Menschen mit Behinderung und Klettern? Kein Problem!
Carolin Will schaut am Sicherungsseil entlang nach oben, wo Charlene etwa sieben Meter über ihr mit Händen und Füßen in der Kletterwand hängt. "Super, Charlene - jetzt den linken Fuß auf den gelben Griff über deinem Knie setzen, dann hast du es schon fast geschafft!" Die junge Frau, die wie alle anderen Menschen mit Behinderung hier nur mit Vornamen genannt werden möchte, führt den Schritt aus, den ihr die Trainerin empfohlen hat. Noch weiter schiebt sie sich die Kletterwand hoch.
Eigentlich eine ganz alltägliche Szene, Mittwochvormittag in der Kletterhalle des Deutschen Alpenvereins (DAV) Fulda - aber für Menschen mit Behinderung wie Charlene eben doch außergewöhnlich.
Trainerin Carolin Will, die selbst in ihrer Freizeit klettert, arbeitet im Sozialen Dienst der Caritas-Werkstätten Fulda. Für die Werkstattmitarbeiterinnen und -mitarbeiter hat sie die Klettergruppe ins Leben gerufen. "Das Interesse war von Anfang an erstaunlich groß", erzählt die 28-Jährige. "Diejenigen, die gleich in der ersten Runde mit dabei waren, machten ordentlich Werbung. Dadurch gab es noch mehr Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die es ausprobieren wollten. Ich musste eine Warteliste aufmachen!"
Wie sitzt der Klettergurt, worauf muss ich achten?
Sicherheit steht beim Klettern natürlich an erster Stelle. Zur zweistündigen Exkursion gehört neben dem eigentlichen Klettern auch die Theorie: Wie muss der Gurt sitzen? Worauf muss man beim Klettern achten? Wie lauten die Kommandos zwischen Kletterer und sichernder Person? Genauso braucht es Zeit und Sorgfalt beim Vorbereiten: Seile und Gurt anlegen, Schuhe anziehen, aufwärmen. Weil die Kletternden immer gesichert werden müssen, können sie nur nacheinander in die Wand. Die übrigen Mitglieder der Caritas-Gruppe warten und schauen zu. Sie sind - das betont Carolin Will - stets ein geduldiges und freundliches Publikum - beispielsweise jetzt für Werner, der eine gute Körperlänge hochgekraxelt ist, bevor er sagt, dass es ihm heute genug sei.
"Alle in unserer Gruppe suchen sich eine passende Route in der Kletterhalle aus", erläutert Will. "Wir geben nur Tipps, was sie vielleicht diesmal probieren könnten. Auch gehen wir manchmal zusammen in den Boulderbereich, wo sich jeder in Absprunghöhe ausprobieren kann: Wie fasse ich die Griffe richtig an, wie setze ich meinen Fuß, um Halt zu haben? Jeder kann bei uns mitmachen und selbst entscheiden, was er oder sie sich zutraut!"
Zwei Rollifahrer klettern mit
"Jede und jeder darf mitmachen" - findet auch Caritas-Kollegin Xenia Fabeck. Die 56-Jährige leitet beim DAV eine inklusive Klettergruppe, also eine Gruppe mit sowohl behinderten als auch nichtbehinderten Menschen. Seit kurzem begleiten beide Frauen den Klettertreff der Caritas und wollen ihn ausbauen.
Gemäß der Maxime "Niemand wird ausgeschlossen" befinden sich unter den Werkstatt-Kletterfans mit Peter und Melanie mittlerweile auch zwei "Rollifahrer". Genau wie die anderen in der Gruppe erklimmen sie kraft ihrer Hände die Wände. Sie werden von beiden Gruppenleiterinnen gesichert. Denn ein weiteres Sicherungsseil soll verhindern, dass die an der Wand nur bedingt einsatzfähigen Beine gegen die Wand schlagen.
Als Rollstuhlfahrer in die Kletterhalle? Peter sagt zu seiner Motivation: "Ich wollte mich nicht von vornherein selbst ausgrenzen und es zumindest ausprobieren." Er schaut an der Wand hoch, an der sich Melanie an einer III+-Route versucht. "Mein größter Wunsch wäre, es einmal bis ganz oben zu schaffen", erklärt er.
