werden. In Nordrhein-Westfalen sind wir in einem guten Austausch mit Frau Brüggenthies vom DiCV Münster. Sie koordiniert dort die katholischen Frauenhäuser. Gemeinsam besprechen wir die Interessen und Bedarfe der Gewaltschutz-Angebote für Frauen und Männer, um sie politisch nach außen zu vertreten. Wir sind auch mit dem SkF Gesamtverein im Dialog über die Hilfe-Infrastruktur für Frauen.
Da gab es mal Vorbehalte.
Inzwischen ist verstanden worden, dass wir unsere Angebote nicht auf Kosten der Frauen aufbauen wollen. Wir kämpfen genauso dafür, dass insbesondere die Frauenhäuser weiterhin auskömmlich finanziert sind. Denn es ist desaströs, dass die Träger immer noch zehn bis 30 Prozent Eigenmittel für eine Form der Daseinsvorsorge aufbringen müssen, die für die Gesellschaft so wichtig ist. Aber wir haben auch den Wunsch, dass mit Täterinnen gearbeitet wird.
Welche Hilfen gibt es für Frauen als Täterinnen?
Da fehlt im Moment noch was. Deshalb mein dringender Appell an das Hilfesystem der Frauen, sich endlich der Täterinnen anzunehmen. Für die gibt es momentan wenige Ansprechpartnerinnen. Die haben das genauso nötig. Die Dynamiken sind ähnlich. Auch Frauen müssen Verantwortung für ihre Täterschaft übernehmen. Wir können in unserem Beratungssetting mit Männern als Tätern, aber auch mit Männern als Betroffene arbeiten - selbst wenn das fachlich andere Konzepte erfordert.
Üben Frauen in anderer Weise Gewalt aus?
Ich komme gerade von einem Treffen mit der evangelischen und katholischen Männerseelsorge in Dresden. Da haben wir die aktuellen Zahlen gesehen. Spannend ist, dass Frauen zu 72 Prozent psychische Gewalt ausüben. Danach kommt die körperliche Gewalt, gefolgt von der sexualisierten Gewalt, die bei 17 Prozent liegt. Gewalt wird von dem, der sie erlebt, als übergriffig erlebt - egal, ob sie psychisch, körperlich sexualisiert oder ökonomisch erfolgt.
Welche konkreten Hilfen bieten Sie den von Gewalt betroffenen Männern über die Beratung hinaus an?
Wir haben in NRW und in Bayern Gewaltschutzwohnungen für Männer als Modellprojekte etablieren können, sowohl in der verbandlichen Caritas als auch beim SKM. Auf Bundesebene sollten wir in der verbandlichen Caritas weitere schaffen. Mein Wunsch wäre, dass in den Bundesländern, in denen es noch keine Gewaltschutzwohnungen gibt, Verbände in dieses Thema einsteigen.
Was künftig wohl auch kommen muss?
In der Umsetzung der Istanbul-Konvention oder der EU-Richtlinie sind die Mitgliedsländer verpflichtet, bis Ende 2027 Angebote für Opfer jeglichen Geschlechts häuslicher Gewalt vorzuhalten. Da müssen wir unsere Expertise einbringen, mit der wir führend in der Wohlfahrtspflege sind. Wie mit den katholischen Frauenhäusern sollten wir konstruktiv mitwirken und gesellschaftliche Standards setzen, das Thema im Bewusstsein halten und gute fachliche Angebote etablieren.
Gilt die Istanbul-Konvention sowohl für Frauenhäuser als auch für Männerschutzwohnungen?
So wird es zunehmend gesehen: Die Istanbul-Konvention dient dem Schutz von Frauen und Mädchen vor Gewalt und vor häuslicher Gewalt. Die Mehrheit der Juristen sagt, das zweite "und" öffnet die Konvention für alle Geschlechter. Den Betroffenen ist es egal, was für einem Geschlecht sie angehören. Sie möchten, dass die Gewalt aufhört und sie entsprechende Hilfeangebote finden. Das muss handlungsleitend sein für alle, die in diesem Feld tätig sind.
Die Istanbul-Konvention sieht vor, dass es deutlich mehr Plätze in Frauenhäusern geben müsste. Gilt das auch für Männer?
Jedes Land, jedes Bundesland muss schauen, welche Bedarfe da sind. Ich würde rein von den Fallzahlen nicht die gleiche Anzahl für Frauen wie für Männer ableiten. Nicht jeder Mann mit Gewalterfahrung muss in einer Schutzwohnung aufgenommen werden. Es gibt einen größeren Bedarf an Beratung. Die Erfahrung zeigt, dass im Lauf verschiedener Beratungen oft deutlich wird, dass der Mann Gewalt erfährt, aber sie für sich bislang nie so definiert hat. Darum ist es für uns wichtig, die Beratungsstrukturen für Männer in den Blick zu nehmen.
