Keine Angst mehr vor lauten Geräuschen
Es war eine dramatische Flucht vor dem Krieg, die eine große Gruppe von Menschen mit Behinderungen vor 18 Monaten aus Kiew nach Deutschland führte. Der Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie e. V. (CBP) hatte bei drei Fahrten insgesamt 300 Menschen mit Behinderung mit ihren Betreuungskräften vor allem nach Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Bayern evakuiert. Eine Gruppe der Flüchtlinge wurde in Brilon auf verschiedene Caritas-Einrichtungen in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen aufgeteilt. 18 Mädchen und Frauen mit Behinderungen blieben mit ihren Begleiterinnen und deren Kindern in der Obhut des Caritasverbandes Brilon. Die 17- bis 35-Jährigen fanden ein Zuhause in einem Altbau des Caritas-Seniorenzentrums St. Engelbert, der leer stand. Ihre neue Wohngruppe wurde nach dem Schutzpatron von Kiew benannt, dem Erzengel Michael.
Einige Bewohnerinnen erinnern sich an die Zeit, als im vergangenen Jahr der Krieg in ihre Stadt, in ihr Leben einschnitt: "Wir hatten Angst. Als Kiew bombardiert wurde, haben wir uns im Keller unseres Heimes versteckt. Es war feucht, kalt, dunkel. Es gab kein warmes Essen und keinen Platz zum Schlafen. Wir hatten uns aneinander gekuschelt, um nicht zu erfrieren." Fünf Tage und fünf Nächte lang verbrachten die Frauen und ihre Betreuerinnen im Keller ohne Tageslicht. Dann begann die erste Evakuierungsaktion von 200 Menschen mit Behinderungen aus den Großeinrichtungen im Kiewer Zentrum ins polnische Opole. Die erste Fluchtstation war ein ehemaliges Kurheim. In Kooperation mit der ukrainischen Caritas-Spes, der Caritas Polen und dem CBP in Deutschland wurden weitere Evakuierungen sowie die Weiterreise der ersten 200-köpfigen Gruppe gen Westen organisiert.
Schnelle Entscheidungen
"Die Anfrage, Flüchtlinge mit Behinderungen aufzunehmen, erreichte uns am 6. März, einem Sonntagabend. Keine 24 Stunden später stand für uns die Entscheidung: Wir sind Caritas, wir werden helfen", erinnert sich Heinz-Georg Eirund, Vorstand des Caritasverbandes Brilon. In einer Hauruck-Aktion wurde ein Wohnbereich ertüchtigt, parallel dazu eine erste Infrastruktur für Lebensmittel, Betreuung und Teilhabemöglichkeiten eingerichtet. Es war ein weiterer Kraftakt in Zeiten von Personalmangel und der noch herrschenden Corona-Pandemie, den die Caritas-Teams aus den Bereichen der Behinderten- und Altenhilfe, den Werkstätten und der Beratungsdienste gemeinsam meisterten. Genau 14 Tage nach dem Hilferuf zog die Frauengruppe am 20. März des vergangenen Jahres ein.
"Nach der zehnstündigen Busfahrt von Polen nach Deutschland waren wir erschöpft", erinnert sich eine Bewohnerin an die emotionale Ankunft vor einem Jahr. "Ehrlich gesagt, hatten wir Angst, voneinander getrennt zu werden. Am liebsten hätten wir gemeinsam in einem Zimmer geschlafen, genauso wie wir die letzten Stunden in Kiew verbracht hatten." Von Stunde 1 an wurde die Betreuung der ukrainischen Gruppe in Kooperation mit Caritas-Mitarbeitern organisiert. Dafür waren auch Rentnerinnen zurückgekehrt: Etwa Eva Stratmann, die in der Anfangszeit die Leitung von St. Michael übernahm, oder Uschi Kosse, die zuvor im Ambulant Betreuten Wohnen der Caritas Brilon gearbeitet hatte. "Wir helfen bei Behördengängen oder Arztbesuchen, gestalten Alltag und Freizeit zusammen und stehen natürlich bei Krisen zur Seite", erzählt Uschi Kosse.
Ein wenig Heimat gefunden
Im Jahr danach sind Krisen im Zusammenleben sehr selten. "Im Vordergrund steht die Freizeitgestaltung nach dem Feierabend in den Caritas-Werkstätten St. Martin und an den Wochenenden", erzählt Uschi Kosse. "Die Gruppe ist gern draußen unterwegs und sehr offen für neue Begegnungen und Erlebnisse." Samstags geht es beispielsweise zum Turnen, Ausflüge führten zum Zirkus oder in den Münsteraner Zoo, zu einem Inklusionsfest am Hennesee oder zum Walderlebnispfad in Meerhof. Langzeit-Favorit für den Feierabend ist der Briloner Kurpark. "Auch Kreatives findet Anklang", sagt Uschi Kosse. Generell ist Brilon ein wenig Heimat geworden: Kirmes, Veranstaltungen wie ein Fußballturnier, Schützenfest, Bürgermeister-Empfang oder eine Einladung von einem Café-Besitzer - überall und gerne mischen sich die Ukrainerinnen unter das Publikum. "Dank unserer Erzieherinnen aus Kiew und den Betreuerinnen von der Caritas haben wir uns gut eingelebt", sagt eine Bewohnerin. "Wir haben keine Angst mehr vor lauten Geräuschen und fremden Menschen. Wir entdecken täglich etwas Neues und Interessantes. Wir lernen wieder, im Frieden zu leben."
Die Ad-hoc-Hilfe am Anfang stand schnell. Auch das Erzbistum Paderborn leistete finanzielle Hilfe. Mittlerweile hat sich der Alltag eingespielt. Aber es bleiben Fragen. "Auch im Jahr danach sind nicht alle Zuständigkeiten samt Refinanzierungen geklärt", kritisiert Caritas-Vorstand Heinz-Georg Eirund. "Behörden verweisen aufeinander; punktuell fühlt sich niemand verantwortlich." Das sei zu Beginn auch von NRW-Sozialminister Karl-Josef Laumann anders zugesagt worden: "Helft den Menschen, die Finanzierung klären wir später", habe er gesagt. "Trotz aller Ungewissheiten, Kraftakte und Reibereien würden wir als Caritas dieselbe Entscheidung wieder treffen und die Flüchtlinge mit Behinderungen bei uns aufnehmen", sagt Eirund.
Eine Frage der Menschlichkeit
Mit Respekt schaut der Bundesverband der Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie (CBP) auf seine Mitgliedseinrichtungen, die sich mit großem ehrenamtlichem Engagement und professionellem Handeln der Menschen aus der Ukraine angenommen haben - getreu dem Leitsatz der Caritas "Not sehen und handeln". "Die Aufnahme von Kindern, Jugendlichen und allen Menschen aus der Ukraine ist eine Frage der Menschlichkeit und nicht der Zuständigkeit. Jeder ist gefragt", sagt auch der CBP-Vorsitzende Wolfgang Tyrychter. Mitglieder des Bundesverbandes hätten schnelle und unbürokratische Hilfe bei der gesundheitlichen Versorgung und Rehabilitation bewiesen. "Leider zeigt sich, dass nicht alle Leistungen an allen Standorten übernommen werden und die Finanzierung erst in langen Verwaltungsverfahren erstritten werden muss", kritisiert Wolfgang Tyrychter. "Nun ist es wichtig, dass wir auch administrativ unterstützt werden und die Hilfe für die Menschen mit Behinderung aus der Ukraine weiter gut gewährleistet werden kann. Dies setzt die Refinanzierung unserer Leistungen sowie eine unkomplizierte Verwaltung voraus."