Die Teilnehmer konzentrieren sich ganz auf ihren Körper
Beim ersten Mal nach der Rückkehr aus der Wand hatte Melanie gejubelt, erzählt Xenia Fabeck: "Endlich war ich mal genauso wie die anderen!" Sie habe ihr im positiven Sinne widersprochen: "Nein Melanie, du bist nicht wie die anderen. Jeder ist einmalig." Sportklettern sei auch für viele Nichtbehinderte keine Option - dieses Hobby mache nicht jeder. "Das ist etwas Besonderes." Melanie hatte bei der ersten Kletterstunde ihren gesetzlichen Betreuer mitgebracht. War er skeptisch gewesen, hatte er ihr womöglich abgeraten? "Nein", sagt Melanie, "er fand es sogar toll, dass ich den Mut hatte, es auszuprobieren."
Wer klettert, sagen die beiden Trainerinnen, erfährt ganz nebenbei sehr viel über sich selbst. Es geht dabei auch um Vertrauen zu der Person, die sichert. Die Teilnehmer:innen brauchen Mut, oben in luftiger Höhe das Seil einfach auch mal loszulassen. Sie müssen sich auf sich und den eigenen Körper konzentrieren. Manche probieren es und sind begeistert. Andere merken schnell: Nein, das ist doch nichts für mich.
Die Interessen sind individuell - ob behindert oder nichtbehindert, spielt bei der Auswahl eines Hobbys zunächst keine entscheidende Rolle. Jede und jeder möchte in der Freizeit einem "Steckenpferd" nach ganz eigenem Geschmack nachgehen: Jogging, Leichtathletik oder Ballsport, Musizieren, Theater, Fotografieren, Gärtnern, Werkeln am Haus, Stricken- die Möglichkeiten, aktiv zu sein, sind unbegrenzt. Warum also sollten nicht auch Menschen mit Behinderung diese Wahl treffen können
Für Gebirgstouren gibt es einen speziellen Rollstuhl
Im Klettersport setzt man gezielt auf Inklusion - auch oder gerade im Deutschen Alpenverein. In der inklusiven Klettergruppe von Xenia Fabeck unterstützen sich Menschen mit und ohne Behinderung gegenseitig, lernen voneinander, feiern gemeinschaftlich Erfolge der Mitkletterer. "Im Verein geht es uns nicht nur ums Mitmachen, sondern um Teilhabe in jeder Hinsicht", sagt Fabeck. Das betreffe die Gremienarbeit wie den Sport. Einschränkungen sollten nach Möglichkeit keine Barriere mehr darstellen - vor allem auch outdoor und in den Alpen. "Daher haben wir jetzt für Bergtouren einen Gebirgsrollstuhl im Einsatz, so dass auch im Gebirge Touren möglich sind."
Durchs Klettern spüren die Beteiligten, was sie alles können
Die Caritas-Werkstatt mit ihrer Klettergruppe profitiert von dem inklusiven Konzept des Alpenvereins, indem sie die Trainingsmöglichkeiten nutzen kann und reduzierte Preise für den Eintritt und für das Ausleihen von Kletterausrüstung zahlt. "Bei diesem Sport erleben die Beteiligten ganz besonders augenscheinlich, was ihnen aus eigener Kraft möglich ist", erläutert Markus Reiter, Leiter des Caritas-Ressorts Behindertenhilfe und Psychiatrie. "Dies ermutigt, auch in anderen Bereichen das Leben in die eigene Hand zu nehmen und sich die nächsten Schritte zuzutrauen, zum Beispiel, eigenständiges Wohnen auszuprobieren oder eine Arbeit in einem Betrieb außerhalb der Werkstatt anzustreben."
Doch es muss nicht für jeden das Klettern sein. Wer sich lieber künstlerisch verwirklichen möchte, kann die Kreativgruppe besuchen. Sie trifft sich einmal pro Woche abends in einem großen Kellerraum im Haus St. Elisabeth, der Zentrale der Behindertenhilfe in Fulda. Dort sind unter anderem mehrere Wohngruppen angesiedelt.