Es soll auch ein neues Gewaltschutzgesetz geben. Was sind Ihre Forderungen an diesen Gesetzentwurf?
Nach allem, was ich aus dem Ministerium gehört habe, sind nicht nur die Frauen im Blick. Das Ministerium ist durchaus sensibel für alle Opfer häuslicher Gewalt. Das wäre auch meine Forderung.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft, um Ihr Netzwerk weiter auszubauen?
Ich wünsche mir sehr, dass die Diözesan-Caritasverbände das Thema erkennen und Ortsverbände einsteigen. Als SKM können wir dabei helfen, zum Beispiel indem wir bei der Antragstellung unterstützen. Wenn das Gesetz kommt, wäre es fatal, das in der Caritas zu ignorieren. Wir sind mit unserem Netzwerk schließlich vorne dabei.
Online-Beratung für Männer in der Krise
Immer und überall erreichbar
Männer brauchen eine möglichst niedrigschwellige Anlaufstelle. 2021 hat die Jungen- und Männerarbeit des SKM-Bundesverbandes diesen Anspruch mit einem neuen Beratungsformat beantwortet - nicht zuletzt, weil die Coronapandemie den gestiegenen Bedarf offenlegte. Im Portal des Deutschen Caritasverbandes hat der SKM mit Eigenmitteln die Online-Beratung für Jungen und Männer eröffnet. Die Beratung erfolgt anonym und kostenlos. Seit dem Start engagieren sich 15 männerfokussierte Berater:innen unentgeltlich.
Innerhalb der ersten 28 Monate haben die Berater:innen über 4000 Nachrichten beantwortet und waren mit über 1000 Jungen und Männern in Kontakt. Auch nach der Pandemie stieg der Bedarf stetig.
Aufgrund der Erreichbarkeit rund um die Uhr sowie aufgrund des niedrigschwelligen und anonymen Angebots erreicht die Beratung Jungen und Männer, die sich mit ihren zum Teil dramatischen Krisen nicht an eine klassische Beratungsstelle wenden würden.
Die Online-Beratung erreichen Anfragen zu Trennung, Vaterschaft, Gewaltbetroffenheit und -täterschaft, Suizidgedanken und sexuellem Missbrauch. Viele Anfragen kommen nachts, am Wochenende oder an Feiertagen, wenn die Beratungsstellen geschlossen haben. Die Jungen und Männer erreichen die Online-Beratung aus ganz Deutschland. Auch ausgewanderte Deutsche suchen die Online-Beratung auf. Die Jungen und Männer müssen keine langen Wartezeiten von Therapieeinrichtungen überwinden. In ihrer akuten Krise finden sie unmittelbar professionelle Beratung.
Ein explizit auf die männliche Zielgruppe zugeschnittenes Ansprachekonzept ist die Voraussetzung, diese zu erreichen. Beschreibungen wie Täter- oder Suchtberatung implizieren, das Problem sei bereits durch den Mann erkannt. Eine Einsicht, die vielen Männern fehlt. Viele Männer haben in der Regel zunächst lediglich eine diffuse Idee zu ihrer Krise und erkennen diese erst im Gespräch mit einer Fachperson. Spezialisierte Beratungsangebote erreichen Männer deshalb oftmals nicht direkt.
Im Rahmen der Online-Beratung werden Depressionen oder Gewalt oft erstmals aufgedeckt und angesprochen.
Wenn die Männer den Weg in die Online-Beratung gefunden haben, gibt es unterschiedliche Wege, die Beratung fortzuführen: Über das Portal besteht die Möglichkeit der Mail-, Telefon- oder Videoberatung. Existiert eine Männerberatungsstelle vor Ort, wechseln einige Männer in die Face-to-Face-Beratung.
Die große Herausforderung der Online-Beratung ist deren Refinanzierung. Auf politischer Ebene ist die Zuständigkeit für digitale Sozialarbeit nicht abschließend geklärt, weil digitale Beratung über kommunale und Ländergrenzen hinaus stattfinden kann. Für die Sicherung der männerfokussierten Online-Beratung fordert der SKM-Bundesverband eine einheitliche Regelung der Finanzierung von digitaler Beratung. Sie ist das Fundament für die erfolgreiche digitale Transformation professioneller Beratung.
Die Online-Beratung ist online zu finden unter: https://echte-männer-reden.de/onlineberatung
Michelle Horstkortte, Referentin für Jungen- und Männerarbeit beim SKM-Bundesverband