Pflege daheim als Dauerbelastung
Erst ihr Vater, dann ihr Onkel, zuletzt ihre Mutter: Die Pflege von Familienmitgliedern beschäftigte Eva Maria Müller mehr als zwei Jahrzehnte. Doch damit nicht genug: Sie hat sich das Thema Pflege und vor allem deren Zukunft zur Lebensaufgabe gemacht. Hauptberuflich arbeitet die Oberfränkin in der Pflegewirtschaft, im Bereich Entwicklung und Qualitätsmanagement.
Bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 managte Eva Maria Müller, die in einem nordbayerischen 3000-Seelen-Ort nicht weit von Tschechien lebt, gleichzeitig ihren Vollzeitjob, ihr ehrenamtliches Engagement und die Pflege ihrer an Demenz erkrankten Mutter. Die Folgen des Virus bedeuteten aber auch für sie einen entscheidenden Einschnitt.
Eine Demenzerkrankung im Haus macht Angst
"Vor der Pandemie hatte meine Mutter noch soziale Anknüpfungspunkte wie das wöchentliche Kaffeetrinken im Altenheim oder den Gottesdienst. Sie war immer unterwegs." Wenn die Frau mit den kurzen schwarzen Haaren und den freundlichen Augen über diese Zeit spricht, klingt ihre Stimme belegt: "Das fiel alles auf einen Schlag weg."
Seitdem, erzählt Eva Maria Müller, hatte sie keine ruhige Minute mehr, auch nicht während der Arbeit im heimischen Büro: "Mit einem demenzerkrankten Menschen im Haus hat man permanent Angst. Weil man nicht weiß, was er macht. Ich konnte sie nie allein lassen." Eine Freistellung zur Pflege hat sie bei ihrem Arbeitgeber allerdings nie beantragt.
Im Oktober 2020 bricht Eva Maria Müller zusammen. Bevor sie sich selbst hilft, will sie allerdings ihre Mutter Anna Müller (Name geändert) versorgt wissen: Noch während der Notarzt im Haus ist, wird Anna Müller ins Pflegeheim gebracht. Dann liegt Eva Maria Müller eine Woche mit Verdacht auf Herzinfarkt im Krankenhaus: "Das war immer meine Alptraum-Vorstellung nach Beginn des Shutdown: Was passiert mit meiner Mutter, falls mir was passiert?" Sieben Monate später sieht sie das entspannter - aber auch abgeklärt. "Nach 20 Jahren pflegebedingtem Stress war irgendwann Schluss. Und seit einem halben Jahr arbeite ich an mir selber, um wieder gesünder zu werden."
Anna Müller lebt seit dem Vorfall im Pflegeheim. Einen gelungenen Start dort hatte sie allerdings nicht: Nach einigen Wochen wurde sie positiv auf Corona getestet.
Mehr Transparenz für Angehörige
Eva Maria Müller erinnert sich: "Es war schrecklich, weil ich sie nicht sehen konnte. Und dann musste sie Tag um Tag allein in ihrem Zimmer sitzen. Vorher haben wir manchmal über Facetime telefoniert, aber als sie Corona hatte, hat sie vier Wochen lang gar nicht gesprochen."
Inzwischen ist Anna Müller genesen und befindet sich auf einer kleineren "beschützenden Station" für Demenz-Erkrankte im Pflegeheim. Man merkt Müller die Erleichterung an, als sie darüber spricht: "Dort ist die Stimmung familiär, und der Umgang mit Angehörigen ist gut. Ich weiß auch mehr darüber, wie es ihr geht."
Transparenz für Angehörige von Pflegebedürftigen ist Müller sehr wichtig: "Bei anderen Heimen ist es oft so: Wenn man anruft, heißt es: ‚Deiner Mutter geht es toll‘, und ein paar Stunden später kommt sie ins Krankenhaus. Und du weißt nicht, was los ist." Als Lösung sieht sie die Einsicht in die digitale Bewohnerakte für die Angehörigen. "Da könnten sie sich live über das Befinden informieren."
Aus Corona für die Zukunft der Pflege lernen
Die negativen Auswirkungen der Coronakrise auf Pflegebedürftige lassen Eva Maria Müller leidenschaftlicher denn je werden, wenn es um die Projekte ihres Vereins und eine bessere Zukunft für die Pflege geht. Schon die Architektur von Pflegeheimen müsse man anders denken, damit in Krisen wie der aktuellen die Bewohner(innen) nicht mehr von der Außenwelt abgeschnitten werden. Außerdem brauche es kleinere Gruppen.
Einen weiteren Schritt nach vorne sieht sie im Einsatz von Künstlicher Intelligenz: "Wenn etwas mit einem Patienten nicht in Ordnung ist, könnte eine KI verschiedene Parameter wie Alter, Wohnort, Vorerkrankungen etc. und den derzeitigen Gesundheitszustand vergleichen und entsprechend ‚reagieren‘."
Eva Maria Müller hat sich mit Ideen zur Verbesserung der Pflege auseinandergesetzt. Aber was sind eigentlich die Hürden? "Fehlende staatliche Unterstützung", sagt Müller. Mit ihrem Verein hat sie schon vor vier Jahren eine Online-Sprechstunde für ein Altenheim eingerichtet, damit sowohl Pflegekräfte als auch Bewohner(innen) unkomplizierter mit Ärzt(inn)en sprechen können. Es besteht hier sogar die Möglichkeit zum Einrichten einer Schnittstelle zwischen Pflegeakten, Ärzt(inn)en und Angehörigen. "Aber die Schnittstelle hätte damals 30.000 Euro gekostet. Hätten das etwa die Bewohner zahlen sollen?"
Es brauche aber nicht nur Geld, so Eva Maria Müller, sondern die Pandemie habe die Zustände im Pflegebereich verschlechtert. Und die waren, Müllers Meinung nach, schon vorher nicht progressiv. Es brauche eine Reform, die sowohl die Digitalisierung als auch die "Generation Y" in den Blick nimmt: "Wir müssen raus aus dem 19. Jahrhundert und rein ins 21."