Naher Osten: Menschlichkeit wagen
Der barbarische Überfall der Terrororganisation Hamas am 7. Oktober auf Israel war der Beginn eines blutigen Konflikts, in dessen Verlauf bereits mehrere Tausend Menschen starben. Die bewaffneten Auseinandersetzungen haben eine Region zurück in die weltweite Wahrnehmung katapultiert, die durch den Krieg in der Ukraine und andere Krisen etwas in den Hintergrund getreten war. Die Geschehnisse in Israel und Gaza wirken weit über die betroffenen Gebiete hinaus. Sie können die ganze Region destabilisieren und fragile politische Strukturen wie zum Beispiel im Libanon implodieren lassen. Auch in Deutschland spüren wir, dass das Reden über den Konflikt uns spaltet. Die Diskussion um die korrekte Wortwahl zur Verurteilung der Hamas und zum angemessenen Selbstverteidigungsrecht Israels treibt Keile in unsere Gesellschaft und sogar Familien. Fassungslos stehen wir vor dem maßlosen menschlichen Leid in Palästina und Israel und müssen aushalten, dass dieses auf oftmals kaum erträgliche Weise gerechtfertigt wird. Der Anstieg antisemitischer Anfeindungen erschreckt.
In der langjährigen Arbeit von Caritas international in Gaza haben wir die Haltung einer strikten Neutralität und Unparteilichkeit gewahrt. Dies bedeutet nicht, dass Terror nicht auch als Terror benannt wird, rückt aber die Menschen in Not in den Mittelpunkt, denen unsere Arbeit gilt. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung in Gaza sind Kinder und Jugendliche. Ihnen, ihren Familien sowie Menschen mit schweren Behinderungen gilt unsere Sorge. Die täglichen Nachrichten der Projektpartner aus Gaza sind kaum zu ertragen. Der Tod ist allgegenwärtig, eine Mitarbeiterin der Caritas Jerusalem kam mit ihrem Baby und ihrem Mann in Gaza ums Leben. "Wie können wir überleben?", fragen uns unsere Kollegen - wissend, dass sie als Schutzschild missbraucht werden und dagegen machtlos sind. Zweifellos sind die ethischen Fragen nach einem gerechten Krieg enorm komplex. Wir werden aus Gaza von Menschen, die mit Hamas und Terror nichts am Hut haben, massiv mit der Frage konfrontiert, ob die Angriffe Israels den Tod so vieler unschuldiger Menschen rechtfertigen und wie wir uns dazu verhalten.
Als humanitäre Hilfsorganisation ist es unsere Pflicht, Überleben zu sichern und an die Menschlichkeit von Gegnern zu appellieren. Es mag naiv klingen, aber nun ist der Zeitpunkt, Menschlichkeit zu wagen und vielleicht auch damit zu leben, dass nicht alles Unrecht jetzt gesühnt werden kann. "Krieg ist nie eine Lösung", hat Papst Franziskus in Erinnerung gerufen und Verhandlungen angemahnt, die der alleinige Weg für ein sicheres Leben aller sein werden.