Die Rolle der Caritas
Aus der Bundestagswahl ist nach langwierigen Verhandlungen eine Regierungskoalition hervorgegangen, die rund 80 Prozent der Abgeordneten des Deutschen Bundestages umfasst. Ihr steht eine auf zwei Parteien verteilte kleine Opposition gegenüber.
Wer darin eine Gefahr für die Demokratie sieht, unterschätzt die politischen und verfassungsrechtlichen Strukturen. Er überschätzt die Einigkeit in der Koalition und sollte zugleich gelassenen Respekt vor dem Souverän zeigen:
Auch mit einer verfassungsändernden Mehrheit ist kein politischer "Durchmarsch" möglich. Dies verhindern unveränderliche Festlegungen des Grundgesetzes, Minderheitenrechte, Föderalismus und Gewaltenteilung. Zudem bleiben trotz eines umfänglichen Koalitionsvertrages viele wichtige Themen umstritten. Und schließlich ist dieses Ergebnis Folge der Entscheidung von Bürgerinnen und Bürgern, die schlicht Respekt verdient.
Die Große Koalition stellt zugleich eine Herausforderung für gesellschaftliche Kräfte dar, die sich für an den Rand gedrängte Menschen, für soziale Minderheiten und Ausgegrenzte einsetzen. Wird die Große Koalition mit ihrer mehr als soliden Mehrheit der Versuchung widerstehen, zivilgesellschaftliche Stimmen gering zu gewichten oder gar zu überhören? Wird die kleine Opposition mit ihren begrenzten Möglichkeiten dafür sorgen (können), dass wichtige Themen, die im Koalitionsvertrag zu kurz kommen, Eingang in die parlamentarische Debatte finden, beispielsweise eine grundlegende Armutsbekämpfung?
Die verbandliche Caritas muss weiterhin überzeugende Lösungen für soziale und sozialpolitische Herausforderungen entwickeln. Mit den Mitteln der Lobbyarbeit muss sie auf eine Politik dringen, die soziale Gerechtigkeit, Befähigung und Teilhabe gerade auch für arme, ausgegrenzte und benachteiligte Menschen ermöglicht. Zugleich muss sie damit rechnen, dass sich in der Koalition andere Interessen durchsetzen und die Opposition die sozialen Anliegen nicht ausreichend aufgreifen kann oder will. Beides ist nicht neu. Angesichts einer kleinen und strukturell eingeschränkten Opposition stellt es sich aber nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ anders dar als vorher. In der Vergangenheit waren die Oppositionsgewichte im Bund und in den Ländern - und damit auch im Bundesrat - anders verteilt.
Diese Verschiebung fordert die zivilgesellschaftliche Rolle der Caritas heraus: Politik findet nicht nur in Parlamenten statt. Die Debatte über die soziale Zukunft unseres Landes gehört in die Mitte der Gesellschaft. Das gilt zu allen Zeiten, besonders aber in denen, wo die parlamentarische Opposition nur einen kleinen Ausschnitt der Gesellschaft repräsentiert. Die verbandliche Caritas sollte sich herausgefordert fühlen, auf beiden Klaviaturen die Partitur von der sozialen Gerechtigkeit zu spielen: auf der formell politischen ebenso wie in der Mitte der Gesellschaft.