St. Vinzenz' gute Seele
Gierig greift die kleine Hand in das Glas. Schnell schnappen die Finger des Jungen nach einem roten Gummibärchen und lassen es im Mund verschwinden. Ein Strahlen huscht über sein Gesicht. "Nein, die Gummibärchen gehen bei mir nie aus", sagt Waltraud Stein und klappt lachend den Deckel des Einmachglases zu. "Nur ein einziges Mal gab es keine - aber da war ich im Urlaub."
Waltraud Stein kennt im Caritas-Zentrum St. Vinzenz jedes Kind - und das liegt keineswegs nur an der begehrten Gummibärchendose in ihrem Büro. Seit 20 Jahren arbeitet die 61-Jährige in der Verwaltung der Einrichtung, in der vorrangig behinderte Kinder und Jugendliche betreut werden. "Frau Stein ist die Drehscheibe unserer Einrichtung. Sie lenkt alle Züge in die richtige Richtung", sagt Leiter Markus Pflüger und gesteht, dass er ohne seine Sekretärin verloren wäre. Jeden Tag beantwortet sie Unmengen an E-Mails und Telefonaten, koordiniert Termine oder bearbeitet Anträge, die eine Pflege und Versorgung der behinderten Kinder und Jugendlichen erst möglich machen. Waltraud Stein sei im Haus eine Anlaufstelle für alle - für Mitarbeiter, Eltern und die Kinder selbst, erzählt Pflüger. Bei jedem Problem hört sie aufmerksam zu und sucht nach einer Lösung.
Oft ist es ihr gutes Gedächtnis, das ihr dabei hilft: "Ich kenne die Namen aller Kinder", sagt Waltraud Stein, sie schmunzelt und fügt dann schnell hinzu: "Das soll jetzt aber nicht überheblich klingen." Namen und Gesichter kann sie sich einfach merken. Knapp 250 Kinder und Jugendliche besuchen momentan die Ingolstädter Einrichtung. Die Jüngsten sind gerade einmal drei Jahre alt, die Ältesten gehen in die Berufsschulstufe. Waltraud Stein hat viele von ihnen aufwachsen sehen und sich über ihre Fortschritte gefreut: "Ich finde es toll, was wir hier machen. Jedes Kind bringt etwas mit, kann das eine oder andere besser und wird dann gezielt gefördert." Wie Waltraud Stein erklärt, sei zum Beispiel eine gewisse Selbstständigkeit wichtig. Eigene Botengänge der Schüler ins Sekretariat belohnt sie deshalb gern mit einem Griff in ihr Gummibärchenglas.
Die 61-Jährige kann sich heute keine schönere Arbeit vorstellen. Dabei war es ein Zufall, der sie ins Caritas-Zentrum führte. Die gebürtige Bayerin lebte viele Jahre in den USA, zusammen mit ihrem Mann und den beiden Töchtern pendelte sie zwischen Amerika und Ostfriesland. Als die Familie vor 25 Jahren nach Ingolstadt zog, nahm sie eine Bekannte nach St. Vinzenz mit. Waltraud Stein begann sich als ehrenamtliche Helferin zu engagieren, sie bastelte für einen guten Zweck, half bei Veranstaltungen, gab Lese- und Schreibkurse. Und sie entdeckte, wie sie sagt, die besondere Atmosphäre der Einrichtung. Seit sie vor 20 Jahren eine feste Stelle in der Verwaltung angetreten hat, spürt sie sie noch immer jeden Tag.
Obwohl Waltraud Stein schon während ihrer Zeit in den USA ehrenamtlich tätig war, setzte sie sich in Ingolstadt zum ersten Mal für behinderte Menschen ein. Berührungsängste oder Unsicherheiten habe sie aber nie gespürt. Im Gegenteil: Die fröhliche Stimmung in St. Vinzenz, der liebevolle Umgang miteinander, beides faszinierte sie von Anfang an. "Wenn die Kinder singen oder tanzen, dann zeigen sie ihre Gefühle. Sie sind unheimlich ehrlich", schwärmt sie. "Es gibt ständig schöne Momente."
Waltraud Stein erinnert sich zum Beispiel an ihren 60. Geburtstag: Als Überraschung stand der ganze Schulchor in ihrem Büro und sang ihr ein Ständchen. Ein rührender Moment für sie und zugleich ein großes Dankeschön der Kinder und anderen Mitarbeiter. Schließlich wäre eine Betreuung im Caritas-Zentrum ohne die funktionierende Verwaltung im Hintergrund unmöglich. Hochprofessionell und zuverlässig sei Waltraud Stein, sagen ihre Kollegen. Doch vor allem zeige sie viel Einfühlungsvermögen. Sie ist längst nicht nur Sekretärin - in St. Vinzenz ist sie die gute Seele. Und das liegt nicht am Gummibärchenglas auf ihrem Schreibtisch.