Geflüchtet, dann Altenpfleger: "Ich habe immer ein Ziel"
Krieg, Tod, Zerstörung: Vier Jahre war Etanael alt, als sein großer Bruder ihn bei der Hand packte und mit ihm rannte, flüchtete. Sie flohen aus der Heimat Eritrea bis in ein fremdes Land. Seine Eltern hat Etanael Abisse (Name von der Redaktion geändert) nicht wiedergesehen. Auch seinen Bruder hat er verloren: Sie wurden in Äthiopien einmal von der Polizei erwischt, der viel Ältere wurde festgenommen und als Volljähriger ins Gefängnis gesteckt, Etanael ließen sie laufen, weil er noch ein Halbwüchsiger war. Er weiß nicht, ob sein Bruder noch lebt, im Gefängnis oder wo auch immer.
Seine einzigen Angehörigen heute: Frau und Töchter (4 und 2). Etanael ist nun 27 und hat im Seniorenpflegeheim im badischen Bötzingen Schichtdienst: zu Corona-Zeiten mit Mundschutz und jeder möglichen Fürsorge für die betagten Bewohner(innen). "Das ist mein Traumberuf, ich bin supermegaglücklich, Altenpfleger zu sein."
Das kam so: 2014 kam er nach Deutschland, nach drei Wochen schon war er in March bei Freiburg. Er verstand kein Wort der Sprache, die man hier spricht. Aber er fing sofort an, zu lesen, was er auf Deutsch sah. Erst allein für sich, dann fand er eine gute Lehrerin in Bergita Badalli-Wirth, die für die Gemeinde Sprachförderung und Integrationskurse anbietet. "Sie hat mir sehr geholfen", berichtet Etanael dankbar.
So gute Erfahrungen wie noch nie
Er schaute sich um, suchte nach Beschäftigung. Machte mit beim Volleyball im TSV, engagierte sich ehrenamtlich bei den Seniorennachmittagen, servierte Kuchen und suchte Kontakt, schaute, wie die Menschen miteinander umgehen. Er lernte - und lernte Menschen kennen, die ehrenamtlich Flüchtlingen wie ihm halfen, Frau Höflin und Frau Kruschel etwa: "In March sind sehr gute Menschen, sind alle umgänglich und offen. Woanders ist man vielleicht auf Abstand, hier kommen alle und fragen. Sie haben mich begleitet, zum Arzt etwa, und sind für mich immer noch so wichtig, als wären sie meine Eltern." Er ist dafür sehr dankbar: "Ich habe sehr viel Lebenserfahrung, das hatte ich so noch nicht erlebt. In Libyen kam jemand und fragte: ,Kann ich dir helfen?‘, brachte mich weg - und dann wollte er mich umbringen."
Etanael war Straßenkind, immer illegal. Das Leben in Äthiopien war hart und gefährlich: "Man kann sich verstecken und versorgen, aber man muss immer was geben. Die anderen haben Macht über alles." Ein ständiger Kampf ums Überleben. Er lernte in Schulen, wenn man ihn ließ. Er arbeitete immer, zum Beispiel in Herbergen. Er wurde geschlagen und manchmal um seinen Lohn betrogen, immer erlebte er, rechtlos zu sein. Am schlimmsten war es, als er von IS-Leuten eingesperrt wurde, mit vielen anderen Migranten. Sie prügelten mit Elektrokabeln, sie töteten aus Willkür, vor allem, wenn sie entdeckten, dass jemand nicht Muslim war - und Etanael ist orthodox. Nach 30 Tagen nutzte er einen Moment, als sein Wächter mit dem Gewehr nicht aufpasste. Sprang aus dem Toilettenfenster im zweiten Stock, rannte, rannte, versteckte sich und hatte Glück, nicht gefunden zu werden.
Deutsch: die schwerste Sprache
Manchmal plagen ihn heftige Kopfschmerzen, kein Wunder bei solchen Erinnerungen. "Da ist es gut, zu arbeiten." Nach seinem Abschluss wollte er freihaben und ein paar Pläne verwirklichen. Dann kam Corona. "Weil alle Pläne platzten, war mir langweilig. Als sie im Heim Lücken hatten wegen Krankheit beim Personal, ging ich hin und habe gearbeitet. Arbeit ist Freude, nicht arbeiten ist Stress."
Seine Sozialarbeiterin Christine Gfrörer kennt ihn schon lange und schwört auf ihn. Anfangs konnte er nur auf Englisch mit ihr sprechen. "Ich rede mit dir nach einem Jahr auf Deutsch", versprach er. "Es war nicht so einfach, aber ich wollte das erreichen. Ich wollte und musste lernen. Ich war immer unruhig, weil ich was erreichen wollte, ich musste mich bewegen, muss weiter mein Sprachniveau verbessern."
In drei Wochen lernte er, auf Deutsch zu lesen. Heute ist seine Rechtschreibung bei 85 bis 90 Prozent, "aber ich muss immer noch Fehler korrigieren". Christine Gfrörer hatte ihn auf die Ausbildungsmöglichkeit zum Altenpflegehelfer hingewiesen. Und Etanael lernte. "Es war total der Hammer, ich musste da schwitzen. Habe mir Sorgen gemacht: Schaffe ich das? Nicht nur die Ausbildung, auch die Sprache?" Etanael spricht sieben Sprachen und dazu Deutsch. "Nichts ist so schwer wie Deutsch, mit den Artikeln. Es braucht viel Zeit, aber man schafft es irgendwann."
Lohn des Lernens: gute Noten
Erst kam die einjährige Ausbildung zum Altenpflegehelfer. Die Prüfung schaffte er mit den Noten 1 und 1,5 als einer der Besten. Mit ihm lernten Menschen, die - anders als er - mit dem Computer aufgewachsen sind. Etanael lernte weiter, zwei Jahre. "Das ist viel mehr Verantwortung; die Kommunikation mit Patienten, die oft verschiedene Dialekte sprechen, die Arzneimittel, die Therapien. Ich bin froh darüber." Zum Schulbesuch kam die Praxis: "Ich muss Patienten versorgen, praktisch umsetzen, was ich theoretisch gelernt habe, Abläufe planen. Um die Patienten zur Mitwirkung zu bewegen, ist die Sprache wichtig. Was muss ich sagen, was antworten?" Und auch die Prüfung als Altenpfleger - damit verbunden die zur Mittleren Reife - schaffte er mit Gut.
Fortbildung draufsatteln? Gern
Würde er bequem zu Hause sitzen, bekäme er genauso viel wie jetzt als unbefristet angestellter Altenpfleger - weil er als Flüchtling einer sozialen Einkommensgrenze (vergleichbar der Sozialhilfe) unterliegt. Das ist nicht sein Ding. "Ich hab immer ein Ziel, ich weiß nicht, woher die Kraft kommt. Ich gebe nie auf", sagt Etanael. Er übernimmt gern Verantwortung und die Versorgung seiner Bewohner. Sammelt berufliche Erfahrung und denkt lieber an Fortbildungen, die mal möglich sind: zum Wundmanager, als Pflegedienstleitung oder Praxisanleiter. Altenpflege passt gut, meint er: "Ich weiß, was hilfebedürftig sein heißt. Ich bin Migrant und elternlos."
Leider ist trotz Gesetz nicht jeder Flüchtling während einer Ausbildung vor Abschiebung geschützt: Die Erfahrung haben Caritas-Mitarbeitende immer wieder machen müssen. Oft wurden schon gerade die Eifrigen und Zuverlässigen herausgepickt - was ausbildende Arbeitgeber schwer verärgert.