In der Kreativgruppe wird ebenfalls die persönliche Freiheit großgeschrieben - Malen, Zeichnen, Gestalten, Kollagen, Reliefs, Handarbeiten - alles ist denk- und realisierbar. Ein Rundblick um den Werktisch: Jede und jeder hat etwas zu tun. Irene häkelt ein Futteral für ihr Mobiltelefon. "Ich häkle gerne, und gehäkelt kann ich das genau passend für mein Telefon machen." Karola malt sorgfältig Bilder aus. Volker legt bunte Perlen zu einem Mosaik. Elke, Uwe und Volker sind mit Malen beschäftigt.
Die Sitznachbarn fragen auch mal nach der Bedeutung des Werkes
Zwei Ehrenamtliche leiten die Kreativgruppe: Mathilde Reinel, auch in ihrem Berufsleben pädagogisch tätig, hat das Angebot vor mehreren Jahren initiiert. Seit dem vergangenen Winter unterstützt sie Kristina Ludwig, die in einem kaufmännischen Beruf arbeitet und durch ihr freiwilliges Engagement gezielt ein inhaltliches Gegengewicht setzen wollte. Oberste Priorität für beide Frauen: dass die Teilnehmenden Spaß haben. "Außerdem sollen sich alle erproben können", sagt Mathilde Reinel, die in der Gruppe für alle die "Tilly" ist. "Es gehört ja auch eine Portion Mut dazu, aus eigener Entscheidung hierher zu kommen, sich auf etwas Neues einzulassen und zu schauen, wo die eigenen künstlerischen Fähigkeiten liegen."
Zudem habe man in der Gruppe auch gleich rechts und links von sich Nachbarn, denen man sich künstlerisch mitteilt, die womöglich fragen, welche Bedeutung das hat, woran man gerade arbeitet. "Das heißt, es gibt auch eine gemeinschaftliche Auseinandersetzung über das, was hier entsteht." Den beiden Frauen ist es wichtig, dass alle mit ihren individuellen Fähigkeiten willkommen sind. Alle arbeiten nach eigenen Vorstellungen, ohne Leistungsdruck. "Auch Gemeinschaftswerke gehen wir an", erzählt Reinel.
Damit alle mit ihren Möglichkeiten mitmachen können, gibt sie Thema, Technik und Material ein wenig vor. Die Gemeinschaftswerke sind oft großflächige Kollagen rund um Themen wie "Arche Noah" oder auch mal völlig abstrakt. Einige der Exponate schmücken die Eingangshalle des Hauses St. Elisabeth und das Treppenhaus.
Sich künstlerisch auszudrücken gibt den Menschen Freiheit
Mathilde Reinel und Kristina Ludwig schauen zu Beginn jedes Kreativabends, dass alle etwas finden, was sie machen wollen. Sie helfen die nötigen Utensilien wie Stifte, Papier, Farben und sonstige notwendige Werkzeuge bereitzulegen. Wer mit Öl oder Wasserfarben malt, bekommt einen Schutzkittel. "Eigentlich müssen wir kaum eingreifen", sagt Kristina Ludwig. "Nur wenn wir sehen, dass jemand gar nicht vorankommt oder gefrustet ist, weil etwas nicht klappt wie geplant, dann schlagen wir schon mal vor, etwas Neues zu versuchen."
Dabei lernen die Teilnehmenden auch, neue Wege auszuprobieren und sich über das Bekannte hinaus mehr zuzutrauen. "So kann das Künstlerische den Erfahrungsschatz erweitern." Ähnlich argumentiert Mathilde Reinel: "Künstlerischer Ausdruck gibt den Beteiligten hier Freiheit. Körperliche und geistige Begrenzungen sind dabei irrelevant. Wer hierher in die Kreativgruppe kommt, lässt sich nicht begrenzen. Die Erzeugnisse aus der Kreativgruppe werden ja auch von den anderen als künstlerisch wahrgenommen!" Die Kunst an sich ist damit also schon eine Form der Inklusion. Denn ob der oder die Künstler:in behindert ist oder nicht, spielt beim Betrachten keine Rolle.
Also Klettern oder doch lieber Kunst? In beiden Fällen ist Emil mit von der Partie. Vor dem Klettern, so berichtet er, habe er ja doch ein bisschen Angst gehabt, als er das erste Mal in der großen Halle stand. "Jetzt macht mir aber beides Spaß!"